Calvin, Jean
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Es wäre nicht der Mühe wert, wollte ich mich in meiner Antwort lange mit Deiner Vorrede abgeben, die den Wert der ewigen Seeligkeit preist und damit fast das erste Drittel Deines Briefes füllt. Denn gewiss ist der Preis des zukünftigen ewigen Lebens eine Sache, wohl würdig, dass sie uns Tag und Nacht in den Ohren klingt, dass wir uns immer wieder ihrer erinnern, dass wir uns ohne Ende in ihrer Betrachtung üben. Aber warum Du an dieser Stelle so viele Worte darum machst, weiß ich nicht … Doch will ich nicht erst lange herumraten, was Du damit beabsichtigt haben könntest. Jedenfalls scheint es mir wenig und schlechte Theologie zu verraten, wenn man den Menschen immer nur auf sich selbst zurückstößt und ihm nicht einmal den Eifer um Gottes Ehre als den Leitgedanken für die Gestaltung seines Lebens vor Augen stellt. Denn für Gott, und nicht für uns selbst sind wir in erster Linie da, wie ja nach den Worten Pauli alle Dinge nicht nur von ihm ausgehen und in ihm bestehen, sondern auch auf ihn als auf ihr Ziel bezogen sind. Nun hat zwar der Herr selbst, wie ich zugebe, um uns die Ehre seines Namens noch wertvoller erscheinen zu lassen, den Eifer um ihre Ausbreitung und Vermehrung so geordnet, dass er immer mit unserem Heil zusammenfällt. Aber er hat auch gelehrt, dass dieser Eifer hinausgehen müsse über alle Sorge um eigenen Vorteil und alle Gedanken an eigenen Nutzen, und auch das natürliche Gefühl sagt es jedem, dass, wenn Gott nicht allem übergeordnet wird, man ihm nicht gibt, was ihm gebührt. So muss der Christ wahrhaftig sich höher erheben als bis zur Sorge und Arbeit um das Heil der eigenen Seele. Daher kann ich niemanden für wirklich fromm halten, der eine so lange und ausführliche Ermahnung zum Streben nach dem ewigen Leben nicht abgeschmackt findet, die den Menschen immer unten bei sich selbst festhält und sich zum Gedanken an die Heiligung des göttlichen Namens auch nicht mit einem Wort erhebt.
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Am Schluß Eures Briefes aber laßt Ihr eine Person auftreten, die unsere Sache hätte führen sollen, und zitiert uns wie Angeklagte vor Gottes Richterstuhl: eben dahin rufe ich ohne Zögern nun Euch. Das nämlich macht die Gewißheit unserer Lehre aus, daß sie auch vor dem himmlischen Richter nicht zu erschrecken braucht, weil sie keinen Augenblick daran zweifelt, von ihm ausgegangen zu sein. Bei den Albernheiten aber, mit denen Ihr zu spielen beliebt, hält sie sich nicht auf: sie sind hier völlig unangebracht. Gibt es denn etwas Unpassenderes, als sich bei dem Schritt vor Gottes Angesicht was weiß ich für Einfälle auszudenken und uns eine völlig unzureichende Verteidigung anzudichten, die gleich in sich zusammenbrechen muß? Frommen Gemütern jagt jener Tag, sooft sie an ihn denken, eine viel zu große Scheu ein, als daß sie sich erlaubten, mit diesen Dingen derart gemütlich zu scherzen. Darum wollen wir nun ohne alle Possen jenen Tag bedenken, in dessen gespannter Erwartung wir Menschen immer leben sollen. Und laßt uns daran denken, daß ihm die Gläubigen nicht so entgegensehen müssen wie die Heiden, Verbrecher und Gottesverächter, für die er mit Recht ein Tag des Schreckens sein wird. Die Ohren aufgetan für den Ton der Posaune, den selbst die Asche der Verstorbenen aus ihren Gräbern hören wird! Herz und Sinne dem Richter zugewandt, der schon mit dem Glanz seines Angesichtes alles im Finsteren Verborgene aufdeckt, der alle Geheimnisse der Menschenherzen ans Licht bringt und mit dem bloßen Hauch seines Mundes alle Ungerechten vernichtet! Jetzt seht zu, was Ihr im Ernst für Euch und für die Eurigen antworten wollt! Unserer Sache wird es, da sie aus Gottes Wahrheit kommt, an einer vollständigen Rechtfertigung gewiß nicht fehlen. Von uns selbst will ich dabei nicht reden: unser Heil liegt nicht in unserer Verteidigung vor Gericht, sondern in demütigem Bekennen und flehentlichem Bitten. Was aber die Sache selbst, unsern Dienst, anlangt, so ist niemand unter uns, der nicht in dieser Weise für sich selbst sprechen könnte:
Herr, ich habe erfahren, wie schwer und drückend es ist, unter Menschen eine so haßerfüllte Anklage zu ertragen, wie sie auf Erden auf mir lastet; nun erscheine ich vor Dir mit demselben Vertrauen, mit dem ich mich immer auf Deinen Richterstuhl berufen habe. Denn in Deinem Gericht, weiß ich, regiert die Wahrheit. Im Vertrauen auf sie habe ich zuversichtlich den ersten Schritt gewagt. Unter ihrem Schutz konnte ich vollführen, was ich nun in Deiner Kirche ausgerichtet habe. Zweier höchst schwerer Verbrechen hat man mich angeklagt: der Irrlehre und der Kirchenspaltung.
Als Ketzerei gilt ihnen, daß ich gegen die bei ihnen anerkannten Dogmen Einspruch zu erheben wagte. Doch was hätte ich tun sollen? Aus Deinem Mund vernahm ich, daß es nur ein Licht der Wahrheit gibt, unsere Herzen auf den Weg zum Leben zu führen, das Licht, das sich an Deinem Wort entzündet. Ich vernahm, es sei leerer Schein, was sich menschlicher Geist aus sich selbst über Deine Majestät, die Verehrung Deiner Gottheit und die Geheimnisse Deiner Religion ausdenkt. Ich vernahm, es sei frevelhaft, wenn an Stelle Deines Wortes Lehren, die menschlichem Hirn entsprungen sind, in der Kirche eingeführt werden. Sobald ich aber meine Augen zu den Menschen wandte, zeigte sich dort von allem das Gegenteil. Leute, die als Eckpfeiler des Glaubens galten, kannten Dein Wort nicht oder kümmerten sich nicht viel darum. Nur mit fremder Lehre führten sie das arme Volk an der Nase herum und hielten es mit wer weiß was für Torheiten zum besten. Im Volke selbst herrschte übergroße Ehrfurcht vor Deinem Wort, wie vor einem unnahbaren Wesen, das man aus der Ferne verehren, vor dessen genauer Erforschung aber man sich hüten müsse. So brachte es die grenzenlose Fahrlässigkeit der Pastoren zusammen mit der Betäubung des Volkes dahin, daß alles voll war von gefährlichen Irrtümern, Lügen und Aberglauben. Zwar nannte man Dich allein Gott, aber die Ehre, die Du Deiner Majestät vorbehalten hast, übertrug man auf andere; man schuf sich und hatte so viele Götter, wie man Heilige verehren wollte. Wohl wurde Dein Christus als Gott angebetet und behielt den Namen Erlöser, dort aber, wo man ihn wirklich hätte ehren sollen, ließ man ihn ehrlos liegen. So ging er, seiner Bedeutung beraubt, wie irgendein anderer aus dem Volk, im Haufen der Heiligen unter. Da war niemand, der das einzigartige Opfer, das er Dir am Kreuz dargebracht und durch das er uns mit Dir versöhnt hat, angemessen würdigte, niemand, der an sein ewiges Priesteramt und die damit verbundene Fürbitte auch nur im Traum dachte, niemand, der allein in seiner Gerechtigkeit Ruhe finden wollte. Die Gewißheit unseres Heils, die mit Deinem Wort steht und fällt, war fast erloschen. Ja so unumstößlich, als wär's ein Orakelspruch, galt es als törichte Anmaßung - man sprach sogar von Vermessenheit - , wenn jemand im Vertrauen auf Deine Güte und die Gerechtigkeit Deines Sohnes die feste und unerschütterliche Hoffnung auf sein Heil faßte. Nicht wenige gottlose Ansichten gab es, die die wichtigsten Überzeugungen der in Deinem Wort uns anvertrauten Lehre mit der Wurzel ausrissen. Sogar das klare Verständnis von Taufe und Abendmahl war durch eine Fülle von Lügen entstellt. Und weiter: auch wenn alle ihr Vertrauen auf gute Werke setzten und damit Deine Barmherzigkeit aufs schwerste beleidigten - denn sie bemühten sich ja, durch gute Werke Deine Gnade zu verdienen, sich Gerechtigkeit zu erwerben, ihre Sünden zu sühnen und Dir Genugtuung zu leisten: Dinge, die jedes für sich die Bedeutung des Kreuzes Christi ausstreichen und entleeren - was aber eigentlich gute Werke sind, das wußte doch niemand. Denn, als hätte Dein Gesetz sie nicht im mindesten darin unterwiesen, was zur Gerechtigkeit gehört, legten sie sich vielerlei unnütze Einfälle zurecht, um sich damit Deine Gunst zu gewinnen! Darin gefielen sie sich in einer Weise, daß sie darüber die Richtschnur wahrer Gerechtigkeit, die uns in Deinem Gesetz gegeben wird, beinahe verachteten. So weit war es gekommen, daß menschliche Satzungen, nachdem sie einmal das Szepter an sich gerissen hatten, Deinen Geboten, wenn schon nicht die Glaubwürdigkeit, so doch die Geltung streitig machten. Darauf mein Augenmerk zu richten, bist Du mir, Herr, mit der Klarheit Deines Geistes entgegengekommen. Um zu erkennen, wie gottlos und sträflich das alles ist, hast Du mir mit Deinem Wort die Fackel vorangetragen; um es zu verabscheuen, wie sich's gebührt, hast Du einen Stachel in mein Herz gelegt.
Was mein Gewissen aber zur Rechtfertigung der Lehre vorbringt, so weißt Du, Herr, daß es nicht meine Absicht gewesen ist, die Grenzen zu überschreiten, die ich all Deinen Knechten gezogen sah. Was ich, wie ich nie zweifelte, von Dir gelernt habe, das wollte ich der Kirche getreu weitergeben. Mein hauptsächliches Bemühen, das ist gewiß, war immer darauf gerichtet, wofür ich mich mit meiner Arbeit am meisten eingesetzt habe, daß nämlich der Glanz Deiner Güte und Gerechtigkeit die Nebel zerrisse, mit denen man sie umhüllt hatte, und strahlend ans Licht trete, daß die Kraft und Wohltat Deines Christus alle Übermalungen abstreife und in voller Klarheit aufleuchte. Kam es mir doch als Frevel vor, die Dinge, zu deren Betrachtung und Erwägung wir geboren sind, im Dunkeln liegen zu lassen. Auch glaubte ich, dürfte man sie nicht nur kärglich und oberflächlich zur Sprache bringen, da doch gemessen an ihrer Größe jedes Ausdrucksmittel ohnehin zu gering ist. Vielmehr müßten sich die Menschen, davon war ich überzeugt, weit ausführlicher mit ihnen beschäftigen, weil doch in ihnen ihr eigenes Heil beschlossen liegt. Denn es kann uns das Wort nicht irreführen: „Das ist das ewige Leben, Dich, wahrer Gott, und den Du gesandt hast, Jesus Christus, zu erkennen“ (Joh 17,2).
Aber auch darin, was man mir als Trennung von der Kirche vorzuwerfen pflegt, habe ich kein schlechtes Gewissen: es sei denn, man wollte den für fahnenflüchtig erklären, der das Feldzeichen des Führers hoch hält, wenn er die Soldaten, aufgelöst und zersprengt, ihre Einheiten verlassen sieht und sie auf ihre Posten zurückruft. Denn so zersplittert, Herr, waren all die Deinen, daß sie auf keine Befehle mehr hören konnten, ja sogar ihren Führer, ihren Dienst und ihren Fahneneid nachgerade vergessen hatten. Ich habe kein fremdes Fähnlein aufgezogen, um sie aus ihrer Verirrung zu sammeln, sondern Dein herrliches Feldzeichen, dem wir Gefolgschaft leisten müssen, wenn wir zu Deinem Volk gerechnet werden wollen. Bei dieser Gelegenheit haben sie Hand an mich gelegt, Leute, die die andern in Reih und Glied hätten halten sollen und sie stattdessen in Irrtum verführten. Und da ich nicht im geringsten nachgab, wurde ihr Widerstand heftig. So begann es mit schweren Unruhen, bis der aufflammende Kampf schließlich zur Trennung führte. Wen nun aber die Schuld trifft, das zu entscheiden, o Herr, steht bei Dir. Ich habe meinen Eifer um die Einheit der Kirche immer mit Wort und Tat bezeugt. Dabei war es mir allerdings um jene Einheit zu tun, die von Dir ihren Ausgang nimmt und in Dir ihr Ziel findet. Denn sooft Du uns Frieden und Einmütigkeit geboten hast, hast Du dabei zugleich auf Dich selbst als das einzige Band zu ihrer Erhaltung gewiesen. Wenn ich nun mit denen, die sich zu Priestern der Kirche und Säulen des Glaubens aufwarfen, Frieden halten wollte, so hätte ich ihn mit der Absage an Deine Wahrheit erkaufen müssen. Ich meinte aber eher alles andere auf mich nehmen zu können, als mich zu diesem ruchlosen Handel zu erniedrigen. Denn Dein Christus hat uns ja selbst verheißen: Dein Wort müsse ewig bestehen, auch wenn Himmel und Erde aus den Fugen geraten (Mt 24,35).
Auch glaubte ich nicht, mich von Deiner Kirche zu trennen, weil ich mit jenen Wortführern im Kriege lag. Denn Du hast uns durch Deinen Sohn und durch die Apostel zuvor gewarnt, daß an diese Stelle Emporkömmlinge gelangen würden, mit denen man auf keinen Fall im Einverständnis leben darf. Nicht von Leuten, die von außen herankommen, sondern von solchen, die sich als Hirten feil bieten, hatte er gesagt, es würden reißende Wölfe und falsche Propheten sein, und mir zugleich geboten, vor ihnen auf der Hut zu sein (Mt 7,15). Wo er Vorsicht befahl, hätte ich da meine Hand hinstrecken sollen? Die Apostel nannten als die gefährlichsten Feinde Deiner Kirche die, die aus ihrer eigenen Mitte hervorgehen und sich unter dem Titel von Pastoren verstecken (Apg 20,29; I. Pet. 2, 1; 1 Joh. 2,18). Wie hätte ich da Bedenken tragen sollen, mich von denen zu trennen, die sie für Feinde zu halten geboten? Mir stand das Beispiel Deiner Propheten vor Augen, die, wie ich weiß, so schwere Kämpfe mit den Priestern und Propheten ihrer Zeit zu bestehen hatten und die doch sicher im jüdischen Volk die kirchlichen Führer gewesen sind. Aber deshalb wurden Deine Propheten doch nicht für Schismatiker gehalten, weil sie denen, die sich ihrem Eifer um den Wiederaufbau einer zusammengebrochenen Frömmigkeit mit aller Energie entgegenstellten, keinen Schritt breit gewichen sind. Sie blieben also in dem wahren Verband der einen Kirche, während sie von verbrecherischen Priestern mit schweren Bannflüchen belegt wurden und man sie keines Platzes unter den Menschen, geschweige denn unter den Heiligen für würdig hielt. Durch ihr Beispiel bestärkt bin ich fest geblieben, so daß mich weder die Beschuldigungen kirchlicher Fahnenflucht noch Drohungen einschüchtern konnten, jenen Gegnern künftig etwa weniger standhaft und unerschrocken Widerstand zu leisten, die unter der Maske von Pastoren Deine Kirche mit mehr als gottloser Tyrannei zugrunde richteten. Denn mein Gewissen stellte mir das beste Zeugnis aus, mit welchem Eifer ich brannte, Deine Kirche zu einen, wenn nur Deine Wahrheit das Band ihrer Eintracht wäre. Die Unruhen, die daraus folgten, habe nicht ich angestoßen, und es gibt daher auch keinen Grund, sie mir zur Last zu legen.
Du weißt, Herr, und auch die Menschen haben den Beweis dafür, daß ich nichts anderes gesucht habe, als mit Deinem Wort alle Streitigkeiten zu schlichten, damit beide Seiten einmütig zur Festigung Deines Reiches zusammenarbeiten. Du weißt, daß ich mich der Wiederherstellung des Friedens in der Kirche nicht verweigert habe, selbst um den Preis meines Kopfes, wenn man mich überführt hätte, um nichts und wieder nichts Lärm zu schlagen. Aber meine Gegner? Sind sie nicht wie rasend nach Feuer, Kreuz und Schwert losgestürmt? Haben sie nicht Folterwerkzeuge und Grausamkeit für ihren einzigen Schutz gehalten? Haben sie nicht alle Stände zu gleichem Wüten aufgestachelt? Haben sie nicht jedes Mittel abgewiesen, das den Frieden hätte bringen können? So kam es, daß eine Angelegenheit, die man sonst freundlich hätte beilegen können, zu solch einem Streit aufflammte. Doch obwohl in so gewaltigen Wirren die Urteile der Menschen verschieden ausfallen, bin ich frei von jeder Furcht. Denn wir stehen vor Deinem Richterstuhl, wo nur Billigkeit Hand in Hand mit Wahrheit das Urteil fällen kann, so wie es der Unschuld entspricht.
Da seht Ihr, Sadolet, wie wir unsere Sache führen, nicht wie Ihr es nach Eurem Belieben erdichtet, um uns schwer zu belasten, sondern - was schon jetzt alle Gutwilligen anerkennen und an jenem Tag aller Kreatur offenbar werden wird - wie es sich in Wahrheit verhält. Aber auch denen, die durch die Schule unserer Predigt gegangen sind und sich gemeinsam mit uns derselben Sache angenommen haben, fehlt es nicht an Gründen, die sie für sich selbst vorbringen können; eine Verteidigung folgender Axt steht jedem zur Hand:
Herr, wie ich von Kind auf gelehrt worden war, habe ich mich immer zum christlichen Glauben bekannt. Von diesem Glauben aber hatte ich anfangs keinen anderen Begriff als den, der sich damals allenthalben durchgesetzt hatte. Dein Wort, das Deinem ganzen Volk wie eine Fackel hätte voranleuchten sollen, war uns weggenommen oder mindestens vorenthalten. Und damit ja niemand Sehnsucht nach mehr Licht bekäme, hatte sich in allen Herzen die Überzeugung festgesetzt, die Erforschung dieser verborgenen, himmlischen Weisheit bleibe am besten einigen wenigen überlassen, von denen man dann Orakelsprüche einholen könnte: für den gemeinen Verstand schicke sich kein tieferes Verständnis, als zur gehorsamen Unterwerfung unter die Kirche dienlich sei. Die Bruchstücke aber, in die man mich eingeweiht hatte, waren derart dürftig, daß sie mich zur rechten Verehrung Deiner Gottheit nicht anleiten konnten. Weder ebneten sie mir den Weg zu einer zuversichtlichen Hoffnung auf mein Heil, noch bildeten sie mich zur Führung eines christlichen Lebens heran. Dich allein als meinen Gott zu verehren, hatte ich wohl gelernt; da mir aber das rechte Verständnis dafür gänzlich fehlte, stolperte ich gleich beim ersten Anlauf. Ich glaubte, wie man mich gelehrt hatte, daß ich durch den Tod deines Sohnes von der Fessel des ewigen Todes erlöst sei. Doch diese Erlösung war mir ein Traumbild, dessen Wirklichkeit nie bis zu mir gelangte. Ich erwartete den kommenden Tag der Auferstehung, doch ich dachte daran mit Schaudern wie an das schwärzeste Unheil. Und dieses Empfinden war mir nicht etwa privat zu Hause eingepflanzt worden, ich hatte es vielmehr als Frucht jener Lehre in mich aufgenommen, die damals von den Lehrern der Christenheit allem Volk weitergegeben wurde. Zwar predigten sie von Deiner Güte gegen uns Menschen, doch sollte sie nur denen gegenüber gelten, die sich ihrer als würdig erwiesen hatten. Diese Würdigkeit aber verlegten sie in die Werkgerechtigkeit; nur der werde von Dir in Gnaden aufgenommen, der sich durch seine Werke mit dir ausgesöhnt hätte. So stellten sie auch wieder nicht in Abrede, daß wir arme Sünder sind, welche die Schwachheit des Fleisches oftmals zu Fall bringt. Gerade deshalb müsse Deine Barmherzigkeit allgemein gelten, ein Freihafen des Heils für alle; doch als Rechtsgrund, sie zu erlangen, führten sie an, es müsse Dir für alle Beleidigungen Genugtuung widerfahren. So wurde uns die Genugtuung auferlegt: an erster Stelle sollten wir nach der Beichte all unserer Sünden vor dem Priester demütig Vergebung und Absolution erbitten, dann durch gute Werke das Gedächtnis der bösen bei Dir tilgen und schließlich, wie um gut zu machen, was uns noch fehlt, Opfer und feierliche Sühneleistung hinzufügen. Auch zeigten sie uns, wie schrecklich Dein Anblick sein müsse, weil Du ein so harter Richter und strenger Rächer aller Ungerechtigkeit seiest. Darum ließen sie uns zuerst einmal zu den Heiligen unsere Zuflucht nehmen, damit ihre Fürbitte Dich für unsere Gebete erreichbar mache und gnädig stimme. Obwohl ich mich mit all diesen Dingen nach Kräften abgegeben habe, kam ich doch keineswegs zur Ruhe, sondern war denkbar weit entfernt von dem Frieden eines guten Gewissens. Sooft ich mich nämlich in mich selbst vertiefte oder mein Herz zu Dir erhob, ergriff mich ein tiefes Entsetzen, das keine Sühne und Wiedergutmachung heilen konnte. Ja, je mehr ich mich aus der Nähe betrachtete, um so schärfer waren die Stacheln, die mein Gewissen plagten, so daß mir kein anderes Linderungsmittel mehr blieb, als durch Vergessen mir selbst etwas vorzumachen. Weil sich mir aber nichts Besseres anbot, ging ich auf dem einmal beschrittenen Weg weiter.
In der Zwischenzeit war eine gründlich veränderte Form der Lehre entstanden, die uns nicht vom christlichen Bekenntnis abzog, sondern die das Bekenntnis an seine Quelle heranführen und es wie von Schlacken befreit in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen wollte. Befremdet von dieser Neuerung, wollte ich ihr mein Ohr kaum leihen, und habe ihr - ich gestehe es - anfangs tapfer und mutig widerstanden, zumal (da die Menschen von Natur aus eigensinnig und halsstarrig sind und die einmal bestehende Ordnung aufrecht erhalten wollen) ich mich nur mit Mühe zu dem Eingeständnis bewegen ließ, ich hätte mein ganzes bisheriges Leben in Irrtum und Unwissenheit verbracht. Und besonders eines hinderte mich daran, jenen Leuten zu glauben: meine Ehrfurcht vor der Kirche. Aber nachdem ich einmal meine Ohren geöffnet und mir die Belehrung hatte gefallen lassen, erkannte ich wohl, daß meine Befürchtung, es könnte die Hoheit der Kirche geschmälert werden, völlig überflüssig war. Denn sie gaben mir den großen Unterschied zu bedenken, der darin liegt, ob einer sich von der Kirche trennt, oder ob er sich müht, sie von den Lastern zu reinigen, mit denen sie sich selbst befleckt hat. In herrlichen Worten redeten sie von der Kirche, legten höchsten Eifer an den Tag, ihre Einheit zu bewahren. Um nicht den Anschein zu erwecken, als trieben sie mit dem Namen der Kirche Spott, legten sie dar, daß es durchaus nicht so unerhört sei, wenn dort an Stelle der Pastoren der Antichrist das Szepter führe. Viele Beispiele dieser Art führten sie an, aus denen klar hervorging, daß sie kein anderes Ziel verfolgten als die Erbauung der Kirche, ja daß sie sich in diesem Punkt derselben Sache annähmen wie viele Diener Christi, die wir selbst doch unter die Heiligen zählten. Daß sie sich dabei aber zu einem freimütigeren Vorgehen gegen den römischen Papst fortreißen ließen, der als Stellvertreter Christi, als Nachfolger des Petrus und als oberster Herr der Kirche verehrt wurde, entschuldigten sie so: Derlei Titel seien leere Schreckbilder, mit denen man die Augen der Gläubigen nicht derart blenden dürfe, daß sie sich nicht mehr getrauten, die Sache selbst anzusehen und abzuschütteln. Denn er sei nur deshalb zu einem solchen Gipfel emporgekommen, weil die Welt von Unwissenheit und Schwäche wie von einem Tiefschlaf überwältigt war; auch sei er gewiß nicht durch Gottes Wort, auch nicht durch Ordination aufgrund einer legitimen Berufung der Kirche zu deren Herrn eingesetzt, sondern habe sich - durch eigene Willkür - dazu ernannt. Diese Tyrannei, die sich über Gottes Volk breit gemacht habe, dürfe auf keine Weise länger geduldet werden, wenn wir Christi Reich unversehrt unter uns erhalten wollten. An stichhaltigen Beweisen fehlte es ihnen nicht, um das alles zu belegen. Zunächst zerpflückten sie alle Argumente, die man damals zur Festigung der päpstlichen Vorherrschaft beizubringen pflegte, und nachdem sie ihr all ihre Grundpfeiler weggezogen hatten, zerstörten sie mit Gottes Wort zuletzt auch ihren hochragenden Bau. So weit kam es schließlich, daß es vor den Augen der Gebildeten und Ungelehrten völlig am Tage lag: Die wahre Gestalt der Kirche war damals untergegangen; ihre Schlüsselgewalt, auf der die Kirchenzucht beruht, aufs übelste verfälscht, die christliche Freiheit zusammengebrochen, ja, Christi Herrschaft lag niedergeworfen am Boden, seit diese Macht sich erhoben hatte.
Außerdem hatten sie noch ein Argument, mein Gewissen zu schärfen, nur ja nicht in den Schlaf der Sicherheit zu fallen, als ginge mich das alles nichts an: Denn wenn einer schon nicht ungestraft in die Irre gehen kann, den bloße Unkenntnis vom Wege abführt, dann sei es doch völlig abwegig, für freiwilligen Irrtum bei Dir Schutz zu finden. Dafür beriefen sie sich auf das Zeugnis Deines Sohnes: „Wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen beide in die Grube“ (Mt 15,14). Und als sich mein Geist nun zu ernsthafter Aufmerksamkeit bereit fand, da merkte ich erst, wie wenn mir jemand plötzlich ein Licht aufgesteckt hätte, in was für einem Sumpf von Irrtümern ich mich gewälzt hatte, mit wie viel Schmutz und Flecken ich daher verunstaltet war. Tief bestürzt über die Erkenntnis des Elends, in das ich gefallen war, und viel mehr noch dessen, das mir drohte - des ewigen Todes - tat ich, was meine Pflicht war, hielt nichts für dringlicher, als unter Seufzen und Tränen über meine bisherige Lebensführung den Stab zubrechen und mich auf Deinen Lebensweg zu verpflichten. Und nun, Herr, was bleibt mir Elendem anderes übrig, als Dir statt einer Verteidigung die Bitte vorzulegen, Du mögest mir diesen schrecklichen Abfall von Deinem Wort nicht zurechnen, aus dem Du mich ein für allemal durch deine wunderbare Güte als Dein Eigentum befreit hast.