Im vorigen Buche wurde auseinandergelegt, daß durch den Glauben an das Evangelium Christus unser eigen wird und wir des von ihm erworbenen Heils und der ewigen Seligkeit teilhaftig werden. Nun sind wir aber grobsinnig und träge, zudem auch von eitlem Verstande, und deshalb haben wir äußerliche Hilfsmittel nötig, damit der Glaube durch sie in uns erzeugt und vermehrt werde und seinen Fortgang habe bis zum Ziele hin. Darum hat Gott auch diese äußeren Mittel zugefügt, um so unserer Schwachheit aufzuhelfen; und damit die Predigt des Evangeliums ihre Wirkung tut, hat er der Kirche diesen Schatz in Bewahrung gegeben. Er hat „Hirten“ und „Lehrer“ eingesetzt (Eph. 4,11), um durch ihren Mund die Seinen zu unterweisen. Dazu hat er sie auch mit Autorität ausgerüstet. Kurz, er hat nichts unterlassen, was zur heiligen Einigkeit im Glauben und zu rechter Ordnung dienlich sein konnte, vor allem hat er die Sakramente eingesetzt, die, wie wir es durch die Erfahrung merken, höchst nutzbringende Mittel sind, um den Glauben zu erhalten und zu stärken. Denn wir sind ja noch in das Knechtshaus unseres Fleisches eingeschlossen und noch nicht auf die Stufe der Engel gelangt; darum hat sich Gott unserem Fassungsvermögen angepaßt und uns in seiner wunderbaren Vorsehung eine Art und Weise vorgeschrieben, wie wir zu ihm nahen sollen, obwohl wir doch in weiter Ferne von ihm sind.
Die Reihenfolge der Unterweisung erfordert es daher, daß wir jetzt in die Behandlung der Kirche und ihres Regiments, ihrer Ordnungen und ihrer Gewalt, ebenso auch der Sakramente und zum Schluß auch in eine solche der bürgerlichen Ordnung eintreten. Zugleich ist es hier erforderlich, daß wir den frommen Leser von den Verderbnissen wegrufen, mit denen der Satan im Papsttum alles verfälscht hat, was Gott zu unserem Heil bestimmt hatte. Den Anfang will ich aber mit der Kirche machen: in ihrem Schoß sollen nach Gottes Willen seine Kinder versammelt werden, und zwar nicht nur, damit sie durch ihre Mühe und ihren Dienst genährt werden, solange sie Unmündige und Kinder sind, sondern auch, damit sie durch ihre mütterliche Fürsorge regiert werden, bis sie herangewachsen sind und endlich zum Ziel des Glaubens hindurchdringen. Denn was „Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“ (Mark. 10,9): wer also Gott zum Vater hat, der muß auch die Kirche zur Mutter haben, und zwar (galt das) nicht allein unter dem Gesetz, sondern (es gilt) auch nach dem Kommen Christi; so bezeugt es Paulus, der uns lehrt, daß wir die Kinder des neuen, himmlischen Jerusalem sind (Gal. 4,26).
Wenn wir in den Glaubensartikeln bekennen, daß wir „die Kirche glauben“, so bezieht sich das nicht allein auf die sichtbare Kirche, von der wir jetzt reden, sondern auch auf alle Auserwählten Gottes, unter deren Zahl auch die einbegriffen werden, die bereits verstorben sind. Deshalb wird hier auch das Wörtlein „glauben“ gebraucht; denn oft läßt sich kein Unterschied zwischen den Kindern
Gottes und den Unheiligen, zwischen seiner eigenen Herde und den wilden Tieren herausmerken.
Manche fügen nun in das Glaubensbekenntnis das Wörtlein „an“ (in) ein („ich glaube an eine ... Kirche“!); aber dafür besteht keine ersichtliche Ursache. Ich gebe allerdings zu, daß dies Verfahren recht gebräuchlich ist und auch des Beistandes der Alten Kirche nicht ermangelt. Denn auch das Nicaenische Glaubensbekenntnis fügt in der Fassung, wie es uns die Kirchengeschichte überliefert, diese Präposition zu. Doch läßt sich zugleich aus den Schriften der Alten ersehen, daß es in alter Zeit ohne Widerrede üblich war, daß man sagte: „Ich glaube eine ... Kirche“, nicht aber: „Ich glaube an eine ... Kirche“. Denn Augustin und der alte Schriftsteller, dessen Büchlein „Von der Auslegung des Glaubensbekenntnisses“ unter dem Namen des Cyprian umgeht - er mag nun sein, wer er will! -, reden nicht nur auf diese Weise; nein, sie bemerken auch ausdrücklich, es würde eine uneigentliche Redeweise sein, wenn man jene Präposition anfügte, auch bekräftigen sie ihre Meinung mit einer begründeten Ursache. Denn wenn wir sagen: „Ich glaube an Gott“, so geben wir solch Zeugnis darum, weil unser Herz sich auf ihn als den Wahrhaftigen stützt und weil sich unsere Zuversicht auf ihn verläßt. Das würde aber auf die Kirche nicht in gleicher Weise zutreffen, auch nicht auf die „Vergebung der Sünden“ und die „Auferstehung des Fleisches“. Obgleich ich nun also nicht über die Worte streiten will, so möchte ich doch lieber der Eigenart der Rede folgen, die besser geeignet ist, um die Sache zum Ausdruck zu bringen, statt nach Formeln zu haschen, mit denen die Sache ohne Grund verdunkelt würde.
Der Zweck (unserer Erörterungen) liegt aber darin, daß wir wissen: mag auch der Teufel kein Mittel unversucht lassen, um Christi Gnade zunichte zu machen, mögen auch die Feinde Gottes in wütendem Ansturm dem gleichen Ziel nachjagen, so kann sie doch nicht ausgelöscht, kann auch Christi Blut nicht unfruchtbar gemacht werden, nein, es bringt immerdar einige Frucht hervor! In diesem Sinne müssen wir unser Augenmerk auf Gottes verborgene Erwählung und innerliche Berufung richten; denn er allein weiß, wer die Seinigen sind, und er hält sie, wie Paulus sagt, unter einem Siegel verschlossen (Eph. 1,13; 2. Tim. 2,19); dazu kommt auch, daß sie seine Kennzeichen tragen, an denen sie von den Verworfenen unterschieden werden sollen. Aber da das kleine, verachtete Häuflein unter einer unmeßbaren Menge verborgen liegt und die wenigen Weizenkörner von einem Haufen von Spreu überdeckt werden, so muß man Gott allein die Erkenntnis seiner Kirche überlassen, deren Fundament ja seine verborgene Erwählung ist. Es ist aber nicht genug, daß wir solche Schar der Auserwählten bloß mit unserem Denken und unserem Herzen erfassen, sondern wir müssen dergestalt auf die Einheit der Kirche sinnen, daß wir wahrhaftig überzeugt sind, selbst in sie eingefügt zu sein. Denn wenn wir nicht mit allen übrigen Gliedern zusammen unter unserem Haupte, Christus, zu einer Einheit zusammengefügt sind, so bleibt uns keine Hoffnung auf das zukünftige Erbe. Deshalb heißt die Kirche „katholisch“ oder „allgemein“; denn man könnte nicht zwei oder drei „Kirchen“ finden, ohne daß damit Christus in Stücke gerissen würde - und das kann doch nicht geschehen! Nein, alle Auserwählten Gottes sind dergestalt in Christus miteinander verbunden, daß sie, wie sie ja an dem einen Haupte hängen, auch gleichsam zu einem Leibe zusammenwachsen, und sie leben in solcher Gefügtheit zusammen wie die Glieder des gleichen Leibes; sie sind wahrhaft eins geworden, als solche, die in einem Glauben, einer Hoffnung, einer Liebe, in dem gleichen Geiste Gottes miteinander leben und die nicht nur zum gleichen Erbe des ewigen Lebens berufen sind, sondern auch zum Teilhaben an dem einen Gott und dem einen Christus. Mag nun auch solche traurige Öde, wie sie uns von allen Seiten entgegentritt, mit lauter Stimme zu bezeugen scheinen, es sei von der Kirche nichts mehr übrig, so sollen wir doch wissen, daß Christi Tod seine Frucht trägt und daß Gott seine Kirche auf wundersame Weise gleichsam in dunkler Verborgenheit bewahrt. Es ist, wie es einst zu Elia gesagt wurde: „Ich habe mir lassen übrigbleiben siebentausend Mann, die nicht ihre Knie gebeugt haben vor Baal“ (1. Kön. 18,19; nicht Luthertext).
Allerdings bezieht sich dieser Artikel des Glaubensbekenntnisses in einem gewissen Sinne auch auf die äußerliche Kirche, damit sich jeder von uns in brüderlicher Einigkeit mit allen Kindern Gottes halte, der Kirche die Autorität zuerkenne, die sie verdient, sich so aufführe wie ein Schaf aus der Herde. Zu diesem Zweck wird dann auch hinzugesetzt: „die Gemeinschaft der Heiligen“. Dieser Titel der Aussage wird freilich von den Alten durchweg ausgelassen; er ist aber trotzdem nicht zu vernachlässigen, weil er die Eigenart der Kirche sehr gut zum Ausdruck bringt. Er bedeutet doch soviel, als wenn da gesagt wäre: die Heiligen werden nach der Ordnung zur Gemeinschaft mit Christus versammelt, daß sie all die Wohltaten, die ihnen Gott gewährt, gegenseitig einander mitteilen. Dadurch wird die Verschiedenheit der Gnadengaben nicht aufgehoben; denn wir wissen ja, daß die Gaben des Heiligen Geistes vielartig ausgeteilt werden. Auch wird dadurch die bürgerliche Ordnung nicht umgestürzt, nach der jeder einzelne für sich allein sein besonderes Vermögen in Besitz haben darf; denn es ist ja zur Aufrechterhaltung des Friedens unter den Menschen erforderlich, daß jeder unter ihnen sein eigenes, besonderes Eigentumsrecht an seinem Besitz hat. Nein, es wird hier jene Gemeinschaft gewahrt, wie sie uns Lukas beschreibt: „Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (Apg. 4,32), und wie sie Paulus im Auge hat, wenn er die Epheser ermahnt, sie sollten „ein Leib und ein Geist“ sein, wie sie ja auch zu einer Hoffnung berufen seien (Eph. 4,4). Denn wenn sie wahrhaft von der Überzeugung getragen sind, daß Gott für sie alle der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, so kann es nicht anders zugehen, als daß auch sie, in brüderlicher Liebe miteinander verbunden, einander gegenseitig ihren Besitz mitteilen.
Nun liegt aber für uns sehr viel daran, daß wir wissen, welche Frucht uns daraus erwächst. Denn wenn wir „die Kirche glauben“, so geschieht das dergestalt, daß wir fest überzeugt sind, ihre Glieder zu sein. Auf diese Weise nämlich stützt sich unser Heil auf sichere und feste Grundlagen, so daß es, selbst wenn das ganze Gebäu der Welt ins Wanken geriete, doch selber nicht zusammenstürzen und ineinanderfallen kann. Zunächst: es hat ja seinen Bestand zusammen mit Gottes Erwählung, und es kann deshalb auch allein mit Gottes ewiger Vorsehung zusammen eine Änderung erfahren oder zusammenbrechen! Zum zweiten ist unser Heil gewissermaßen mit der Festigkeit Christi verbunden, und er wird ebensowenig dulden, daß seine Gläubigen von ihm losgerissen werden, wie er es zugeben wird, daß seine Glieder zerstückelt oder auseinandergezerrt werden. Dazu kommt auch dies: wir sind sicher, daß die Wahrheit für uns allezeit Bestand haben wird, solange wir im Schoße der Kirche gehalten werden. Und endlich: wir empfinden es, daß uns nun solche Verheißungen gelten wie diese: „Auf dem Berge Zion wird eine Errettung sein“ (Joel 3,5; Ob. 17), oder auch: „In Ewigkeit wird Gott inmitten Jerusalems verweilen, so daß es nie und nimmer wanken wird!“ (Ps. 46,6; nicht Luthertext). Das Teilhaben an der Kirche vermag soviel, daß es uns in der Gemeinschaft mit Gott erhält. Auch liegt bereits in dem Wort „Gemeinschaft“ sehr viel Trost: denn es steht doch fest, daß alles, was der Herr seinen und unseren Gliedern gewährt, auch uns zukommt, und so wird durch alle Güter, die sie besitzen, unsere Hoffnung bekräftigt!
Um übrigens in dieser Weise die Einheit der Kirche hochzuhalten, ist es, wie ich bereits sagte, durchaus nicht vonnöten, daß wir die Kirche selber mit Augen sehen oder mit unseren Händen betasten. Nein, die Kirche besteht ja vielmehr im Glauben, und dadurch werden wir daran gemahnt, daß wir sie, wenn sie unserem Begreifen entzogen ist, doch um nichts weniger mit unseren Gedanken umfassen müssen,
als wenn sie offen in die Erscheinung träte. Auch ist unser Glaube deshalb nicht von geringerem Wert, weil er die Kirche in ihrer Unbekanntheit ergreift. Denn wir erhalten hier nicht die Weisung, die Verworfenen von den Auserwählten zu unterscheiden - das ist allein Gottes Sache und nicht die unsrige! -, sondern wir sollen in unserem Herzen klar und gewiß daran festhalten, daß alle, die aus der Freundlichkeit Gottes, des Vaters, durch die Wirkungskraft des Heiligen Geistes in die Gemeinschaft mit Christus gelangt sind, nun zu Gottes Eigentum und Eigenbesitz abgesondert sind, und daß wir, wenn wir zu ihrer Zahl gehören, solcher Gnade teilhaftig sind.
Aber wir haben ja jetzt die Absicht, von der sichtbaren Kirche zu sprechen, und da wollen wir schon daraus, daß sie mit dem Ehrennamen „Mutter“ bezeichnet wird, lernen, wie nützlich, ja, wie notwendig es für uns ist, sie zu kennen. Denn es gibt für uns keinen anderen Weg ins Leben hinein, als daß sie uns in ihrem Schoße empfängt, uns gebiert, an ihrer Brust nährt und schließlich unter ihrer Hut und Leitung in Schutz nimmt, bis wir das sterbliche Fleisch von uns gelegt haben und den Engeln gleich sein werden (Matth. 22,30). Denn unsere Schwachheit erträgt es auch nicht, daß wir von der Schule entlassen werden, ehe wir im ganzen Lauf unseres Lebens Schüler gewesen sind. Zudem ist außerhalb des Schoßes der Kirche keine Vergebung der Sünden zu erhoffen und kein Heil; so bezeugen es uns Jesaja (Jes. 37,32) und Joel (Joel 3,5), und Ezechiel stimmt ihnen bei, indem er erklärt, daß die, welche Gott vom himmlischen Leben ausschließt, nicht auf der Liste seines Volkes stehen sollen (Ez. 13,9). Ebenso heißt es auch auf der anderen Seite von denen, die sich zum Dienste der wahren Frömmigkeit bekehren, daß sie ihren Namen unter die Bürger Jerusalems einschreiben (Jes. 56,5; Ps. 87,6). Aus diesem Grunde heißt es auch in einem anderen Psalm: „Herr, gedenke mein nach der Gnade, die du deinem Volk verheißen hast; suche mich heim in deinem Heil, damit ich sehe die Wohlfahrt deiner Auserwählten, damit ich mich freue an der Freude deines Volkes und mich rühme mit deinem Erbteil“ (Ps. 106,4f.; zumeist nicht Luthertext). Mit diesen Worten wird Gottes väterliche Gunst und das besondere Zeugnis des geistlichen Lebens auf Gottes Herde eingeschränkt, so daß die Absonderung von der Kirche stets verderblich ist.
Wir wollen aber in der Besprechung dessen fortfahren, was eigentlich zu diesem Lehrstück gehört. Paulus schreibt, daß Christus, „auf daß er alles erfülle“, „etliche zu Aposteln gesetzt“ hat, „etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern, daß die Heiligen zugerichtet werden, bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi“ (Eph. 4,10-13). Wir sehen da, wie Gott, der die Seinigen in einem einzigen Augenblick zur Vollendung kommen lassen könnte, dennoch den Willen hat, daß sie allein durch die Erziehung der Kirche zum Mannesalter heranwachsen. Wir sehen weiter, wie hier die Art und Weise solcher Erziehung zum Ausdruck kommt; denn den „Hirten“ wird die Predigt der himmlischen Lehre aufgetragen. Und wir sehen, wie alle ohne Ausnahme in die gleiche Ordnung hineinverpflichtet werden, daß sie sich gefügigen und gelehrigen Geistes der Leitung jener Lehrer unterstellen, die zu diesem Zweck eingesetzt sind. An diesem Merkzeichen hatte bereits lange zuvor Jesaja das Reich Christi kenntlich gemacht: „Mein Geist, der bei dir ist, und meine Worte, die ich in deinen Mund gelegt habe, sollen von deinem Munde nicht weichen noch von dem Munde deines Samens und Kindeskindes ...“ (Jes. 59,21).
Daraus folgt, daß alle, die diese geistliche Seelenspeise verschmähen, die ihnen von Gott durch die Hand der Kirche dargereicht wird, wert sind, daß sie an Hunger und Mangel zugrundegehen. Gewiß, Gott gibt uns den Glauben ins Herz - aber durch das Werkzeug seines Evangeliums, wie uns ja auch Paulus daran mahnt, daß der Glaube „aus dem Hören kommt“ (Röm. 10,17). Ebenso steht auch die Macht, selig zu machen, bei Gott, aber nach dem Zeugnis des nämlichen Paulus holt er sie in der Predigt des Evangeliums hervor und entfaltet sie in ihr.
Aus dieser Absicht heraus hat er auch vorzeiten angeordnet, daß man beim Heiligtum heilige Versammlungen halten sollte, damit die Lehre, die durch den Mund des Priesters verkündigt wurde, die Einhelligkeit des Glaubens erhielte. Und wenn der Tempel als Gottes „Ruhe“ (Ps. 132,14), das Heiligtum als seine Wohnstatt bezeichnet wird (Jes. 57,15), wenn es von Gott heißt, daß er „sitzet über den Cherubim“ (Ps. 80,2), so haben alle diese prächtigen Lobeserhebungen keinen anderen Zweck, als dem Dienstamt der himmlischen Lehre Wert, Liebe, Achtung und Würde zu verschaffen; denn darin könnte sonst der Anblick eines sterblichen, verachteten Menschen nicht wenig Eintrag tun! Damit wir also erkennen, daß uns aus solch „irdenen Gefäßen“ (2. Kor. 4,7) ein unberechenbarer Schatz zugetragen wird, tritt Gott selber hervor, und da er ja der Stifter dieser Ordnung ist, will er auch in seiner Einrichtung als gegenwärtig erkannt werden.
Deshalb verbietet er den Seinen, sich mit Wahrsagerei, mit Zeichendeutung, mit magischen Künsten, mit Totenbefragung und anderem Aberglauben abzugeben (Lev. 19,31); aber er setzt dann hinzu, daß er ihnen eins geben wird, das für alle genug sein soll, nämlich daß sie niemals ganz ohne Propheten sein sollen (Deut. 18,9-15). Wie er aber das Volk des Alten Bundes nicht an die Engel verwiesen hat, sondern ihm von der Erde her Lehrer erweckte, die das Amt der Engel in Wahrheit ausüben sollten, so will er uns auch heute noch durch Menschen unterweisen. Und wie er sich einst nicht mit dem Gesetz allein begnügte, sondern auch die Priester als dessen Ausleger hinzugab, aus deren Munde das Volk den wahren Sinn des Gesetzes erforschen sollte, so will er auch heute nicht nur, daß wir fleißig in der Schrift lesen, sondern er setzt auch Lehrmeister über uns, durch deren Dienst wir Hilfe empfangen sollen. Daraus fließt uns ein zwiefacher Nutzen zu: auf der einen Seite stellt er so in meisterlicher Prüfung unseren Gehorsam auf die Probe, indem wir ja seine Diener nicht anders reden hören, als wenn wir ihn selbst vernähmen; auf der anderen Seite aber kommt er auch unserer Schwachheit zu Hilfe: er will uns lieber nach menschlicher Weise durch Ausleger anreden, um uns zu sich zu locken, als uns etwa mit seinem Donnern von sich wegzutreiben. Und wahrlich, wie segensreich diese vertrauliche Art der Unterweisung für uns ist, das erfahren alle Frommen aus dem Schrecken, mit dem sie Gottes Majestät verdientermaßen zu Boden wirft.
Wer aber meint, die Autorität der Lehrer werde durch die Verächtlichkeit der Menschen, die zur Unterweisung berufen sind, zunichte gemacht, der legt damit seine Undankbarkeit an den Tag; denn unter all den vielen hervorragenden Gaben, mit denen Gott das Menschengeschlecht geziert hat, ist doch dieses Vorrecht ganz einzigartig, daß er sich herbeiläßt, den Mund und die Zunge von Menschen für sich zu weihen, damit in ihnen seine Stimme erschalle! Deshalb wollen wir es uns nicht verdrießen lassen, auch unsererseits die Lehre des Heils, wie sie uns auf sein Geheiß und durch seinen Mund vorgetragen wird, gehorsam anzunehmen; denn obwohl Gottes Kraft nicht an solche äußeren Mittel gefesselt ist, so hat er doch uns an diese geordnete Art der Unterweisung gebunden, und wenn die Schwarmgeister sich weigern, sich daran zu halten, so verwickeln sie sich in viele verderbliche Stricke. Viele treibt der Hochmut, die Aufgeblasenheit oder der Ehrgeiz dazu, daß sie sich einreden, wenn sie für sich allein die Schrift läsen und darüber nachdächten, so könnten sie genug Fortschritte machen, und daß sie auf solche Weise die öffentlichen Versammlungen mißachten und die Predigt für überflüssig halten. Da aber solche Leute das heilige Band der Einheit, soviel an ihnen ist, auflösen und zerreißen, so entgeht keiner der gerechten Strafe für solche gottlose Absonderung, sondern sie begeben sich alle in den Zauberkreis von verderbenbringenden Irrtümern und greulichen Wahnvorstellungen. Damit also die reine Einfalt des Glaubens bei uns herrsche, sollen wir keine Beschwernis darin finden, diese Übung der Frömmigkeit zu gebrauchen; denn Gott zeigt uns ja durch ihre Einsetzung, daß sie notwendig ist, und er empfiehlt sie uns so nachdrücklich! Gewiß hat sich auch unter den frechsten Hunden nie einer gefunden, der behauptet hätte, man müsse vor Gott seine Ohren verschließen, aber zu allen Zeiten hatten die Propheten und die frommen Lehrer einen harten Streit wider die Gottlosen zu führen, deren Halsstarrigkeit sich niemals unter dies Joch zu beugen vermag, daß sie durch den Mund und den Dienst von Menschen unterwiesen werden sollen. Das bedeutet aber genau so viel, als wenn man Gottes Angesicht, das uns in solcher Lehre entgegenleuchtet, austilgt. Denn wenn den Gläubigen einst geboten wurde, Gottes Angesicht im Heiligtum zu suchen (Ps. 105,4), und wenn diese Weisung im Gesetz so oft wiederholt wird (Ps. 27, 8; 100,2 u.a.), so geschah das aus keinem anderen Grunde, als weil für sie die Unterweisung im Gesetz und die prophetischen Vermahnungen das lebendige Ebenbild Gottes darstellten; so versichert ja auch Paulus, daß in seiner Predigt die „Klarheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi“ aufleuchte (2. Kor. 4,6). Um so mehr muß man die Abtrünnigen verabscheuen, die darauf aus sind, die Kirchen zu spalten - genau, als wenn sie die Schafe aus den Hürden vertrieben und sie den Wölfen in den Rachen jagten! Wir dagegen müssen an dem festhalten, was wir eben aus Paulus anführten: die Kirche wird nicht anders als durch die äußerliche Predigt erbaut, und die Heiligen sind durch kein anderes Band miteinander zusammengehalten, als wenn sie einhellig lernend und weiterschreitend die Ordnung der Kirche wahren, die Gott vorgeschrieben hat. Vornehmlich zu diesem Zweck wurde einst, wie ich sagte, den Gläubigen unter dem Gesetz die Weisung erteilt, zum Heiligtum zusammenzukommen; denn wenn Mose von Gottes Wohnstatt redet, dann nennt er sie zugleich auch den Ort des Namens (Gottes), an welchem Gott „seines Namens Gedächtnis“ gestiftet habe (Ex. 20,24). Damit legt er offen dar, daß diese Stätte ohne die Unterweisung in der Frömmigkeit keinerlei Nutzen hat. Es ist auch kein Zweifel, daß eben die gleiche Ursache den David dazu gebracht hat, in unendlicher Bitterkeit seines Geistes darüber zu klagen, daß er durch das tyrannische Wüten der Feinde daran gehindert wurde, in Gottes Hütte zu treten (Ps. 84,2f.). Vielen scheint das eine geradezu kindische Klage zu sein, weil es doch ein sehr geringer Verlust wäre, den Vorhof des Tempels entbehren zu müssen, und weil man dadurch doch nicht eben viel Genuß einbüßte, sofern einem nur andere Vergnügungen zur Verfügung stünden. Trotzdem aber klagt David, da er durch diesen einen Kummer vor Angst und Traurigkeit gequält und gemartert wird, ja, sich beinahe verzehrt. Und das geschieht darum, weil bei den Gläubigen nichts höher gilt als dies Mittel, durch das Gott die Seinen stufenweise zur Höhe führt.
Es ist nämlich auch noch zu bemerken, daß sich Gott den heiligen Vätern im Spiegel seiner Lehre dergestalt gezeigt hat, daß die Erkenntnis, die sie gewannen, etwas Geistliches sein sollte. Daher heißt auch der Tempel nicht allein sein „Angesicht“, sondern auch - zur Behebung jeglichen Aberglaubens - sein „Fußschemel“ (Ps. 99,5; 132,7; 1. Chron. 28,2). Da geschieht nun jenes glückselige Zusammenstreben zur Einheit des Glaubens, wenn sie alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, nach dem Haupte sich ausstrecken. Alles, was die Heiden Gott in anderer Absicht an Tempeln erbaut haben, das war bloß eine Entheiligung seiner Verehrung. Darin sind aber auch die Juden, wenn auch nicht ganz so grob, doch in einem gewissen Umfang verfallen. Das macht ihnen Stephanus zum Vorwurf, und er verwendet dabei die Worte des Jesaja: „Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind!“ (Apg. 7,48; nicht ganz Luthertext; Jes. 66,1f.). Denn Gott allein heiligt sich durch sein Wort Tempel zu rechtmäßigem Gebrauch. Und wenn wir in unserem Vorwitz etwas gegen seinen Befehl unternehmen, dann heften sich an den bösen Anfang sogleich auch weitere Phantastereien, durch die sich dann das Übel ohne Maß und Ziel weiter ausbreitet.
Nichtsdestoweniger war es unbedacht, daß Xerxes auf den Rat seiner Magier alle Tempel Griechenlands verbrannte und zerstörte, weil er meinte, es sei widersinnig, daß die Götter, denen doch alles frei offenstehen müßte, zwischen Mauern und Dachziegeln eingeschlossen würden. Als ob es nicht in Gottes Macht stünde, gewissermaßen zu uns herabzusteigen, damit er uns nahe sei, und dabei doch nicht den Ort zu wechseln und uns nicht an irdische Mittel zu binden, sondern uns vielmehr gewissermaßen in einem Wagen zu seiner himmlischen Herrlichkeit emporzuführen, die in ihrer Unermeßlichkeit alles erfüllt und auch die Himmel an Hoheit überragt.
Nun hat sich aber zu unserer Zeit über die Kraft des Predigtamtes ein großer Streit erhoben. Die einen preisen seine Würde überschwenglich, die anderen behaupten, es sei verkehrt, daß man einem sterblichen Menschen übertrage, was doch dem Heiligen Geiste allein eigen sei; das geschehe aber, wenn wir dafür halten, daß die Diener (am Wort) und die Lehrer in Verstand und Herz der Menschen eindringen, um die Blindheit des Verstandes und die Härtigkeit des Herzens zu beheben. Wir müssen also eine rechte Beschreibung dieser Meinungsverschiedenheit geben.
Was nun auf beiden Seiten ins Treffen geführt wird, das läßt sich ohne Mühe leicht zum Austrag bringen, wenn man sein Augenmerk (1) scharf auf die Stellen richtet, an denen Gott, der Urheber der Predigt, seinen Geist mit ihr verbindet und daraus Frucht verheißt, wenn man aber auf der anderen Seite (2) auch auf jene Stellen achtet, an denen er sich von den äußeren Mitteln abtrennt und den Anfang wie auch den ganzen Lauf des Glaubens sich allein zuschreibt.
(1) Das Amt des zweiten Elia bestand nach dem Zeugnis des Maleachi darin, daß er den Verstand erleuchten, „das Herz der Väter zu den Kindern“ und die Ungläubigen zur Verständigkeit der Gerechten bekehren sollte (Mal. 3,23f. = 4,5f.). Christus spricht aus, daß er die Apostel sendet, damit sie aus ihrer Arbeit „Frucht bringen“ (Joh. 15,16), und was das für eine Frucht ist, das gibt Petrus mit kurzen Worten an, indem er sagte, wir würden „wiedergeboren ... aus unvergänglichem Samen“ (1. Petr. 1,23). Deshalb rühmt sich Paulus, daß er die Korinther „durchs Evangelium“ „gezeugt“ hat (1. Kor. 4,15) und daß sie das „Siegel“ seines Apostelamtes sind (1. Kor. 9,2), ja, daß er nicht bloß ein Amt des Buchstabens führt und als solcher nur mit dem Klang seiner Stimme die Ohren getroffen hätte, sondern daß ihm die Wirkkraft des Geistes gegeben ist, damit seine Unterweisung nicht ohne Nutzen bleibt (2. Kor. 3,6). In diesem Sinne bezeugt er auch anderwärts, daß sein Evangelium nicht bloß in Worten geschehen ist, sondern in Kraft (1. Kor. 2,4). Auch erklärt er, daß die Galater „durch die Predigt vom Glauben“ den Heiligen Geist empfangen haben (Gal. 3,2). Und schließlich macht er sich an vielen Stellen nicht allein zu einem „Mitarbeiter“ Gottes, sondern er mißt sich auch die Amtsaufgabe zu, das Heil mitzuteilen (1. Kor. 3,9).
(2) Dies alles hat nun Paulus ohne Zweifel nie und nimmer in der Absicht ausgesprochen, sich selbst auch nur das Allermindeste abseits von Gott zuzuschreiben; er setzt uns das an anderer Stelle selbst kurz auseinander: „Unsere Arbeit ist nicht vergeblich gewesen in dem Herrn“ (1. Thess. 3,5; sehr ungenau) „nach der Wirkung des, der in mir kräftig wirkt!“ (Kol. 1,29). Ebenso sagt er anderwärts: „Der mit Petrus kräftig gewesen ist ... unter den Juden, der ist mit mir auch kräftig gewesen unter den Heiden“ (Gal. 2,8). Wie rein gar nichts er aber den Dienern (am Wort) für sich allein übrigläßt, das geht aus anderen Stellen deutlich hervor. So spricht er: „So ist nun weder der da pflanzt, noch der da begießt, etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt“ (1. Kor. 3,7). Oder ebenso: „Ich habe viel mehr gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist“ (1. Kor. 15,10). Auch müssen wir unzweifelhaft jene Sprüche behalten, in denen sich Gott die Erleuchtung des Verstandes und die Erneuerung des Herzens zuschreibt und uns damit daran mahnt, daß es ein Frevel ist, wenn sich der Mensch irgendeinen Anteil an diesen beiden Gottestaten anmaßt.
Indessen gilt es aber doch: wenn sich jeder den Dienern, die Gott über ihn stellt, gelehrig erweist, so wird er aus der ihm erwachsenden Frucht erkennen: es war nicht umsonst, daß Gott diese Art der Unterweisung gefallen hat, und es ist auch nicht umsonst, daß den Gläubigen dieses Joch der Bescheidenheit auferlegt ist.
Welches Urteil wir nun über die sichtbare Kirche, die unserer Erkenntnis zugänglich ist, haben sollen, das ist, wie ich meine, aus den obigen Ausführungen bereits deutlich. Wir sagten nämlich, daß die Heilige Schrift über die Kirche in zwiefacher Weise spricht. (1) Wenn sie von der Kirche redet, so versteht sie darunter zuweilen jene Kirche, die in Wahrheit vor Gott Kirche ist, jene Kirche, in welche nur die aufgenommen werden, die durch die Gnade der Aufnahme in die Kindschaft Gottes Kinder und die durch die Heiligung des Geistes wahre Glieder Christi sind. Und zwar umfaßt die Kirche dann nicht allein die Heiligen, die auf Erden wohnen, sondern alle Auserwählten, die seit Anbeginn der Welt gewesen sind. (2) Oft aber bezeichnet die Schrift mit dem Ausdruck „Kirche“ die gesamte, in der Welt verstreute Schar der Menschen, die da bekennt, daß sie den einen Gott und Christus verehrt, die durch die Taufe in den Glauben an ihn eingewiesen wird, durch die Teilnahme am Abendmahl ihre Einheit in der wahren Lehre und der Liebe bezeugt, einhellig ist im Worte des Herrn und zu dessen Predigt das von Christus eingesetzte Amt aufrechterhält. Unter diese Schar sind nun aber sehr viele Heuchler gemischt, die von Christus nichts haben als den Namen und den Anschein, dazu auch sehr viele Ehrsüchtige, Geizige, Neidische, sehr viele Lästerer, auch Leute von unsauberem Lebenswandel, die eine Zeitlang ertragen werden, entweder weil man sie nicht mit rechtmäßigem Urteil überführen kann, oder weil auch nicht immer jene Strenge der Zucht herrscht, die eigentlich sein sollte.
Ebenso also, wie es für uns vonnöten ist, jene unsichtbare, allein für Gottes Augen wahrnehmbare Kirche zu glauben, wird es uns auch aufgetragen, diese Kirche, die im Blick auf die Anschauung der Menschen Kirche heißt, hochzuhalten und die Gemeinschaft mit ihr zu pflegen.
Deshalb hat uns der Herr diese Kirche, sofern es für uns nötig war, sie zu erkennen, durch bestimmte Kennzeichen und gleichsam durch Merkzeichen (symbola) wahrnehmbar gemacht.
Es ist zwar ein besonderes Vorrecht, das sich Gott selber vorbehalten hat, zu erkennen, wer die Seinigen sind; das haben wir schon oben aus Paulus angeführt (2. Tim. 2,19). Es ist auch unzweifelhaft Vorsorge dagegen getroffen, daß sich der Vorwitz der Menschen so weit treiben läßt, und zwar dadurch, daß Gott uns tagtäglich durch die Geschehnisse selber darauf aufmerksam macht, wie weit seine verborgenen Gerichte über unser Begreifen hinausgehen. Denn einerseits werden Menschen, die völlig verloren erschienen und deretwegen man sich keinerlei Hoffnung mehr machen konnte, durch seine Güte wieder auf den rechten Weg zurückgerufen, und andererseits kommen oft Leute zu Fall, die mehr als andere festzustehen schienen! Deshalb sind, wie Augustin sagt, nach Gottes verborgener Vorbestimmung „gar viele Schafe draußen und gar viele Wölfe drinnen“ (Predigten zum Johannesevangelium 45). Denn die Menschen, die weder ihn noch sich selber kennen, die kennt er und hat er mit seinem Zeichen versehen. Und aus der Zahl derer, die öffentlich sein Zeichen tragen, schauen allein seine Augen die, die ohne Heuchelei heilig sind und die - was schließlich das Hauptstück unseres Heils ist! - bis zum Ende beharren werden.
Aber weil er auf der anderen Seite vorhergesehen hat, daß es uns einigermaßen nützlich ist zu wissen, welche Menschen wir denn für seine Kinder halten sollen, darum hat er sich in diesem Stück unserem Fassungsvermögen angepaßt. Und da die Gewißheit des Glaubens hierzu nicht erforderlich war, so hat er an deren Stelle gewissermaßen das Urteil der Liebe gesetzt; danach sollen wir die Menschen als Glieder der Kirche erkennen, die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen.
Da er nun aber wußte, daß die Erkenntnis des Leibes (der Kirche) selbst für unser Heil von größerer Notwendigkeit ist, so hat er uns diese auch durch um so gewissere Kennzeichen ans Herz gelegt.
Hieraus entsteht nun die anschaubare Gestalt der Kirche, und sie taucht empor, so daß sie für unsere Augen sichtbar ist. Denn überall, wo wir wahrnehmen, daß Gottes Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, läßt sich auf keinerlei Weise daran zweifeln, daß wir eine Kirche Gottes vor uns haben. Denn die Verheißung des Herrn kann nicht trügen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20).
Um aber den wesentlichen Inhalt dieses Tatbestandes klar zu erfassen, müssen wir gleichsam stufenweise vorgehen, und zwar in folgender Art. Die allgemeine Kirche (Ecclesia universalis) ist die Schar, die aus allen Völkern versammelt ist; sie ist durch räumliche Abstände getrennt und zerstreut, aber sie ist doch einhellig in der einen Wahrheit der göttlichen Lehre und sie ist durch das Band der gleichen Religionsübung verbunden. Unter ihr sind dann die einzelnen Kirchen (singulae Ecclesiae) zusammengefaßt, die über Städte und Dörfer nach den Erfordernissen menschlicher Notdurft verteilt sind, und zwar so, daß jede einzelne mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche innehat. Und endlich: die einzelnen Menschen, die auf Grund des Bekenntnisses der Frömmigkeit zu solchen Kirchen gerechnet werden, gehören auch dann, wenn sie in Wirklichkeit außerhalb der Kirche stehen, trotzdem in einem gewissen Sinne zu ihr, bis sie durch öffentliches Urteil ausgeschlossen sind.
Allerdings ist es ein wenig verschieden bestellt, ob man Einzelmenschen oder Kirchen zu beurteilen hat.
Denn es kann sich zutragen, daß wir Menschen, die wir der Gemeinschaft mit den Frommen nicht durchaus für würdig erachten, doch wie Brüder behandeln und als Gläubige ansehen müssen, und zwar um der gemeinsamen Eintracht der Kirche willen, kraft deren sie im Leibe Christi ertragen und geduldet werden. Solchen Menschen erkennen wir nach unserem eigenen Urteil nicht zu, daß sie Glieder der Kirche sind; aber wir lassen ihnen den Platz, den sie im Volke Gottes einnehmen, bis er ihnen in rechtmäßiger Entscheidung abgenommen wird.
Dagegen haben wir über die Schar (der Gemeinde) selber anders zu urteilen: wenn sie den Dienst am Wort hat und in Ehren hält, dazu auch die Verwaltung der Sakramente, so verdient sie ohne Zweifel, als Kirche angesehen und betrachtet zu werden, weil jene Güter, die sie besitzt (Dienst am Wort und Verwaltung der Sakramente), ganz sicher nicht ohne Frucht sind. So erhalten wir der allgemeinen Kirche ihre Einheit, die teuflische Geister allezeit aufzuspalten bemüht
gewesen sind, und wir berauben auch die rechtmäßigen Versammlungen, die je nach örtlichen Möglichkeiten verstreut sind, nicht ihrer Autorität.
Als Merkzeichen (symbola), an denen man die Kirche erkennt, bezeichneten wir die Predigt des Wortes und die Übung der Sakramente. Denn diese beiden können nicht bestehen, ohne Frucht zu bringen und durch Gottes Segen gedeihlich zu sein. Ich behaupte nicht etwa, daß überall, wo das Wort gepredigt wird, sogleich Frucht erwächst, nein, ich meine: es wird nirgendwo aufgenommen und hat nirgendwo seinen festen Sitz, ohne daß es auch seine Wirksamkeit an den Tag bringt. Wie dem auch sei - wo die Predigt des Evangeliums mit Ehrfurcht vernommen wird und die Sakramente nicht vernachlässigt werden, da wird für diese Zeit untrüglich und unzweifelhaft die Erscheinung der Kirche sichtbar, deren Autorität zu verachten, deren Ermahnungen geringzuschätzen, deren Ratschlägen sich zu widersetzen oder deren Züchtigung zu verspotten niemandem ungestraft verstattet ist, noch viel weniger aber, von ihr abzufallen oder ihre Einheit zu sprengen. Denn der Herr mißt der Gemeinschaft seiner Kirche solchen Wert bei, daß er jeden für einen Überläufer und für einen Verräter der Religion hält, der sich von irgendeiner christlichen Gemeinschaft, sofern sie nur den wahren Dienst am Worte und an den Sakramenten hochhält, halsstarrig entfremdet hat. Die Autorität seiner Kirche legt er uns dermaßen ans Herz, daß er seine eigene Autorität für verkleinert erachtet, wenn jene verletzt wird! Denn es ist nicht von geringer Bedeutung, daß die Kirche als „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“ und als das „Haus Gottes“ bezeichnet wird (1. Tim. 3,15). Mit diesen Worten will doch Paulus zeigen: damit Gottes Wahrheit in der Welt nicht untergeht, wirkt die Kirche als ihre treue Wächterin; denn durch ihren Dienst und ihre Arbeit hat Gott die reine Predigt seines Wortes erhalten und sich uns selbst als Hausvater erzeigen wollen, indem er uns mit geistlicher Speise nährt und uns alles darreicht, was zu unserem Heil dient. Es ist auch kein gewöhnlicher Lobspruch, daß es von der Kirche heißt, sie sei von Christus auserwählt und ausgesondert zu einer Braut, „die nicht habe einen Flecken oder Runzel“ (Eph. 5,27), und daß sie sein „Leib“ und seine „Fülle“ genannt wird (Eph. 1,23)! Daraus ergibt sich, daß die Absonderung von der Kirche die Verleugnung Gottes und Christi darstellt. Um so mehr müssen wir uns vor solch frevelhafter Scheidung hüten; denn wenn wir, soviel an uns ist, den Untergang der Wahrheit Gottes herbeizuführen trachten, dann sind wir wert, daß er die ganze Wucht seines Zorns als Wetterstrahl auf uns niederfahren läßt, um uns zu zerschmettern. Auch läßt sich keine grausigere Übeltat erdenken, als wenn einer in frevlerischer Treulosigkeit den Ehebund verletzt, den der eingeborene Sohn Gottes sich herbeigelassen hat mit uns zu schließen!
Deshalb sollen wir uns jene Kennzeichen fleißig ins Herz prägen, sie festhalten und nach dem Ermessen des Herrn wertschätzen. Denn um nichts gibt sich der Satan mehr Mühe als darum, daß er eines von diesen beiden Kennzeichen oder auch beide aufhebe und abschaffe, und zwar bald, um nach Abschaffung und Zerstörung jener Kennzeichen die wahre und reine Bestimmung der Kirche zunichte zu machen, bald auch, um uns deren Verachtung ins Herz zu geben und uns dadurch in offenkundigem Abfall von der Kirche loszureißen. Seine Machenschaften haben es fertiggebracht, daß die reine Predigt des Evangeliums manche Jahrhunderte lang verschwunden gewesen ist. Und jetzt setzt er mit der gleichen Verruchtheit alles daran, um das Amt ins Wanken zu bringen, das doch Christus in seiner Kirche so verordnet hat, daß mit seiner Aufhebung auch die Erbauung der Kirche zugrunde geht. Was für eine gefährliche, ja, was für eine verderbenbringende Versuchung ist es nun, wenn es uns auch nur in den Sinn kommt, uns von einer Versammlung abzusondern, an der die Kennzeichen und Merkmale sichtbar werden, mit denen nach des Herrn Urteil seine Kirche genugsam beschrieben ist: Wir sehen, wieviel Achtsamkeit wir nach beiden Seiten anwenden müssen. Damit uns nämlich unter dem Titel der Kirche kein Betrug zugefügt wird, so müssen wir nach jenem Prüfmaß wie nach dem Lydischen Stein jede Versammlung messen, die den Namen „Kirche“ für sich in Anspruch nimmt. Hat sie in Wort und Sakrament die Ordnung, die uns der Herr ans Herz gelegt hat, so wird sie uns nicht trügen, und wir sollen ihr unbekümmert die Ehre erweisen, die den Kirchen zukommt. Wenn sie sich aber andererseits ohne Wort und Sakramente darbietet, so sollen wir uns vor dergleichen Verführungen mit eben solcher Scheu in acht nehmen, wie wir uns auf der anderen Seite vor Vermessenheit und Hoffart zu hüten haben.
Der reine Dienst am Wort und die reine Übung bei der Feier der Sakramente, so sagen wir, ist ein geeignetes Pfand und Unterpfand, so daß wir eine Gemeinschaft, in der beides zu finden ist, mit Sicherheit als Kirche ansprechen können. Dies hat nun so weit Geltung, daß solche Kirche, solange sie dabei bleibt, niemals zu verwerfen ist, selbst wenn sie sonst über und über mit vielen Gebrechen bedeckt ist.
Ja, selbst in der Verwaltung der Lehre und der Sakramente könnten allerhand Fehler aufkommen, die uns doch von der Gemeinschaft mit ihr nicht entfremden dürften. Denn nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt. Einige unter ihnen sind derart notwendig zu wissen, daß sie bei allen unerschütterlich und unzweifelhaft fest stehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion. Dazu gehören zum Beispiel folgende Aussagen: Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit, und andere Aussagen gleicher Art. Dann gibt es andere Lehrstücke, über die unter den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen. Denn welche Kirchen werden sich wohl um des einen Punktes willen miteinander entzweien, daß die eine ohne Streitsucht, und ohne hartnäckig auf ihrer Behauptung zu bestehen, der Meinung ist, die Seelen führen, wenn sie den Leib verließen, sogleich in den Himmel, die andere dagegen über den Ort nichts Genaues auszusagen wagt, aber doch klar daran festhält, daß diese Seelen dem Herrn leben? Bei dem Apostel vernehmen wir doch die Worte: „Wie viele nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnt sein. Und solltet ihr sonst etwas halten, das lasset euch Gott offenbaren“ (Phil. 3,15). Zeigt er damit nicht genugsam, daß die Lehrverschiedenheit über solche nicht so notwendige Dinge unter Christen kein Grund zur Entzweiung sein soll? An erster Stelle steht zwar, daß wir in allen Dingen gleicher Meinung sein sollen; aber es ist ja keiner, der nicht von irgendeinem Nebel der Unwissenheit umhüllt wäre, und deshalb müssen wir entweder gar keine Kirche bestehen lassen oder aber den Unverstand in solchen Dingen mit Nachsicht behandeln, die man ohne Verletzung des wesentlichen Bestandes der Religion und ohne Verlust der Seligkeit auch nicht wissen kann.
Ich möchte mich hier aber nicht zum Schutzpatron der Irrtümer machen, auch nicht der allergeringsten, so daß ich etwa meinte, man sollte ihnen schmeicheln und durch die Finger sehen und sie dadurch nähren. Was ich behaupte, ist nur dies: wir sollen uns nicht leichtfertig um irgendwelcher kleinen Meinungsverschiedenheiten willen von der Kirche trennen, wenn in ihr bloß jene Lehre gesund und unverkürzt erhalten wird, auf der die Unverletztheit der Frömmigkeit beruht, und wenn in ihr die Übung der Sakramente, wie sie der Herr eingesetzt hat, gewahrt bleibt. Wenn wir uns unterdessen um die Ausmerzung dessen mühen, was wir nicht für richtig halten können, so tun wir das aus unserer Amtspflicht heraus. Darauf bezieht sich auch das Wort des Paulus: „Wenn einem, der da sitzt, etwas Besseres offenbart wird, so soll der erste schweigen“ (1. Kor. 14,30; nicht Luthertext). Daraus ergibt sich, daß jedem einzelnen Glied der Kirche die Bemühung um die allgemeine Erbauung aufgetragen ist, und zwar nach dem Maß der ihm gewährten Gnade. Nur soll das in geziemender Weise und nach der Ordnung geschehen; das heißt: wir sollen die Gemeinschaft der Kirche nicht verlassen oder, wenn wir in ihr bleiben, den Frieden und die ordnungsmäßig eingerichtete Zucht nicht stören.
Noch viel weiter aber muß unsere Nachsicht im Ertragen der Unvollkommenheit des Lebens (unserer Brüder) gehen. Denn an diesem Punkt kann man sehr leicht ausgleiten und zu Fall kommen, auch lauert uns hier der Satan mit mehr als gewöhnlicher Hinterlist auf. Denn es hat stets Leute gegeben, die von dem falschen Wahn einer vollkommenen Heiligkeit ergriffen waren, sich einbildeten, als ob sie bereits gleichsam zu Geistern in der Luft geworden wären, und dann aus solcher Gesinnung heraus die Gemeinschaft mit allen Menschen verachteten, an denen nach ihrem Eindruck noch etwas Menschliches übriggeblieben war. Von dieser Art waren vorzeiten die „Katharer“ und die Donatisten, die sich ihrem Wahnwitz anschlossen. Von dieser Art sind heutzutage einige von den Wiedertäufern, die den Eindruck erwecken wollen, als seien sie mehr als andere fortgeschritten.
Dann gibt es andere, die sich mehr aus unbedachtem Eifer um die Gerechtigkeit als aus jener unsinnigen Hoffart heraus versündigen. Denn wenn sie wahrnehmen, daß bei denen, denen das Evangelium verkündigt wird, die Frucht des Lebens seiner Lehre nicht entspricht, so kommen sie sogleich zu dem Urteil, da sei keine Kirche. Das ist nun freilich ein sehr berechtigter Anstoß, zu dem wir auch in unseren gar traurigen Zeiten mehr als genug Anlaß bieten. Auch geht es nicht an, unsere verfluchte Faulheit zu entschuldigen, die der Herr nicht ungestraft lassen wird - er fängt ja bereits an, sie mit harten Geißeln zu züchtigen! Also wehe uns, die wir durch solch ungebundene Zügellosigkeit unserer Laster daran schuld sind, daß schwache Gewissen unsertwegen verwundet werden!
Aber andererseits versündigen sich jene Leute, von denen wir sprachen, darin, daß sie ihrem Ärgernis kein Maß zu setzen wissen. Denn wo der Herr Milde fordert, da lassen sie sie beiseite und liefern sich ganz und gar einer maßlosen Strenge aus. Sie meinen nämlich, wo keine vollkommene Reinheit und Lauterkeit des Lebens sei, da sei auch keine Kirche, und deshalb fondern sie sich aus Haß gegen die Laster und in der Meinung, sie schieden sich von einer Rotte der Gottlosen, tatsächlich von der rechtmäßigen Kirche ab!
Sie verweisen darauf, daß doch die Kirche Christi heilig sei. Aber sie sollen zugleich auch einsehen, daß sie aus Guten und Bösen gemischt ist, und dazu sollen sie aus dem Munde Christi jenes Gleichnis vernehmen, in dem die Kirche mit einem Netz verglichen wird, mit dem man Fische aller Art miteinander fängt, die aber erst dann verlesen werden, wenn sie am Ufer ausgebreitet sind (Matth. 13,47f.). Sie sollen hören, daß die Kirche einem Ackerfeld gleicht, das zwar mit gutem Samen besät ist, aber doch durch die Hinterlist des Feindes mit Lolch verunreinigt wird, von dem es erst dann gereinigt werden kann, wenn die Ernte auf die Tenne gefahren ist (Matth. 13,24-30). Und sie sollen endlich vernehmen, daß die Kirche eine Tenne ist, auf der der Weizen so gesammelt liegt, daß er unter der Spreu verborgen ist, bis er, mit Schwinge und Sieb gesäubert, schließlich in die Scheune verbracht wird (Matth. 3,12). Wenn der Herr kundmacht, daß die Kirche bis zum Tag des Gerichtes mit jenem Übel zu kämpfen haben wird, durch die Vermengung mit den Gottlosen belastet zu sein, dann werden sie vergebens eine Kirche suchen, die mit keinem Makel behaftet wäre!
Trotzdem rufen sie aber aus, es sei doch etwas Unerträgliches, daß die Pest der Laster so allenthalben um sich greift. Ja, aber da muß ich ihnen doch die Meinung des Apostels entgegenhalten, und was wollen sie dazu sagen? Unter den Korinthern waren nicht etwa bloß einige wenige in Irrtum verfallen, sondern die Verderbnis hatte nahezu den ganzen Leib erfaßt. Auch herrschte da nicht bloß eine einzige Art von Sünde, sondern sehr viele. Auch waren ihre Vergehen nicht etwa leicht, sondern es gab abscheuliche Laster bei ihnen! Die Verderbnis hatte auch nicht etwa bloß ihren Lebenswandel erfaßt, sondern auch die Lehre. Was tat nun da der Apostel - das heißt: was tat das Werkzeug des himmlischen Geistes, mit dessen Zeugnis die Kirche steht und fällt? Sucht er sich von ihnen abzusondern? Stößt er sie aus dem Reiche Christi aus? Schleudert er den furchtbarsten Wetterstrahl der Verfluchung gegen sie? Nein, er tut nicht nur nichts von alledem, sondern er erkennt an und Predigt, daß sie eine Kirche Christi und eine Gemeinschaft der Heiligen sind! (1. Kor. 1,2). Wenn aber unter den Korinthern Kirche bleibt, unter denen Zwietracht, Sektenbildung und Eifersucht wüten (1. Kor. 1,11; 3,3), unter denen Zank und Hader samt der Habsucht im Schwange gehen, bei denen eine Schandtat öffentlich gebilligt wird, die selbst bei den Heiden als abscheulich gelten würde (1. Kor. 5,1), bei denen der Name des Paulus, den sie doch wie einen Vater hätten verehren sollen, unverschämt heruntergerissen wird (1. Kor. 9,1ff.), unter denen gar einige die Auferstehung der Toten verspotten, mit deren Zusammenbruch das ganze Evangelium ineinanderfällt (1. Kor. 15,12), bei denen Gottes Gnadengaben der Ehrsucht und nicht der Liebe dienstbar gemacht werden, bei denen gar vieles unziemlich und ungeordnet vor sich geht - ich sage, wenn da Kirche bleibt, und zwar darum, weil bei ihnen der Dienst am Wort und an den Sakramenten nicht verworfen wird, wer wird es dann wagen dürfen, den Namen „Kirche“ solchen abzusprechen, denen man nicht einmal den zehnten Teil solcher Missetaten vorwerfen kann? Ich möchte nur wissen, was diese Leute, die gegen die heutigen Kirchen mit solchem Eigensinn wüten, wohl mit den Galatern gemacht hätten, die beinahe das Evangelium im Stich gelassen hätten und bei denen der gleiche Apostel doch immer noch Kirchen fand (Gal. 1,2)!
Sie machen auch den Einwurf, daß Paulus die Korinther scharf tadelt, weil sie einen Menschen von schändlichem Lebenswandel in ihrer Gemeinschaft duldeten (1. Kor. 5,2). Auch verweisen sie darauf, daß er einen allgemeinen Satz aufstellt, in dem er es für unstatthaft erklärt, mit einem Menschen von anstößiger Lebensführung auch nur zusammen Brot zu essen (1. Kor. 5,11). Da rufen sie nun aus: Wenn man mit solchem Menschen nicht einmal gewöhnliches Brot essen darf, wie soll es denn erlaubt sein, das Brot des Herrn mit ihm zu genießen?
Ich gebe gewiß zu, daß es eine große Schande ist, wenn unter den Kindern Gottes auch Schweine und Hunde ihren Platz haben, und noch viel mehr, wenn man ihnen den hochheiligen Leib Christi entweihend hingibt. Aber wenn die Kirchen recht geartet sind, dann werden sie solche Übeltäter nicht in ihrem Schoße dulden und auch zu dem heiligen Mahle nicht unterschiedslos Würdige und Unwürdige zugleich zulassen. Aber die Hirten stehen nicht allezeit so fleißig auf der Wacht, sie sind auch zuweilen nachsichtiger, als sie es sein sollten, sie werden auch manchmal behindert, so daß sie jene Strenge, die sie üben möchten, nicht durchzusetzen vermögen, und so kommt es, daß auch die offenkundig Bösen nicht immer aus der Gemeinschaft der Heiligen entfernt werden. Daß dies ein Mangel ist, gebe ich zu, und ich will ihn auch nicht abschwächen, da ihn ja Paulus bei den Korinthern so scharf tadelt. Aber selbst wenn die Kirche hierin ihre Amtspflicht unterläßt, so hat doch deshalb nicht sogleich jeder einzelne Mensch für sich allein das Recht zu dem Urteil, er dürfe sich nun absondern. Ich leugne zwar nicht, daß ein frommer Mensch die Pflicht hat, sich jedem privaten Umgang mit solch schandbaren Leuten zu entziehen und sich in keine freiwillige Verbindung mit ihnen einzulassen. Aber es ist zweierlei, ob man den Umgang mit den Bösen flieht - oder ob man aus Haß gegen sie die Gemeinschaft mit der Kirche verschmäht!
Wenn sie aber meinen, es sei ein Frevel, mit den Bösen am Brote des Herrn teilzunehmen, so sind sie darin viel schärfer als Paulus selbst. Er ermahnte uns zu heiligem und reinem Teilhaben an diesem Mahle, aber dabei fordert er doch nicht, daß der eine den anderen prüft oder jeder einzelne die ganze Kirche, sondern daß jeder einzelne sich selber prüfe! (1. Kor. 11,28). Wenn es ein Frevel wäre, mit einem Unwürdigen zusammen zum Tisch des Herrn zu gehen, so würde uns Paulus sicher die Weisung geben, wir sollten umherschauen, ob nicht einer unter der Menge sei, an dessen Unreinigkeit wir uns beflecken könnten. Aber tatsächlich verlangt er von jedem einzelnen ausschließlich die Prüfung seiner selbst, und damit zeigt er, daß es uns keineswegs schadet, wenn sich einige Unwürdige bei uns eindrängen. Auch was er nachher zufügt, geht in der gleichen Richtung: „Welcher unwürdig isset ..., der isset und trinket sich selber zum Gericht“ (1. Kor. 11,29). Er sagt: „sich selber“, nicht aber: „anderen“! Und das mit Recht; denn es darf nicht im Ermessen des einzelnen liegen, wer (zum Abendmahle) zugelassen und wer zurückgewiesen werden soll. Das Urteil hierüber liegt vielmehr bei der ganzen Kirche, und es kann nicht ohne rechtmäßige Ordnung gefällt werden, wie ich nachher noch weitläufiger ausführen werde. Es würde also unbillig sein, wenn irgendein Einzelmensch durch die Unwürdigkeit eines anderen befleckt würde, dem er doch den Zugang nicht verwehren kann noch darf.
Obwohl aber diese Anfechtung aus einem unbedachten Eifer um die Gerechtigkeit heraus zuweilen auch bei frommen Leuten aufkommt, so werden wir doch finden, daß solcher gar zu große Eigensinn mehr aus Hochmut, Aufgeblasenheit und falschem Heiligkeitswahn entsteht, als aus wahrer Heiligkeit und echtem Streben nach ihr. Die Menschen also, die anderen zur Herbeiführung eines Abfalls von der Kirche an Verwegenheit vorangehen und gleichsam die Rädelsführer dabei sind, die haben zu ihrem Treiben zumeist nur einen einzigen Grund: sie wollen durch die Verachtung aller prahlend zeigen, daß sie besser sind als die anderen. Es ist deshalb sehr richtig und weise, wenn Augustin sagt: „Die fromme Ordnung und die Art der kirchlichen Zucht soll doch vor allem auf ‚die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens’ schauen, das uns der Apostel durch gegenseitiges Ertragen zu ‚halten’ gebietet; wo sie nicht gehalten wird, da ist die ‚heilende’ Strafe nicht allein überflüssig, sondern auch verderblich, und dadurch wird sie überführt, daß sie gar keine Arznei mehr ist. Demgegenüber gibt es böse Kinder, die sich nicht etwa vom Haß gegen die Ungerechtigkeit der anderen, sondern vom Eifer um ihre eigenen Streitereien leiten lassen und nun alles daransetzen, um schwache Leute, die sie mit dem eitlen Ruhm ihres Namens betört haben, entweder ganz zu sich herüberzuziehen oder sie doch jedenfalls abzuspalten. Dabei sind sie geschwollen von Hoffart, rasend vor Halsstarrigkeit, heimtückisch in ihren Lästerungen, ruhelos in ihrem Aufruhr. Damit man ihnen nun aber nicht nachweisen kann, daß ihnen das Licht der Wahrheit fehlt, so verstecken sie sich im Schatten einer rücksichtslosen Strenge. Und was nach der Weisung der Heiligen Schriften in recht glimpflicher Behandlung, unter Wahrung der Lauterkeit der Liebe und unter Aufrechterhaltung der Einheit des Friedens geschehen soll, um die brüderlichen Gebrechen zu bessern, das reißen sie an sich, um den Frevel der Kirchenspaltung zu begehen und um eine Gelegenheit zum Abschneiden zu haben!“ (Gegen den Brief des Parmenian III,1,1). Frommen und friedsamen Menschen aber gibt Augustin den Rat: was sie zu strafen vermöchten, das sollten sie in Barmherzigkeit strafen, was sie aber nicht strafen könnten, das sollten sie geduldig ertragen und in Liebe darüber seufzen und klagen, bis der Herr es entweder bessert und zurechtbringt oder aber in der Ernte den Lolch ausreißt und die Spreu in alle Winde verstreut (Gegen den Brief des Parmenian, III,2,15).
Mit solchen Waffen sollen sich alle Frommen zu rüsten trachten, damit sie sich nicht, während sie betriebsame und eifrige Verteidiger der Gerechtigkeit zu sein vermeinen, tatsächlich vom Himmelreich, das doch das einzige Reich der Gerechtigkeit ist, absondern! Denn Gott hat gewollt, daß in dieser äußerlichen Zusammengehörigkeit die Gemeinschaft seiner Kirche aufrechterhalten wird; wer also aus Haß gegen die Gottlosen das Kennzeichen dieser Zusammengehörigkeit zerbricht, der betritt einen Weg, auf dem er sehr leicht aus der Gemeinschaft der Heiligen herausfallen kann.
Solche Leute sollen doch bedenken, daß sich in der großen Menge gar manche befinden, die wahrhaft heilig und vor den Augen des Herrn unschuldig sind und die doch ihrem Anblick entgehen. Sie sollen bedenken, daß auch unter denen, die krank erscheinen, viele sind, die sich in ihren Gebrechen keineswegs gefallen oder schmeicheln, sondern, von der ernstlichen Furcht des Herrn immer wieder ermuntert, nach größerer Reinheit streben. Sie sollen bedenken, daß man über einen Menschen nicht auf Grund einer einzigen Tat ein Urteil fällen darf, weil doch auch die Allerheiligsten zuweilen einen sehr schweren Fall tun. Sie sollen bedenken, daß der Dienst am Wort und das gemeinschaftliche Teilhaben an den heiligen Sakramenten mehr Kraft hat, um die Kirche zu sammeln, als daß durch die Schuld irgendwelcher Gottlosen jene ganze Kraft zunichte werden könnte. Und schließlich sollen sie sich darüber klar sein, daß bei der Beurteilung der Kirche Gottes Urteil von größerem Gewicht ist als das menschliche!
Sie machen dann, wie gesagt, weiter den Einwurf, die Kirche werde doch nicht ohne Grund „heilig“ genannt. Da muß man nun erwägen, was das für eine Heiligkeit ist, in der sie sich auszeichnet. Das ist erforderlich, damit wir nicht, wenn wir keine Kirche zulassen wollen, die nicht in jeder Hinsicht vollkommen ist, am Ende keine einzige mehr übriglassen!
Es ist gewiß wahr, was Paulus sagt: Christus hat sich selbst für die Kirche dahingegeben, „auf daß er sie heiligte, und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, auf daß er sie sich selbst darstellte als eine Braut, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken oder Runzel ...“ (Eph. 5,25-27; nicht ganz Luthertext). Trotzdem ist das andere noch mehr wahr, daß der Herr Tag für Tag daran arbeitet, ihre Runzeln zu glätten und ihre Flecken abzuwaschen. Daraus ergibt sich, daß ihre Heiligkeit noch nicht vollkommen ist. Die Heiligkeit der Kirche ist also, wie auch an anderer Stelle noch ausführlicher dargetan werden soll, von solcher Art, daß die Kirche Tag für Tag weiterschreitet, aber noch nicht vollkommen ist, daß sie Tag für Tag Fortschritte macht, aber noch nicht zum Ziel der Heiligkeit gelangt ist. Wenn also die Propheten weissagen, Jerusalem werde „heilig sein und kein Fremder mehr durch sie wandeln“ (Joel 4,17), der Tempel werde heilig sein und die Unreinen sollten keinen Zutritt zu ihm haben (Jes. 35,8), so dürfen wir das nicht so verstehen, als ob an den Gliedern der Kirche kein Flecken mehr haftete, nein, weil sie mit ganzem Eifer nach Heiligkeit und vollkommener Reinheit streben, darum wird ihnen aus Gottes Freundlichkeit jene Reinheit beigelegt, die sie noch nicht voll erreicht haben. Und obwohl unter den Menschen oft bloß seltene Zeichen solcher Heiligkeit an den Tag treten, so müssen wir doch daran festhalten, daß seit Erschaffung der Welt nie eine Zeit gewesen ist, zu der der Herr nicht seine Kirche gehabt hätte, und daß auch bis zum Ende dieser Welt keine Zeit sein wird, in der er sie nicht haben würde. Denn obwohl gleich von Anfang an das ganze Menschengeschlecht durch die Sünde des Adam verdorben und geschändet worden ist, so heiligt sich der Herr dennoch aus dieser befleckten Masse allezeit einige „Gefäße zur Ehre“ (Röm. 9,21), damit es kein Zeitalter gibt, das seine Barmherzigkeit nicht zu erfahren bekäme. Das hat er auch mit sicheren Verheißungen bezeugt. So etwa: „Ich habe einen Bund gemacht mit meinem Auserwählten; ich habe David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinen Samen bestätigen ewiglich und deinen Stuhl bauen für und für“ (Ps. 89,4f.). Oder ebenso: „Der Herr hat Zion erwählt und hat Lust, daselbst zu wohnen. ‚Dies ist meine Ruhe ewiglich ...’“ (Ps. 132,13f.). Oder endlich: „So spricht der Herr, der die Sonne dem Tage zum Licht gibt und den Mond und die Sterne der Nacht zum Licht ...: Wenn solche Ordnungen vergehen vor mir, ... so soll auch aufhören der Same Israels ...“ (Jer. 31,35f.).
Dafür haben uns Christus selber, die Apostel und fast alle Propheten ein Beispiel gegeben. Furchtbar sind jene Beschreibungen, in denen Jesaja, Jeremia, Joel, Habakuk und andere die Gebrechen der Kirche zu Jerusalem beklagen. Im Volke, in der Obrigkeit, unter den Priestern ist alles dermaßen verdorben, daß Jesaja kein Bedenken trägt, Jerusalem mit Sodom und Gomorrha gleichzusetzen (Jes. 1,10). Die Verehrung Gottes ist teils in Verachtung geraten, teils beschmutzt, und was die Lebensführung angeht, so findet man immer wieder Diebstahl, Räuberei, Treulosigkeit, Mord und dergleichen Untaten. Trotzdem haben sich die Propheten deswegen nicht etwa neue Kirchen errichtet, sie haben sich auch keine neuen Altäre gebaut, an denen sie gesonderte Opfer hätten abhalten mögen; nein, die Menschen mochten sein, wie sie wollten, so bedachten sie doch, daß der Herr bei ihnen sein Wort in Bewahrung gegeben und daß er die Zeremonien eingerichtet hatte, mit denen er dort verehrt wurde, und deshalb streckten sie mitten in der Versammlung der Gottlosen reine Hände zu ihm empor! Hätten sie gemeint, sie könnten sich daraus selber eine Befleckung zuziehen, so wären sie sicherlich lieber hundertmal gestorben, als daß sie sich dazu hätten bringen lassen. Was sie also davon abhielt, sich abzusondern, das war nichts anderes als das Trachten nach der Aufrechterhaltung der Einheit. Wenn nun also die heiligen Propheten eine innere Scheu davor hatten, sich um so vieler und so großer Übeltaten nicht bloß eines oder zweier Menschen, sondern nahezu des ganzen Volkes von der Kirche zu entfremden, so maßen wir uns zuviel an, wenn wir es gleich wagen, von der Gemeinschaft einer Kirche abzufallen, in der nicht die Lebensführung aller unserem Urteil oder auch dem christlichen Bekenntnis Genüge tut!
Wie stand es nun zu Christi und der Apostel Zeiten? Heillos war die Unfrömmigkeit der Pharisäer, und es herrschte weithin eine ungebundene Zügellosigkeit des Lebenswandels. Aber das alles vermochte doch Christus und die Apostel nicht daran zu hindern, mit dem Volke zusammen die gleichen heiligen Handlungen zu üben und mit den anderen zusammen in dem gleichen Tempel zu öffentlicher Ausübung des Gottesdienstes zusammenzukommen. Woher konnte das geschehen? Ausschließlich daher, daß sie wußten, daß die, welche mit reinem Gewissen an den gleichen heiligen Handlungen teilnahmen, durch die Gesellschaft der Bösen in keiner Weise befleckt wurden.
Wenn sich aber einer durch die Propheten und Apostel nur wenig rühren läßt, so mag er sich wenigstens bei Christi Autorität beruhigen. Es ist deshalb gut, was Cyprian sagt: „Obwohl in der Kirche Unkraut und unsaubere Gefäße zu sehen sind, so besteht trotzdem kein Grund, weshalb wir uns selbst von der Kirche absondern sollten; wir müssen uns nur darum mühen, ein rechtes Weizenkorn sein zu können, wir müssen Arbeit daran wenden und uns nach Kräften anstrengen, daß wir ein goldenes oder silbernes Gefäß seien! Die tönernen Gefäße aber zu zerschlagen, das ist allein Sache des Herrn, dem auch ein ‚eiserner Stab’ gegeben ist (Ps. 2,9; Apk. 2,27). Auch soll keiner auf das Anspruch erheben, was dem Sohne allein eigen ist, keiner soll meinen, er wäre imstande, die Tenne auszuschwingen und die Spreu wegzufegen und all das Unkraut nach menschlichem Urteil auszujäten. Das ist eine hoffärtige Verbohrtheit und eine frevlerische Vermessenheit, die sich solch böses Wüten selber herausnimmt ...“ (Brief 54).
Es soll also dies beides unerschütterlich stehenbleiben: (zunächst:) wer aus freiem Ermessen die äußere Gemeinschaft der Kirche verläßt, in der Gottes Wort gepredigt wird und die Sakramente verwaltet werden, der hat keine Entschuldigung; und dann weiter: die Gebrechen weniger oder vieler bieten uns kein Hindernis, in solcher Kirche durch die von Gott eingesetzten Zeremonien rechtmäßig unseren Glauben zu bekennen; denn ein frommes Gewissen wird durch die Unwürdigkeit eines anderen, sei es ein Hirte der Kirche oder ein amtloser Mensch, nicht verletzt, und die Sakramente sind für einen heiligen und rechtschaffenen Menschen nicht weniger rein und heilbringend, wenn sie zugleich auch von Unreinen berührt werden.
Aber der Eigensinn und die Aufgeblasenheit solcher Leute geht noch weiter. Denn sie erkennen keine Kirche an, sofern sie nicht auch von den geringsten Flecken rein ist, ja, sie fahren gegen die rechtschaffenen Lehrer los, weil diese die Gläubigen zum Weiterschreiten ermahnen und sie dabei lehren, ihr Leben lang unter der Last ihrer Gebrechen zu seufzen und ihre Zuflucht zur Vergebung zu nehmen! Sie behaupten, auf diese Weise führte man die Gläubigen von der Vollkommenheit ab.
Ich gebe nun zwar zu, daß man nicht etwa lässig oder kalt sein soll, wenn man sich bemüht, auf Vollkommenheit zu dringen, und noch viel weniger davon ablassen darf; aber ich behaupte: es ist ein teuflisches Hirngespinst, wenn man, solange wir noch im Laufe sind, die Herzen mit dem Vertrauen auf solche Vollkommenheit erfüllt. Deshalb wird im Glaubensbekenntnis die Vergebung der Sünden durchaus sinnvoll an die Lehre von der Kirche angeschlossen. Denn solche Vergebung erlangt niemand als allein die Bürger und Hausgenossen der Kirche, wie es bei dem Propheten zu lesen steht (Jes. 33,14-24). Vorausgehen muß also die Erbauung des himmlischen Jerusalem, in dem dann auch jene Nachsicht Gottes ihren Platz haben soll, so daß die Ungerechtigkeit aller, die sich zu ihr begeben haben, ausgetilgt wird. Wenn ich sage, daß zuerst die Kirche erbaut werden muß, so geschieht das nicht etwa, weil je eine Kirche ohne Vergebung der Sünden sein könnte, sondern weil der Herr seine Barmherzigkeit allein der Gemeinschaft der Heiligen verheißen hat. Der erste Zugang zur Kirche und zu Gottes Reich ist also für uns die Vergebung der Sünden, ohne die es für uns keinerlei Bund oder Verbindung mit Gott geben kann. Denn er spricht durch den Propheten: „Und ich will euch zur selben Zeit einen Bund machen mit den Tieren auf dem Felde, mit den Vögeln unter dem Himmel und mit dem Gewürm auf Erden und will Bogen, Schwert und Krieg vom Lande zerbrechen und die Menschen ohne Schrecken ruhen lassen. Ich will mich mit euch verloben in Ewigkeit, ich will mich, sage ich, mit euch vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit“ (Hos. 2,20f.; nicht ganz Luthertext). Da sehen wir, wie der Herr uns durch seine Barmherzigkeit mit sich aussöhnen will. So spricht er es auch an anderer Stelle aus; er sagt da voraus, daß er das Volk, das er in seinem Zorn zerstreut hat, wieder sammeln will, und dann heißt es: „Ich will sie reinigen von aller Missetat, damit sie wider mich gesündigt haben“ (Jer. 33,8). Deshalb werden wir in die Gemeinschaft der Kirche durch das Zeichen der Abwaschung aufgenommen; dadurch sollen wir gelehrt werden, daß uns zu Gottes Hausgenossenschaft kein Zugang offensteht, wenn nicht zuerst durch seine Güte unsere Flecken abgewischt werden.
Aber es ist nicht so, als ob uns der Herr bloß einmal durch die Vergebung unserer Sünden in die Kirche aufnähme und zu ihr hinzutäte, sondern er erhält und bewahrt uns auch durch die Vergebung der Sünden in ihr. Was sollte es auch für einen Zweck haben, wenn uns eine Vergebung widerführe, die uns keinen Nutzen brächte? Jeder einzelne unter den Frommen ist sich aber selbst ein Zeuge dafür, daß die Barmherzigkeit des Herrn unwirksam und trügerisch wäre, wenn sie dem Menschen bloß einmal widerführe. Denn es ist keiner, der sich nicht sein ganzes Leben hindurch vieler Schwachheiten schuldig wüßte, die Gottes Barmherzigkeit
nötig haben. Und es ist sicherlich nicht umsonst, daß Gott solche Gnade insbesondere seinen Hausgenossen verheißt, es ist auch nicht umsonst, daß er gebietet, es solle ihnen Tag für Tag die gleiche Botschaft der Versöhnung zugetragen werden, wenn wir also angesichts der Tatsache, daß wir unser ganzes Leben lang die Überbleibsel der Sünde mit uns herumtragen, nicht durch die beständige Gnade des Herrn, die er zur Vergebung unserer Sünden wirksam sein läßt, aufrechterhalten würden, so würden wir kaum einen Augenblick lang in der Kirche bleiben können. Der Herr hat aber die Seinen zu ewigem Heil berufen, und deshalb sollen sie bedenken, daß für ihre Sünden allezeit Vergebung bereit ist. Daher soll es unverbrüchlich feststehen, daß für uns, die wir in den Leib der Kirche aufgenommen und eingefügt sind, durch Gottes Freundlichkeit, durch das Eintreten des Verdienstes Christi für uns und durch die Heiligung des Geistes Vergebung der Sünden geschehen ist und Tag für Tag geschieht.
Um uns dieses Gut zukommen zu lassen, sind der Kirche die Schlüssel gegeben. Denn als Christus den Aposteln den Auftrag gab und die Vollmacht übertrug, Sünden zu vergeben (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23), da wollte er damit nicht bloß, daß sie solche Menschen von ihren Sünden „lösten“, die sich von der Gottlosigkeit zum Glauben an Christus bekehrten, sondern viel mehr noch, daß sie diese Amtspflicht fort und fort unter den Gläubigen übten. Das lehrt Paulus, wenn er schreibt, daß die Botschaft der Versöhnung den Dienern der Kirche in Bewahrung gegeben ist, damit sie so das Volk immer wieder in Christi Namen ermahnen, sich mit Gott zu versöhnen (2. Kor. 5,18.20). So werden uns also in der Gemeinschaft der Heiligen durch den Dienst der Kirche selber immerfort unsere Sünden vergeben, wenn die Ältesten oder Bischöfe, denen dies Amt anvertraut ist, die frommen Gewissen durch die Verheißungen des Evangeliums in der Hoffnung auf Verzeihung und Vergebung stärken, und zwar öffentlich oder insonderheit, je nachdem die Notdurft es erfordert. Denn es gibt sehr viele, die um ihrer Schwachheit willen einer besonderen Tröstung bedürfen. Und Paulus berichtet, daß er nicht nur in der öffentlichen Predigt, sondern auch hin und her in den Häusern den Glauben an Christus bezeugt und jeden einzelnen für sich in der Lehre des Heils unterwiesen hat (Apg. 20,20f.).
Wir müssen also hier auf dreierlei achten. Erstens: die Kinder Gottes mögen sich noch so großer Heiligkeit erfreuen, so sind sie dennoch, solange sie in dem sterblichen Leibe wohnen, in einem solchen Zustande, daß sie ohne Vergebung der Sünden nicht vor Gott bestehen können. Zweitens: diese Wohltat (der Vergebung) ist der Kirche derart eigen, daß wir sie nicht anders genießen können als dadurch, daß wir in ihrer Gemeinschaft bleiben. Drittens: diese Wohltat wird durch die Diener und Hirten der Kirche an uns ausgeteilt, und zwar durch die Predigt des Evangeliums oder durch die Verwaltung der Sakramente, und in diesem Stück tritt die Schlüsselgewalt, die der Herr der Gemeinschaft der Gläubigen übertragen hat, am stärksten zutage. Jeder einzelne von uns soll also bedenken, daß es seine Pflicht ist, die Vergebung der Sünden nicht anderswo zu suchen als da, wo der Herr sie niedergelegt hat. Von der öffentlichen Versöhnung, die zur Zucht gehört, wird an der entsprechenden Stelle noch die Rede sein.
Da nun aber jene Schwarmgeister, von denen ich sprach, der Kirche diesen einigen Anker des Heils zu entreißen bemüht sind, so müssen die Gewissen gegen einen so verderbenbringenden Wahn noch kräftiger gestärkt werden. Mit solcher Lehrmeinung haben vorzeiten die Novatianer die Kirchen unruhig gemacht, aber auch unsere Zeit hat Leute, die den Novatianern nicht sehr unähnlich sind, nämlich einige von den Wiedertäufern, die auf die gleichen Wahnvorstellungen verfallen sind. Sie bilden sich nämlich ein, das Volk Gottes werde in der Taufe zu einem reinen und engelgleichen Leben wiedergeboren, das durch keinerlei Schmutz des Fleisches befleckt würde. Wenn sich nun also jemand nach der Taufe noch vergeht, so lassen sie ihm nichts als Gottes unerbittliches Gericht mehr übrig. Kurz, sie machen einem Sünder, der nach Empfang der Gnade wieder gefallen ist, keinerlei Hoffnung auf Vergebung, weil sie ja keine andere Vergebung der Sünden kennen als die, kraft deren wir im Anfang (unseres Lebens als Christen) wiedergeboren werden.
Nun gibt es freilich keine Lüge, die durch die Schrift klarer widerlegt würde; aber solche Leute finden doch immer noch Menschen, die sich von ihnen täuschen lassen, wie ja auch Novatus vorzeiten sehr viele Anhänger hatte; und deshalb wollen wir doch in Kürze darlegen, wie sehr ihr Wahnwitz zu ihrem eigenen und anderer Leute Verderben führt.
Zunächst: wenn die Heiligen auf Geheiß des Herrn alle Tage die Bitte wiederholen: „Vergib uns unsere Schulden“, dann bekennen sie sich doch damit natürlich als Sünder. Sie bitten auch nicht vergebens; denn der Herr hat nirgendwo etwas anderes zu bitten geheißen, als was er selbst auch gewähren wollte. Ja, er bezeugt zwar, daß das ganze Gebet von dem Vater erhört werden wird, aber er hat doch diese Vergebung noch mit einer besonderen Verheißung versiegelt. Was wollen wir mehr? Der Herr verlangt von den Gläubigen ihr ganzes Leben lang das Bekenntnis ihrer Sünden, und zwar immerfort, und er verheißt ihnen auch Vergebung! Was ist es da für eine Vermessenheit, wenn man erklärt, sie seien von der Sünde frei, oder wenn man sie, sofern sie sich verfehlt haben, nun ganz und gar von der Gnade ausschließt! Wer ist das denn, dem wir nach seinem Willen „siebzigmal siebenmal“ vergeben sollen? Sind das nicht unsere Brüder? (Matth. 18,21f.). Wozu hat er uns aber diese Weisung gegeben? Doch nur, damit wir seine Güte nachahmten! Er vergibt also nicht einmal oder zweimal, sondern sooft sie, von der Erkenntnis ihrer Missetaten zu Boden geworfen, zu ihm seufzen.
Und dann - wir wollen beinahe bei den frühesten Ursprüngen der Kirche anfangen -: die Erzväter waren beschnitten, sie waren in die Gemeinschaft des Bundes aufgenommen, sie waren ohne Zweifel durch den Fleiß ihres Vaters in der Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit unterwiesen - und da machten sie eine Verschwörung, um ihren Bruder ums Leben zu bringen (Gen. 37,18)! Das war ein Frevel, der selbst den heillosesten Räubern abscheulich vorkommen mußte. Schließlich ließen sie sich von den Ermahnungen des Judas besänftigen und verkauften ihren Bruder (Gen. 37,28); aber auch das war noch eine unerträgliche Roheit. Simeon und Levi wüteten in schnöder Rache, die auch durch das Urteil ihres Vaters verdammt wurde, gegen die Leute von Sichem (Gen. 34,25.30). Ruben befleckte das väterliche Bett in verruchtester Begierde (Gen. 35,22). Juda ergibt sich dem Ehebruch und treibt gegen das Gesetz der Natur Hurerei mit seiner eigenen Schwiegertochter (Gen. 38,16). Trotzdem werden diese Männer nicht aus dem auserwählten Volke getilgt, nein, im Gegenteil, sie werden zu seinen Häuptern erhoben!
Wie hat sich weiter David aufgeführt? Er war doch zum Schirmherrn der Gerechtigkeit eingesetzt, und trotzdem: mit was für einer entsetzlichen Schandtat bahnte er unter Vergießen von unschuldigem Blut seiner blinden Gier den Weg (2. Sam. 11,4.15)! Er war doch bereits wiedergeboren, und er war unter den Wiedergeborenen durch herrliche Lobsprüche des Herrn ausgezeichnet worden - und doch verübte er eine Schandtat, die auch unter den Heiden als furchtbar gilt. Trotzdem hat er Verzeihung erlangt (2. Sam. 12,13).
Und - wir wollen uns nicht bei den einzelnen Beispielen aufhalten - all die vielen Verheißungen an die Israeliten, die uns im Gesetz und bei den Propheten entgegentreten, sind ja ebensoviele Beweise dafür, daß sich der Herr den Missetaten seines Volkes gegenüber versöhnlich erweist. Denn was soll nach der Verheißung des Mose geschehen, wenn das Volk, das in Abtrünnigkeit verfallen ist, zu dem Herrn zurückkehren wird? „Gott wird dein Gefängnis wenden und sich deiner erbarmen und wird dich wieder versammeln aus allen Völkern, dahin du zerstreut warst. Wenn du bis an der Himmel Ende verstoßen wärest, so will ich dich doch von dort sammeln ...“ (Deut. 30,3f.; nicht ganz Luthertext).
Aber ich will keine Aufzählung anfangen, die doch nie zu Ende zu bringen wäre. Denn die (Bücher der) Propheten sind voll von derartigen Verheißungen, die dem mit unendlichen Übeltaten über und über bedeckten Volke dennoch Barmherzigkeit anbieten sollen. Welche Schandtat sollte wohl schwerer sein als der Aufruhr? Denn er wird doch als Ehescheidung zwischen Gott und der Kirche bezeichnet. Aber auch er wird von Gottes Güte überwunden! Er spricht durch den Mund des Jeremia: „Welcher Mann wird es wohl, wenn sein Weib ihren Leib den Ehebrechern hingegeben hat, auf sich nehmen, daß er sich wieder mit ihr aussöhne? Von deinem ehebrecherischen Treiben aber sind alle Wege besudelt, Juda, das Land ist voll von deinen schmutzigen Liebeshändeln! ... Dennoch darfst du wieder zu mir zurückkehren, und ich will dich aufnehmen. Kehre wieder, du Abtrünnige; ich will mein Angesicht nicht von dir abwenden; denn ich bin heilig und zürne nicht immerdar“ (Jer. 3,1f.12; nicht Luthertext). Und wahrlich, der, der da bezeugt, daß er „nicht Gefallen hat am Tode des Gottlosen“, sondern vielmehr, „daß er sich bekehre ... und lebe“ (Ez. 18,23.32), der kann ja nicht anders gesinnt sein! Als deshalb Salomo den Tempel einweihte, da bestimmte er ihn auch zu dem Gebrauch, daß von ihm aus die Gebete, die man zur Erlangung der Sündenvergebung vorbrachte, erhört werden sollten. „Wenn deine Kinder an dir sündigen werden“, sagt er, „(denn es ist kein Mensch, der nicht sündigt) und du erzürnst und gibst sie dahin vor ihren Feinden..., und sie in ihr Herz schlagen und bekehren sich und flehen zu dir im Lande ihres Gefängnisses und sprechen: Wir haben gesündigt und übelgetan ..., und beten zu dir nach ihrem Lande hin, das du ihren Vätern gegeben hast, und nach diesem heiligen Tempel hin ..., so wollest du ihr Gebet und Flehen hören im Himmel ... und deinem Volk gnädig sein, das an dir gesündigt hat, und allen Übertretungen, damit sie wider dich übertreten haben ...“ (1. Kön. 8,46-50; nicht ganz Luthertext). Nicht umsonst hat der Herr im Gesetz tägliche Opfer für die Sünden geboten (Num. 28,3ff.); denn wenn der Herr nicht vorhergesehen hätte, daß sein Volk mit immerwährenden Sündengebrechen zu kämpfen haben würde, dann hätte er ihm auch solche Heilmittel niemals verordnet.
Ist nun etwa durch das Kommen Christi, in dem die Fülle der Gnade offenbart worden ist, den Gläubigen diese Wohltat entzogen, daß sie es jetzt nicht mehr wagen dürften, um Vergebung ihrer Missetaten zu flehen, daß sie, wenn sie den Herrn gekränkt haben, keinerlei Barmherzigkeit mehr erlangen könnten? Wenn einer behauptete, die Nachsicht Gottes, die sich in der Vergebung der Sünden auswirkt, und die im Alten Bunde immerfort für die Heiligen bereit stand, sei jetzt weggenommen, so hieße das nichts anderes, als wenn er sagte, Christus sei zum Verderben der Seinigen und nicht zu ihrem Heil gekommen. Nein, die Schrift erklärt ausdrücklich und laut, daß erst in Christus die „Freundlichkeit und Leutseligkeit“ des Herrn voll in die Erscheinung getreten, daß erst in ihm der Reichtum seiner Barmherzigkeit ausgegossen und die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen in Erfüllung gegangen ist (Tit. 3,4; 2. Tim. 1,9; 2. Kor. 5,18-21), und wenn wir ihr Glauben schenken, so wollen wir nicht daran zweifeln, daß uns jetzt die Freundlichkeit unseres himmlischen Vaters nur desto reichlicher zufließt, statt daß sie abgeschnitten und verkürzt wäre.
Es fehlt uns aber auch nicht an Beispielen dafür, Petrus hatte zwar vernommen: wer Christi Namen vor den Menschen nicht bekannt hätte, der solle vor den Engeln Gottes verleugnet werden (Matth. 10,33; Mark. 8,38), aber er hatte den Herrn doch in einer einzigen Nacht dreimal verleugnet und sich dabei gar verflucht (Matth. 26,74). Trotzdem wurde er von der Vergebung nicht ausgeschlossen (Luk. 22,32; Joh. 21,15ff). Die Leute, die unter den Thessalonichern unordentlich lebten, die wurden so gestraft, daß sie tatsächlich zur Buße eingeladen wurden (2. Thess. 3,6.14f.). Ja, selbst Simon, dem Zauberer, hat man nicht die Verzweiflung eingejagt, sondern es wurde ihm vielmehr geboten, guter Hoffnung zu sein, indem ihm Petrus den Rat gab, seine Zuflucht zum Gebet zu nehmen (Apg. 8,22).
Was will man ferner dazu sagen, daß zuweilen ganze Kirchen von schwersten Sünden mit Beschlag belegt waren, aus denen sie doch Paulus freundlich herauswand, statt sie zu verfluchen? Der Abfall der Galater war keine geringfügige Missetat (Gal. 1,6; 3,1; 4,9), und die Korinther waren im Vergleich mit ihnen desto weniger zu entschuldigen, weil unter ihnen mehr und keine leichteren Schandtaten überhandgenommen hatten; trotzdem wurden beide nicht von der Barmherzigkeit des Herrn ausgeschlossen! Nein, gerade die, die sich durch Unreinheit, Hurerei und Unkeuschheit mehr als andere versündigt hatten, werden ausdrücklich zur Buße aufgefordert (2. Kor. 12,21). Denn es bleibt und es wird ewig unverletzlich bleiben der Bund des Herrn, den er feierlich mit Christus, dem wahren Salomo, und mit seinen Gliedern geschlossen hat, indem er sprach: „Wo aber seine Kinder mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, so sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen, aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden ...“ (Ps. 89,31-34).
Schließlich werden wir gerade durch die Einteilung des Glaubensbekenntnisses daran gemahnt, daß in der Kirche Christi eine immerwährende Vergebung der Missetaten ihren Platz haben soll; denn nachdem die Kirche gleichsam fest umschrieben ist, wird noch die Vergebung der Sünden angeschlossen!
Es gibt dann andere Leute, die ein wenig vernünftiger sind (als die bisher Genannten): sie sehen, daß die Lehrmeinung des Novatus (Novatian) mit solcher Klarheit der Schrift widerlegt wird, und jetzt erklären sie nicht etwa jedwede Missetat für unvergebbar, sondern (bloß) die willentliche Übertretung, die jemand wissentlich und vorsätzlich begangen hat. Wenn sie so reden, so achten sie also keine Sünde der Vergebung für würdig, sofern man nicht irgendwo durch Unwissenheit abgeirrt ist. Nun hat aber der Herr im Gesetz die Weisung gegeben, man sollte bestimmte Opfer zur Sühne für die willentlichen Sünden der Gläubigen darbringen und andere zur Erlangung der Vergebung für die in Unwissenheit begangenen (Lev. 4). Was ist es da nun für eine Unverschämtheit, wenn man der willentlich begangenen Sünde keinerlei Sühne mehr zugesteht! Ich behaupte: es ist nichts offenkundiger, als daß das einige Opfer Christi Kraft hat zur Vergebung der von den Heiligen willentlich begangenen Sünden; denn der Herr hat es durch die fleischlichen Opfer wie durch Siegel bezeugt!
Weiter: wer will denn den David, der doch ganz sicher im Gesetz so gründlich erzogen war, mit Unwissenheit entschuldigen? Wußte etwa David nicht, was Ehebruch und Mord für ein großer Frevel war, wo er ihn Tag für Tag an anderen bestrafte? Erschien etwa der Brudermord den Patriarchen als etwas Rechtmäßiges? Waren die Korinther etwa so schlecht fortgeschritten, daß sie meinten, Zuchtlosigkeit, Unreinheit, Ehebruch, Haß und Zwietracht seien Gott wohlgefällig? Und wußte Petrus, der so fleißig unterwiesen war, etwa nicht, was es bedeutete, seinen Meister eidlich zu verleugnen? Deshalb wollen wir der Barmherzigkeit Gottes, die sich so freundlich offenbart, nicht mit unserer Böswilligkeit den Weg versperren!
Es ist mir allerdings nicht unbekannt, daß die alten Schriftsteller (der Kirche) unter den Sünden, die den Gläubigen täglich vergeben werden, die leichteren Vergehen verstanden haben, die sich aus der Schwachheit des Fleisches heraus an die Gläubigen heranschleichen. Es ist mir auch nicht verborgen, daß sie der Meinung waren, die feierliche Buße, die man damals für schwerere Übeltaten forderte, könne ebensowenig wiederholt werden wie die Taufe. Diese ihre Meinung ist nun nicht so zu verstehen, als ob sie solche Menschen, die nach ihrer ersten Buße wiederum in Sünde gefallen waren, hätten in Verzweiflung stürzen wollen, oder als ob sie (andererseits) jene (leichteren) Vergehen hätten verkleinern wollen, als ob diese nun vor Gott von geringer Bedeutung wären. Sie wußten nämlich, daß die Heiligen öfters aus Unglauben straucheln, daß ihnen zuweilen überflüssige Eidschwüre entfallen, daß sie manchmal in Zorn entbrennen, ja, daß sie sich gar zu offenbaren Scheltworten hinreißen lassen und daß sie auch sonst mit vielem Bösen zu schaffen haben, das der Herr heftig verabscheut; aber sie wandten doch diese Bezeichnung an (nämlich: leichtere Vergehen), um solche Vergehen von den öffentlich bekanntgewordenen Freveltaten zu unterscheiden, die unter großem Anstoß zur Kenntnis der Kirche kamen. Daß sie aber denen, die etwas verübt hatten, das der kirchlichen Bestrafung wert war, so schwer verziehen, das geschah nicht etwa darum, weil sie meinten, solche Leute würden bei dem Herrn nur schwerlich Vergebung finden; nein, sie wollten mit dieser Strenge andere abschrecken, damit sie sich nicht mutwillig zu solchen Lastern hinreißen ließen, um deretwillen sie von der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen werden würden. Freilich schreibt uns das Wort des Herrn, das uns hier als einzige Richtschnur dienen muß, ein größeres Maßhalten vor. Denn es lehrt ja, wie wir oben ausführlicher auseinandergesetzt haben, daß die Schärfe der Zucht (nur) soweit gespannt werden darf, daß der, dem ja vornehmlich geholfen werden soll, „nicht in allzu große Traurigkeit versinke“ (2. Kor. 2,7).
Ich habe nun auseinandergesetzt, welchen hohen Wert der Dienst am Wort und an den Sakramenten bei uns haben und wie weit die Ehrerbietung vor ihm gehen soll: er soll ja für uns das ständige Kennzeichen zur Unterscheidung der (wahren von der falschen) Kirche sein, überall nämlich, wo dieser Dienst unversehrt und unverkürzt zutage tritt, da wird solche Kirche durch keinerlei Gebrechen oder Krankheiten des Lebenswandels daran gehindert, den Namen „Kirche“ zu tragen. Ferner wird dieser Dienst selber durch geringe Irrtümer nicht dermaßen verderbt, daß er etwa nicht für rechtmäßig zu achten wäre. Ich habe dann weiter gezeigt, daß die Irrtümer, denen solche Verzeihung zukommt, von der Art sind, daß durch sie die wesentlichste Lehre der Religion nicht verletzt wird und die Hauptstücke der Gottesverehrung, über die unter allen Gläubigen Einstimmigkeit herrschen muß, nicht unterdrückt werden; was die Sakramente angeht, so sind - das zeigte ich - jene verzeihlichen Irrtümer derart, daß sie doch die rechtmäßige Einrichtung des Urhebers dieser Sakramente nicht abschaffen oder ins Wanken bringen.
Sobald dagegen in das Bollwerk der Religion die Lüge eingebrochen, die Hauptsumme der notwendigen Lehre verkehrt worden und die Übung der Sakramente zusammengestürzt ist, da ergibt sich ganz gewiß der Untergang der Kirche, genau wie es um das Leben eines Menschen geschehen ist, wenn man ihm die Kehle durchbohrt oder das Herz tödlich verwundet hat. Das läßt sich klar aus den Worten des Paulus beweisen, indem er lehrt, daß die Kirche auf die Lehre der Apostel und Propheten gegründet ist, „da Jesus Christus der Eckstein ist“ (Eph. 2,20). Wenn also das Fundament der Kirche die Lehre der Propheten und Apostel ist, in der den Gläubigen befohlen wird, ihr Heil auf Christus allein zu gründen, - wie soll dann das Bauwerk noch weiter Bestand haben, wenn man dies Fundament wegnimmt? Die Kirche muß also notwendig zusammenbrechen, wo diese Hauptsumme der Gottesverehrung, die sie allein aufrechterhalten kann, dahinfällt. Und dann: wenn die wahre Kirche „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit ist“ (1. Tim. 3,15), so ist sicherlich da keine Kirche, wo Lüge und Falschheit die Herrschaft gewonnen haben.
Eben so verhalten sich nun die Dinge unter dem Papsttum, und daraus läßt sich erkennen, was dort noch an Kirche übrig ist. Statt des Dienstes am Wort herrscht da ein verkehrtes und aus Lügen zusammengeschmiedetes Regiment, das das reine Licht teils auslöscht, teils erstickt. An die Stelle des Heiligen Abendmahles hat sich die abscheulichste Heiligtumsschändung eingeschlichen. Die Verehrung Gottes ist durch eine vielartige und unerträgliche Menge von Aberglauben entstellt. Die Lehre, ohne die das Christentum nicht bestehen kann, ist ganz begraben und beiseitegetan. Die öffentlichen Versammlungen (Gottesdienste) sind Schulen des Götzendienstes und der Unfrömmigkeit. Deshalb besteht keine Gefahr, daß wir etwa von der Kirche Christi losgerissen werden, wenn wir uns von der verderbenbringenden Teilnahme an soviel Schandtaten absondern. Die Gemeinschaft der Kirche ist nicht dergestalt eingerichtet, daß sie ein Band sein soll, mit dem wir in Götzendienst, Unfrömmigkeit, Unkenntnis Gottes und anderlei Böses verstrickt werden, sondern sie soll vielmehr ein Band sein, das uns in der Furcht Gottes und im Gehorsam gegen die Wahrheit erhält.
Die Papisten mögen uns nun zwar ihre Kirche großartig preisen, damit der Eindruck entsteht, als ob es in der Welt keine andere gäbe, sie mögen alsdann auch, als ob sie ihre Sache bereits bewiesen hätten, alle für „Schismatiker“ erklären, die es wagen, sich dem Gehorsam gegenüber der Kirche, die sie da malen, zu entziehen, und alle für „Haeretiker“, die gegen die Lehre dieser Kirche zu mucksen wagen. Das mögen sie tun - aber mit was für Gründen beweisen sie, daß sie die wahre Kirche haben? Sie führen aus alten Geschichtsbüchern an, was einst in Italien, in Frankreich, in Spanien gewesen ist, sie berufen sich darauf, daß sie ihren Ursprung von jenen heiligen Männern herleiten, die einst mit gesunder Lehre die Kirchen gründeten und aufrichteten und diese Lehre selbst und die Erbauung der Kirche mit ihrem Blute bekräftigten. Sie behaupten weiter, daß die Kirche, die durch solche geistlichen Gaben und durch das Blut der Märtyrer geweiht war, durch die fortwährende Aufeinanderfolge der Bischöfe erhalten worden sei, damit sie nicht unterginge. Sie erinnern daran, welchen hohen Wert Irenäus, Tertullian, Origenes, Augustin und andere auf diese Aufeinanderfolge der Bischöfe gelegt haben.
Was das nun für ein leichtfertiges Gerede, ja, was das ganz und gar für ein Gespött ist, das will ich denen, die es ein wenig mit mir erwägen wollen, ohne Mühe begreiflich machen. Ich würde die Papisten zwar auch selber auffordern, hierauf ernstlich ihre Aufmerksamkeit zu lenken, wenn ich die Zuversicht hätte, bei ihnen mit Lehren irgend etwas ausrichten zu können. Aber da sie jedes Achthaben auf die Wahrheit von sich geworfen haben und es ihnen jetzt nur noch daran liegt, auf jedem für sie gangbaren Wege ihre eigene Sache zu betreiben, so will ich nur weniges sagen, mit dessen Hilfe sich dann wohlgesinnte Männer, denen es ernstlich um die Wahrheit zu tun ist, aus ihren Betrügereien frei machen können.
Zunächst möchte ich von den Papisten gerne erfahren, warum sie denn Afrika und Ägypten und ganz Asien nicht anführen. Der Grund liegt natürlich darin, daß in allen diesen Gebieten jene „heilige“ Aufeinanderfolge der Bischöfe aufgehört hat, die sie doch als die Wohltat preisen, vermöge deren sie ihre Kirchen aufrechterhalten hätten! Sie ziehen sich also darauf zurück, sie hätten deshalb die wahre Kirche, weil es dieser Kirche seit ihrer Entstehung niemals an Bischöfen gefehlt habe, da sie ja in ununterbrochener Reihenfolge aufeinander gefolgt seien. Aber was soll geschehen, wenn ich sie nun demgegenüber auf Griechenland verweise? Ich möchte also wiederum von ihnen wissen, warum sie denn behaupten, bei den Griechen sei die Kirche untergegangen, obwohl doch bei ihnen jene Aufeinanderfolge der Bischöfe, die nach ihrer Meinung die einzige Wächterin und Wahrerin der Kirche ist, niemals eine Unterbrechung erfahren hat. Sie machen die Griechen zu Schismatikern. Mit welchem Recht? „Sie haben sich eben von dem apostolischen Stuhl abgespalten und dadurch ihr Vorrecht verloren!“ Wieso verdienen nicht vielmehr die ihr Vorrecht einzubüßen, die von Christus selbst abfallen? Es ergibt sich also: der Vorwand der Aufeinanderfolge (der Bischöfe) ist eitel, wenn nicht die Späteren die Wahrheit Christi, die sie von ihren Vätern in die Hand gelegt bekommen haben, unversehrt und unverderbt erhalten und in ihr verharren.
Darum haben die Römischen heutzutage keinen anderen Vorwand, als ihn vorzeiten augenscheinlich die Juden gebraucht haben, als sie von den Propheten des Herrn der Blindheit, der Unfrömmigkeit und des Götzendienstes beschuldigt wurden. Da beriefen sie sich großmächtig auf den Tempel, die Zeremonien und das Priestertum; denn das waren nach ihrer Meinung die Dinge, nach denen sie die Kirche mit kräftig wirksamem Beweis zu messen vermochten. Genau so machen es die Römischen heute: statt der Kirche stellen sie uns bloß gewisse äußerliche Larven vor Augen, die oftmals weit von der Kirche entfernt sind und ohne die die Kirche sehr wohl bestehen kann. Wollen wir sie widerlegen, so kann das daher auch allein mit dem Beweis geschehen, mit dem Jeremia gegen jene törichte Zuversicht der Juden kämpfte: sie sollten sich nicht mit verlogenen Worten rühmen und sagen: „Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!“ (Jer. 7,4). Denn der Herr erkennt je und je nur das für das Seine an, wo sein Wort gehört und ehrfürchtig beachtet wird. Obwohl also die Herrlichkeit Gottes zwischen den Cherubim im Allerheiligsten ihren Sitz hatte (Ez. 10,4), und obwohl Gott dem Volke verheißen hatte, er wolle dort seinen festen Platz haben, so zog er doch, sobald die Priester seinen Gottesdienst mit üblem Aberglauben verdarben, anderswohin und ließ diesen Ort ohne jede Heiligkeit zurück. Wenn jener Tempel, der zur immerwährenden Wohnstatt Gottes geweiht zu sein schien, von Gott verlassen und unheilig werden konnte, so besteht kein Anlaß, daß uns diese Leute vormachen, Gott sei dermaßen an Personen und Orte gebunden und an äußerliche Gebräuche gefesselt, daß er bei solchen Menschen bleiben müßte, die doch nur den Titel und den äußeren Anschein der Kirche haben.
Das ist auch der Streit, den Paulus im Brief an die Römer vom neunten bis zum zwölften Kapitel führt. Denn es stürzte die schwachen Gewissen in heftige Verwirrung, daß die Juden, obwohl sie doch Gottes Volk zu sein schienen, die Lehre des Evangeliums nicht nur verachteten, sondern sogar verfolgten. Nachdem er also die Lehre (im ganzen) entfaltet hat, beseitigt er diese Schwierigkeit und bestreitet, daß jene Juden, die die Feinde der Wahrheit sind, die Kirche seien, und das, selbst wenn ihnen nichts abging, was man sonst zur äußeren Gestalt der Kirche verlangen könnte. Er bestreitet das aber, weil sie Christus nicht angenommen haben. Noch ein wenig deutlicher bringt er das im Brief an die Galater zum Ausdruck: da vergleicht er den Ismael mit Isaak und erklärt daraufhin, daß in der Kirche viele einen Platz haben, denen doch das Erbe nicht gehört, weil sie nicht von der freien Mutter geboren sind (Gal. 4,22ff.). Von da aus kommt er dann auch zu dem Vergleich zwischen einem zwiefachen Jerusalem; denn wie auf dem Berge Sinai das Gesetz gegeben wurde, das Evangelium dagegen von Jerusalem ausging, so gibt es auch viele, die als Knechte geboren und erzogen sind und sich doch unbekümmert rühmen, sie seien Kinder Gottes und der Kirche, ja, die hoffärtig auf die echten Kinder Gottes herabsehen, obwohl sie doch selber Entartete sind. Nun wollen auf der anderen Seite auch wir, wenn wir doch hören, daß einmal vom Himmel kundgemacht worden ist: „Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn“ (Gen. 21,10), uns auf diese unverletzliche Verordnung stützen und von da aus die törichten Ansprüche der Papisten wacker verachten. Denn wenn sie hochmütig auf das äußere Bekenntnis pochen - auch Ismael war beschnitten! Wenn sie das hohe Alter (ihrer Kirche) ins Feld führen - Ismael war der Erstgeborene, und doch wurde er verworfen, wie wir sehen! Fragt man nach der Ursache dafür, so zeigt sie uns Paulus: nur die werden zu den Kindern gezählt, die aus dem reinen und rechtmäßigen Samen der Lehre geboren sind (Röm. 9,6-9).
Dementsprechend erklärt Gott, daß er nicht etwa deshalb an die gottlosen Priester gebunden ist, weil er doch mit ihrem Stammvater Levi einen Bund gemacht hat, nach welchem dieser sein Bote und Dolmetsch sein solle; ja, er wendet ihr falsches Rühmen, mit dem sie sich gegen die Propheten zu empören pflegten, gegen sie selber, nämlich dieses Rühmen, es müßte die Würde des Priestertums stets in besonderer Wertschätzung stehen (Mal. 2,1-9). Das gesteht er ihnen selbst gerne zu, und das ist ja gerade der Punkt, auf Grund dessen er mit ihnen streitet. Denn er ist ja - das sagt er selbst - bereit, seinen Bund zu halten. Da sie aber diesem Bunde ihrerseits nicht entsprechen, so verdienen sie es, verworfen zu werden. Da sieht man, was die Aufeinanderfolge (im Priesteramt) für eine Bedeutung hat, wenn sich mit ihr nicht auch die Nachfolge und die gleiche Art verbindet: nämlich nur die, daß die Nachfolger, sobald sie davon überführt sind, daß sie ihren Ursprung verlassen haben, jeglicher Ehre beraubt werden! Im anderen Falle wäre sonst auch jene verbrecherische Rotte (zu Christi Zeiten) des Namens „Kirche” würdig gewesen, weil Kaiphas der Nachfolger vieler frommer Priester war, ja, weil von Aaron bis zu ihm hin eine ununterbrochene Reihenfolge bestand! Aber selbst in irdischen Reichen würde man es nicht dulden können, wenn jemand die Tyrannei eines Caligula, Nero, Heliogabal oder ähnlicher Männer als den rechten Zustand der öffentlichen Gewalt bezeichnen wollte, weil diese Männer doch auf Leute wie Brutus, Scipio und Camillus gefolgt wären. Besonders aber im Kirchenregiment ist nichts leichtfertiger, als wenn man die Lehre beiseite läßt und die Aufeinanderfolge allein auf die Personen bezieht.
Auch hatten aber jene heiligen Lehrer, die man uns gegenüber fälschlich ins Treffen führt, nichts weniger im Sinn, als schlechthin, gleichsam auf Grund eines erblichen Rechtes, zu beweisen, daß überall da Kirchen seien, wo stets ein Bischof auf den anderen gefolgt sei. Es war doch vielmehr so: es konnte kein Streit darüber bestehen, daß seit Anbeginn (der Kirche) bis auf jene Zeit in der Lehre keine Veränderung eingetreten war, und deshalb stellten sie eine Behauptung auf, die genügen sollte, alle neu aufkommenden Irrtümer zunichte zu machen, nämlich: jene Irrtümer stritten gegen die Lehre, die eben seit der Apostel Zeiten beständig und in einträchtiger Übereinstimmung beibehalten worden war. Es besteht daher kein Anlaß, weshalb unsere Widersacher noch weiter fortfahren könnten, aus dem Namen „Kirche“ einen trügerischen Schein zu machen. Gewiß, wir verehren diesen Namen mit der schuldigen Ehrerbietung. Aber wenn man zur Bestimmung (dieses Begriffs) kommt, dann „bleibt ihnen nicht nur das Wasser aus“, wie man sagt (Cicero), sondern sie bleiben in ihrem Schlamm stecken, weil sie nämlich an die Stelle der heiligen Braut Christi eine ekelhafte Hure setzen. Damit wir uns durch diese Verwechslung nicht betrügen lassen, soll uns neben anderen Mahnungen auch eine des Augustin zu Hilfe kommen; er spricht von der Kirche und sagt: „Sie ist es, die je und dann von der Menge der Ärgernisse verdunkelt und gleichsam in Nebel gehüllt wird, die je und dann in friedlichen Zeiten ruhig und frei erscheint, je und dann aber auch von den Wogen der Trübsale und Anfechtungen bedeckt und verstört wird.“ Er führt dann Beispiele dafür an, daß öfters die festesten Säulen der Kirche für ihren Glauben tapfer in der Verbannung lebten oder auch in der ganzen Welt ein verborgenes Dasein führten (Brief 93).
In dieser Weise quälen uns heutzutage die Römischen, und sie schrecken die Unerfahrenen mit dem Namen „Kirche“, obgleich sie selbst die Todfeinde Christi sind. Gewiß wenden sie daher Tempel und Priestertum und andere Larven dieser Art vor; aber dieser eitle Glanz, der die Augen schlichter Leute blendet, soll uns doch in keiner Weise dazu bewegen, daß wir uns zu der Annahme bereit erklären, da sei eine Kirche, wo das Wort Gottes nicht in Erscheinung tritt. Denn das ist das bleibende Kennzeichen, mit dem unser Herr die Seinen bezeichnet: „Wer aus der Wahrheit ist“, spricht er, „der höret meine Stimme“ (Joh. 18,37). Ebenso sagt er: „Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen“ (Joh. 10,14), „meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir“ (Joh. 10,27). Kurz zuvor hatte er aber gesagt: die Schafe folgen ihrem Hirten nach, „denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen der Fremden Stimme nicht“ (Joh. 10,4f.). Weshalb verfallen wir denn also bei der Beurteilung der Kirche ohne Grund in Torheiten, wo sie Christus doch mit einem völlig allem Zweifel entnommenen Merkzeichen versehen hat? Wo auch immer dies Merkzeichen zu sehen ist, da kann es nicht täuschen, sondern es weist mit Sicherheit darauf hin, daß da Kirche ist; wo es aber fehlt, da bleibt nichts übrig, was einen wirklichen Hinweis auf die Kirche geben könnte. Denn die Kirche ist nicht auf die Urteile von Menschen, nicht auf das Priestertum gegründet, sondern auf die Lehre der Apostel und Propheten, wie es Paulus in Erinnerung bringt (Eph. 2,20). Ja, man muß vielmehr Jerusalem von Babel, Christi Kirche von der Verschwörerrotte des Satans an dem Unterscheidungsmerkmal voneinander unterscheiden, an dem sie Christus unterschieden hat: „Wer von Gott ist“, spricht er, „der hört Gottes Worte; darum höret ihr nicht; denn ihr seid nicht von Gott“ (Joh. 8,47). Ich fasse zusammen: Die Kirche ist das Reich Christi; Christus aber regiert allein durch sein Wort; sollte es nun da noch irgendeinem Menschen dunkel sein, daß es Lügenworte sind, wenn man uns vormacht, Christi Reich könne ohne sein Zepter bestehen, das heißt: ohne sein heiliges Wort?
Sie beschuldigen uns nun der Kirchenspaltung und der Ketzerei, weil wir eine (von der ihrigen) verschiedene Lehre predigten, weil wir ihren Gesetzen nicht Gehorsam leisteten, und weil wir unter uns besondere Zusammenkünfte zum Gebet, zur Taufe, zur Feier des Heiligen Abendmahles, dazu auch andere heilige Handlungen abhielten. Das ist gewiß eine sehr schwere Anklage; aber sie bedarf doch keineswegs einer langen und mühseligen Verteidigung. Ketzer und Schismatiker nennt man solche Leute, die eine Spaltung herbeiführen und dadurch die Gemeinschaft der Kirche zerreißen. Diese Gemeinschaft der Kirche wird nun durch zwei Bande zusammengehalten: durch die Einmütigkeit in der gesunden Lehre und durch die brüderliche Liebe. Von daher stellt Augustin folgenden Unterschied zwischen Haeretikern und Schismatikern auf: die Haeretiker verderben die Lauterkeit des Glaubens mit falschen Lehrmeinungen, die Schismatiker dagegen zerreißen, manchmal auch bei (Aufrechterhaltung der) Gleichheit des Glaubens, das Band der Gemeinschaft (Fragen zum Evangelium nach Matthäus,11,2).
Dabei ist aber auch darauf zu achten, daß diese Verbundenheit in der Liebe von der Einheit im Glauben dergestalt abhängig ist, daß diese ihr Anfang, ihr Ziel, kurzum, ihre einzige Richtschnur sein muß. Sooft uns also die kirchliche Einheit gepriesen wird, wollen wir daran denken: hiermit wird von uns verlangt, daß unsere Gemüter in Christus einhellig und zugleich auch unsere Willensregungen in gegenseitigem Wohlwollen in Christus untereinander verbunden sind. So macht es daher Paulus: er ermahnt uns zur kirchlichen Einheit und setzt dabei als deren Fundament, daß ein Gott, ein Glaube und eine Taufe ist (Eph. 4,5). Ja, überall, wo er uns lehrt, das gleiche Urteil und den gleichen Willen zu haben, da fügt er sogleich hinzu: „In Christus“ oder „nach der Art Christi“ (Phil. 2,2.5; Röm. 15,5). Damit zeigt er, daß das, was außerhalb des Wortes unseres Herrn (an kirchlicher Gemeinschaft) geschieht, eine Rotte von Gottlosen und nicht eine einträchtige Gemeinschaft (conspiratio) der Gläubigen ist.
Diesem Urteil des Paulus schließt sich auch Cyprian an: er findet den Brunnquell aller kirchlichen Eintracht darin, daß Christus der einige Bischof ist. Danach fügt er hinzu: „Die Kirche, die sich durch fruchtbares Wachstum weiterhin zu einer Vielheit dehnt, ist doch eine Kirche, wie ja auch die Strahlen der Sonne viele sind, aber das Licht eins, oder wie an einem Baum viele Äste sind, aber der Stamm nur einer ist, gegründet auf einer festen Wurzel. Und wenn von einer einzigen Quelle her gar viele Bäche fließen, so mag wohl bei dem Reichtum der überströmenden Wassermenge der Eindruck einer verstreuten Vielheit entstehen, aber es bleibt doch in der Quelle die Einheit. Nimm einen Strahl der Sonne von ihrem Körper weg, so läßt sich die Einheit der Sonne doch nicht teilen. Brich einen Ast vom Baum, so wird der abgeschlagene Ast nicht zu grünen vermögen. Trenne einen Bach von seinem Quell, so muß er in seinem Abgeschnittensein austrocknen. So breitet sich auch die Kirche, von dem Lichte des Herrn durchflossen, über die ganze Welt aus, aber es ist doch ein Licht, das sich da allenthalben ergießt“ (Von der Einheit der katholischen Kirche 5). Treffenderes hätte gar nicht gesagt werden können, um jene unzertrennliche Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, die alle Glieder Christi untereinander haben. Wir sehen, wie er uns immerfort zu dem Haupte selber zurückruft. Deshalb erklärt er auch, daß alle Ketzereien und Kirchenspaltungen daher rühren, daß man nicht auf den Ursprung der Wahrheit zurückgeht, daß man das Haupt nicht sucht und die Lehre des himmlischen Meisters nicht wahrt.
So, nun sollen sie herkommen und schreien, wir, die wir uns von ihrer Kirche geschieden haben, wir seien Ketzer, wo doch diese Absonderung nur eine einzige Ursache gehabt hat, nämlich die, daß sie das reine Bekenntnis der Wahrheit auf keinerlei Weise zu ertragen vermögen. Dabei will ich aber noch mit Schweigen übergehen, daß sie uns mit Verfluchungen und Verwünschungen hinausgetrieben haben! Trotzdem genügt auch das schon mehr als genug zu unserer Freisprechung, sofern sie nicht auch die Apostel wegen Kirchenspaltung verdammen wollen, mit denen wir die gleiche Sache haben. Hat doch Christus, so sage ich, seinen Aposteln vorhergesagt, daß sie um seines Namens willen aus den Synagogen hinausgeworfen werden würden (Joh. 16,2). Nun galten aber die Synagogen, von denen er spricht, dazumal für rechtmäßige Kirchen. Da es also feststeht, daß wir hinausgeworfen worden sind, und da wir bereit sind darzulegen, daß dies um des Namens Christi willen geschehen ist, so muß man unzweifelhaft zuerst über die Streitsache eine Untersuchung anstellen, bevor man über uns irgend etwas in der einen oder anderen Richtung bestimmt. Aber das will ich ihnen, wenn sie es so wollen, gerne erlassen; mir genügt es voll und ganz, daß wir uns von ihnen haben wegwenden müssen, um uns zu Christus hinzuwenden!
Aber was wir von all den Kirchen zu halten haben, die jene Tyrannei des römischen Abgotts mit Beschlag belegt hat, das wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir sie mit der alten Kirche in Israel vergleichen, wie sie uns bei den Propheten umrissen wird. Bei den Judäern und Israeliten war zu der Zeit die wahre Kirche, als sie in den Gesetzen des Bundes verharrten, indem sie nämlich durch Gottes Wohltat die Dinge in Besitz hatten, in denen die Kirche besteht. Die Lehre der Wahrheit hatten sie im Gesetz, der Dienst an dieser Lehre lag bei den Priestern und Propheten. Durch das Merkzeichen der Beschneidung empfingen sie den ersten Zugang zur Gottesverehrung, durch andere Sakramente wurden sie zur Stärkung ihres Glaubens geübt. Es besteht kein Zweifel, daß die Lobsprüche, mit denen der Herr die Kirche geehrt hat, auf ihre Gemeinschaft Anwendung fanden. Nachdem sie aber das Gesetz des Herrn verlassen hatten und daraufhin zu Abgötterei und Aberglauben entartet waren, geriet ihnen jenes Vorrecht teilweise in Verlust. Denn wer würde es wagen, denen den Titel „Kirche“ zu entreißen, denen Gott die Predigt seines Wortes und die Beobachtung seiner Sakramente in Bewahrung gegeben hat? Auf der anderen Seite: wer möchte es wagen, eine Versammlung ohne jede Ausnahme als Kirche anzusprechen, in der man Gottes Wort öffentlich und ungestraft mit Füßen tritt, eine Versammlung, in der sein Dienstamt, das doch der Hauptkraftträger und geradezu die Seele der Kirche ist, der Zerstörung anheimfällt?
Wieso nun - möchte vielleicht jemand sagen -, war denn bei den Judäern, seitdem sie zur Abgötterei abgefallen waren, kein Stücklein Kirche mehr übrig? Da ist die Antwort leicht zu geben. Zunächst behaupte ich, daß es bei dem Abfall selber bestimmte Stufen gegeben hat. Denn wir werden nicht sagen können, daß der Abfall Judas und Israels zu der Zeit, als sie beide zum ersten Male von der reinen Verehrung Gottes abwichen, derselbe gewesen wäre. Als Jerobeam gegen Gottes klares Verbot die Kälber machte und eine unerlaubte Stätte zu ihrer Verehrung weihte, da hat er die Gottesverehrung voll und ganz verdorben. Die Judäer haben sich zunächst mit gottlosen und abergläubischen Gebräuchen befleckt, bevor sie auch in der äußerlichen Form der Gottesverehrung den gesetzten Zustand übel veränderten. Gewiß hatten sie nämlich unter Rehabeam bereits allgemein vielerlei verkehrte Zeremonien eingeführt; aber trotzdem blieben in Jerusalem die Lehre des Gesetzes und das Priestertum, dazu auch die gottesdienstlichen Gebräuche, wie sie Gott eingerichtet hatte, bestehen, und deshalb fanden die Frommen dort (immer noch) einen erträglichen Zustand der Kirche vor. Bei den Israeliten wurden bis zur Regierung des Ahab die Verhältnisse keineswegs wieder in ihren besseren Stand zurückversetzt, ja, zu Ahabs Zeiten sind sie gar noch in einen schlimmeren Zustand versunken. Die Könige, die hernach, bis zum Untergang des Königtums, folgten, waren teils dem Ahab ähnlich, teils, wenn sie etwas besser sein wollten, folgten sie dem Beispiel des Jerobeam; alle ohne Ausnahme aber waren Gottlose und Götzendiener. In Judäa trugen sich je und dann vielfältige Veränderungen zu, da einige von den Königen die Verehrung Gottes mit falschen und ersonnenen abergläubischen Gebräuchen verkehrten, die anderen aber die zerrüttete Religion wieder aufrichteten - bis dann auch die Priester selber den Tempel Gottes mit unheiligen und abscheulichen Gebräuchen besudelten.
Wohlan nun, jetzt sollen die Papisten, wenn sie es fertig bringen, bestreiten, daß der Zustand der Gottesverehrung - so sehr sie auch ihre Laster abschwächen mögen - bei ihnen ebenso verkommen und verdorben ist, wie er es im Reiche Israel unter Jerobeam war. Dabei aber ist die Abgötterei, die bei ihnen besteht, gröber, und auch in der Lehre sind sie um kein einziges Tröpflein reiner, wenn sie nicht gar auch hierin noch unsauberer sind als die Israeliten einst. Gott, ja, überhaupt jeder, der mit einigem Urteilsvermögen begabt ist, wird mir dafür Zeuge sein, und der Tatbestand selbst macht auch deutlich, wie rein gar nichts ich hier übertreibe.
Wenn sie uns nun zur Gemeinschaft mit ihrer Kirche nötigen wollen, so fordern sie zweierlei von uns: erstens sollen wir an all ihren Gebeten, heiligen Handlungen und Zeremonien teilnehmen, zweitens sollen wir alles, was Christus seiner Kirche an Ehre, Macht und Gerichtsgewalt zuerteilt hat, auf ihre Kirche übertragen.
(1) Was das erste betrifft, so gebe ich zu, daß alle Propheten, die in Jerusalem waren, weder für sich allein geopfert noch von den anderen abgesonderte Versammlungen zum Beten gehalten haben, obwohl damals die Zustände dort ganz und gar verkommen waren. Denn sie hatten Gottes Gebot, kraft dessen ihnen befohlen war, beim Tempel des Salomo zusammenzukommen, und sie hatten auch die levitischen Priester; diese waren von dem Herrn als Vorsteher bei den heiligen Handlungen verordnet (Ex. 29,9) und, so unwürdig sie dieser Ehre auch sein mochten, noch nicht abgesetzt worden, und deshalb wußten die Propheten von ihnen, daß sie jenen Platz noch nicht mit Recht innehatten. Und dann, was die Hauptsache bei der ganzen Frage ist: sie wurden zu keiner abergläubischen Gottesverehrung gezwungen, ja, sie nahmen nichts an, was nicht von Gott eingerichtet gewesen wäre.
Aber was findet sich bei diesen Leuten, ich meine: bei den Papisten, Ähnliches? Denn wir können mit ihnen kaum irgendeine Versammlung gemeinsam haben, in der wir uns nicht mit offener Abgötterei befleckten. Unzweifelhaft besteht doch das wichtigste Band ihrer Gemeinschaft in der Messe, die wir als die furchtbarste Heiligtumsschändung verabscheuen. Ob wir das nun mit Recht oder ohne Grund tun, das werden wir an anderer Stelle sehen. Für jetzt ist es genug, wenn ich zeige, daß unsere Sache in diesem Stück eine andere ist, als es die der Propheten war, die, wenn sie auch an den heiligen Handlungen der Gottlosen teilnahmen, trotzdem nicht gezwungen wurden, andere Zeremonien anzusehen oder zu üben, als die von Gott verordneten.
Wollen wir nun ein in allen Stücken ähnliches Beispiel haben, so wollen wir es aus dem Reich Israel nehmen. Auf Grund der Einrichtung des Jerobeam blieb dort die Beschneidung bestehen, auch geschahen Opfer, das Gesetz wurde heilig gehalten, und es wurde der Gott angerufen, den man von den Vätern empfangen hatte; aber wegen der selbsterdachten und verbotenen Kultgebräuche wurde alles, was in Israel geschah, von Gott mißbilligt und verdammt (1. Kön. 12,31). Nun soll man mir aber einen einzigen Propheten oder auch nur irgendeinen frommen Mann nennen, der einmal in Bethel angebetet oder ein Opfer dargebracht hätte! Denn sie wußten eben, daß sie das nicht tun könnten, ohne sich dadurch mit irgendwelcher Heiligtumsschändung zu beflecken. Es ergibt sich also für uns: die Gemeinschaft der Kirche gilt bei den Frommen nicht soviel, daß man sich ihr, sofern sie zu unheiligen und befleckten Gebräuchen entartet, gleich anschließen müßte.
(2) Was nun aber die zweite Forderung der Papisten betrifft, so widersetzen wir uns da noch heftiger. Denn wenn man die Kirche dergestalt betrachtet, kann man ihr Urteil ehrerbietig annehmen, ihre Autorität anerkennen, ihren Ermahnungen gehorchen, daß man sich von ihren Züchtigungen bewegen lassen und die Gemeinschaft mit ihr in allen Dingen ehrfürchtig aufrechterhalten soll, so können wir den Papisten nicht zugeben, daß sie Kirche sind, ohne uns notwendig zugleich der verpflichtung zu Unterwerfung und Gehorsam zu unterziehen. Wir wollen ihnen gern zugestehen, was die Propheten den Judäern und Israeliten ihrer Zeit gewährt haben, als die Dinge dort in gleichem oder gar in besserem Zustande waren. Wir gewahren aber, wie sie immer wieder laut erklären, daß (in ihrem Volk) die Versammlungen etwas Unheiliges waren (Jes. 1,14) und daß man mit ihnen ebensowenig übereinstimmen dürfe, wie man Gott verleugnen darf. Und wahrhaftig, wenn das Kirchen waren, so ergibt sich, daß diese Männer von der Kirche Gottes abgesondert waren, also in Israel Elia, Micha und andere, in Juda aber Jesaja, Jeremia, Hosea und andere dieser Art, diese Männer, die von den Propheten, den Priestern und dem Volke ihrer Zeit schlimmer gehaßt und verflucht wurden als irgendwelche Unbeschnittene. Wenn das Kirchen waren, so ist die Kirche also nicht „ein Pfeiler der Wahrheit“ (1. Tim. 3,15), sondern eine Feste der Lüge, nicht ein Zelt des lebendigen Gottes, sondern eine Behausung der Götzen! Die Propheten hielten es also für erforderlich, sich von der Übereinstimmung mit den Versammlungen solcher Leute abzusondern; denn diese war ja nichts anderes als eine ruchlose Verschwörung gegen Gott.
Aus dem gleichen Grunde wird der in einem schweren Irrtum sein, der die gegenwärtigen Versammlungen, die mit Abgötterei, Aberglauben und gottloser Lehre besudelt sind, als Kirchen anerkennt, in deren voller Gemeinschaft ein Christenmensch verharren müßte, und zwar gar soweit, daß er mit ihrer Lehre in Eintracht lebte. Denn wenn es Kirchen sind, so haben sie auch die Schlüsselgewalt inne; die Schlüssel aber haben einen unlöslichen Zusammenhang mit dem Worte, das doch in diesen Versammlungen niedergeschlagen ist. Ferner: wenn es Kirchen sind, so hat bei ihnen Christi Verheißung Gültigkeit: „Was ihr binden werdet ...” (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23). Tatsächlich aber stoßen sie aus ihrer Gemeinschaft alle aus, die sich ohne Heuchelei als Knechte Christi bekennen. Folglich ist also entweder die Verheißung Christi ohne Inhalt, oder aber sie sind, wenigstens in dieser Hinsicht, keine Kirchen! Schließlich haben sie an Stelle des Dienstes am Wort Schulen der Gottlosigkeit und einen Pfuhl von Irrtümern aller Art. Daraus ergibt sich: entweder sind sie im Sinne unserer Beweisführung keine Kirchen - oder aber es wird kein Merkzeichen übrigbleiben, an dem man die rechtmäßigen Versammlungen der Gläubigen von den Zusammenkünften der Türken unterscheiden kann.
Trotzdem - wie einst unter den Juden einzelne besondere Vorrechte der Kirche übrig waren, so sprechen wir auch heute den Papisten nicht ab, was der Herr unter ihnen als Spuren der Kirche aus der Zerrüttung hat übrigbleiben lassen wollen. Mit den Juden hatte Gott einmal seinen Bund geschlossen, und dieser behielt seinen Bestand mehr dadurch, daß er, auf seine eigene Festigkeit gestützt, gegen ihre Gottlosigkeit die Oberhand gewann, als daß er etwa von ihnen bewahrt worden wäre. Der Bund des Herrn ist also bei ihnen um der Sicherheit und Beständigkeit der göttlichen Güte willen verblieben; ihre Treulosigkeit konnte seine Treue nicht auslöschen, und auch die Beschneidung konnte durch ihre unreinen Hände nicht dermaßen verunheiligt werden, daß sie nicht zugleich auch ein wahrhaftiges Zeichen und Sakrament jenes Bundes Gottes gewesen wäre. Deshalb nannte der Herr auch die Kinder, die ihnen geboren wurden, seine Kinder (Ez. 16,20f.), und dabei konnten sie doch nur durch seine besondere Segnung etwas mit ihm zu tun haben! So hat er seinen Bund auch (den Menschen) in Frankreich, Italien, Deutschland, Spanien und England in Bewahrung gegeben; damit nun dieser sein Bund, nachdem diese Gebiete unter die Bedrückung durch die Tyrannei des Antichrists geraten waren, trotzdem unverletzlich seinen Bestand behielt, so hat Gott daselbst erstens die Taufe erhalten, die das Zeugnis seines Bundes ist und die, mit seinem eigenen Munde geheiligt, trotz aller menschlichen Gottlosigkeit ihre Kraft behält, zweitens hat er es durch seine Vorsehung bewirkt, daß auch andere Überreste bestehen blieben, damit die Kirche nicht ganz und gar unterginge. Oft werden ja Bauwerke so niedergerissen, daß doch Fundamente und Ruinen übrigbleiben. Ebenso hat es Gott nicht geduldet, daß seine Kirche durch den Antichrist vom Fundament her umgestürzt oder dem Erdboden gleichgemacht wurde. Freilich hat er es zur Strafe für die Undankbarkeit der Menschen, die sein Wort verachtet hatten, zugelassen, daß eine furchtbare Zerstörung und Zerrüttung geschehen ist. Aber er hat doch gewollt, daß auch aus der Verwüstung noch ein halbeingestürztes Bauwerk übrigblieb.
Obgleich wir also den Papisten den Namen „Kirche“ nicht rundweg zugestehen wollen, so leugnen wir deshalb doch nicht, daß es bei ihnen Kirchen gibt, sondern wir streiten mit ihnen allein über die wahre und rechtmäßige Gestaltung der Kirche, die sich einerseits in der Gemeinschaft an den Sakramenten findet, die die Zeichen des Bekenntnisses sind, andererseits aber vor allem in der Gemeinschaft der Lehre. Daniel (Dan. 9,27) und Paulus (2. Thess. 2,4) haben vorausgesagt, daß der Antichrist in Gottes Tempel sitzen werde; als Anführer und Vorkämpfer dieses frevlerischen und abscheulichen Reiches bei uns betrachten wir den Papst zu Rom. Damit, daß der Sitz des Antichrists in Gottes Tempel seinen Platz angewiesen erhält, wird angedeutet, daß sein Reich von der Art sein wird, daß es weder Christi noch der Kirche Namen abschafft. Daraus ergibt sich also deutlich, daß wir in keiner Weise leugnen, daß auch unter seiner Tyrannei Kirchen bleiben. Aber das sind eben Kirchen, die er mit seiner frevlerischen Gottlosigkeit entheiligt, mit seiner grausamen Herrschaft bedrückt, die er mit bösen, verderblichen Lehren wie mit giftigen Tränklein verdorben und beinahe ertötet hat, das sind Kirchen, in denen Christus halb begraben verborgen liegt, das Evangelium erdrückt, die Frömmigkeit vertrieben und die Verehrung Gottes nahezu abgeschafft ist, kurz, das sind Kirchen, in denen alles dermaßen verwirrt ist, daß darin eher das Aussehen Babels als das der heiligen Stadt Gottes zutage tritt. Kurzum, ich sage, daß hier Kirchen sind, sofern der Herr darin die Überbleibsel seines Volkes, wie jämmerlich zerstreut und auseinandergetrieben sie auch sein mögen, auf wundersame Weise bewahrt; Kirchen sind hier, sofern noch einige Merkzeichen der Kirche bestehen bleiben, und zwar vor allem die, deren Wirkkraft weder die Verschlagenheit des Teufels noch die Bosheit der Menschen zu zerstören vermag. Aber weil in diesen Versammlungen auf der anderen Seite die Kennzeichen ausgetilgt sind, auf die man bei dieser Erörterung vor allem schauen muß, so behaupte ich, daß sowohl die einzelnen Versammlungen, als auch der ganze Leib der rechtmäßigen Gestalt der Kirche ermangeln.
Jetzt müssen wir über die Ordnung sprechen, in der die Kirche nach dem Willen des Herrn regiert werden soll. Allerdings soll in der Kirche er allein regieren und herrschen, er allein soll in ihr auch die Führung und den höchsten Platz innehaben und diese Herrschgewalt allein durch sein Wort ausüben und walten lassen. Aber er wohnt ja nicht in sichtbarer Gegenwärtigkeit unter uns (Matth. 26,11), um uns seinen Willen in eigener Person mündlich zu eröffnen, und deshalb gebraucht er dabei, wie ich bereits ausführte, den Dienst und gleichsam die vertretungsweise Tätigkeit von Menschen. Das tut er freilich nicht, um sein Recht und seine Ehre auf sie zu übertragen, sondern nur, um durch ihren Mund selbst sein Werk zu tun, wie auch ein Handwerker zur Verrichtung seiner Arbeit ein Werkzeug verwendet.
Ich bin nun genötigt, abermals zu wiederholen, was ich bereits oben auseinandergesetzt habe. Gott könnte dies sein Werk zwar auch rein aus sich selber, ohne jedes andere Hilfsmittel oder Werkzeug tun, könnte es ebenso auch durch die Engel verrichten; aber es gibt eine ganze Anzahl von Ursachen, weshalb er es lieber durch Menschen tut.
(1) Denn zunächst legt er damit dar, wie lieb und wert wir ihm sein sollen, und zwar auf die Weise, daß er aus den Menschen solche herausnimmt, die für ihn in der Welt den Botendienst tun, seines verborgenen Willens Künder sein, ja, die kurzum seine Person darstellen sollen. So beweist er auch durch die Erfahrung, daß es nicht ohne Belang ist, wenn er uns je und dann seine „Tempel“ nennt (1. Kor. 3,16f.; 6,19; 2. Kor. 6,16), da er ja aus dem Mund von Menschen heraus, wie aus seinem Heiligtum, mit den Menschen redet (vergleiche Augustin, Von der christlichen Unterweisung IV,27,59).
(2) Und ferner: es ist eine sehr gute und höchst nutzbringende Übung zur Demut, wenn er uns daran gewöhnt, seinem Worte zu gehorchen, ob es auch durch Menschen gepredigt wird, die uns gleich sind, ja, die uns zuweilen auch an Würde nachstehen. Wenn er selber vom Himmel herab redete, dann wäre es kein Wunder, wenn seine heiligen Kundgebungen ohne Verzug von aller Ohr und Herz in Ehrfurcht angenommen würden. Denn wer wollte sich vor seiner gegenwärtigen Macht nicht fürchten? Wer sollte nicht beim ersten Anblick so gewaltiger Majestät zu Boden geworfen werden? Wer würde von solch unermeßlichem Glanz nicht aus der Fassung gebracht werden? Wo aber irgendein Menschlein, das aus dem Staube hervorgegangen ist, in Gottes Namen redet, da beweisen wir unsere Frömmigkeit und Ehrerbietung gegen Gott selber mit einem besonderen Zeugnis, wenn wir uns seinem Diener gelehrig erweisen, obwohl er doch in keiner Hinsicht höher steht als wir. Aus diesem Grunde verbirgt er daher auch den Schatz seiner himmlischen Weisheit in zerbrechlichen, irdenen Gefäßen (2. Kor. 4,7): er will eben einen um so gewisseren Beweis dafür empfangen, wie hoch wir ihn achten.
(3) Und dann: zur Aufrechterhaltung der gegenseitigen Liebe war nichts geeigneter, als die Menschen durch das Band miteinander zusammenzufassen, daß einer zum Hirten eingesetzt wird, um die anderen zusammen zu unterweisen, die anderen aber, denen befohlen wird, Jünger zu sein, aus einem Munde die gemeinsame Unterweisung empfangen. Denn wenn sich jeder selbst genügte und keiner den Dienst eines anderen nötig hätte, dann würde bei der Hoffart unseres menschlichen Wesens jeder die anderen verachten und wiederum von den anderen verachtet werden. Der Herr hat also seine Kirche mit dem Band zusammengefaßt, von dem er
zuvor gesehen hat, daß es die größte Festigkeit haben würde, um die Einheit aufrechtzuerhalten, indem er nämlich die Lehre des Heils und des ewigen Lebens Menschen zur Bewahrung übergeben hat, um sie durch ihre Hand den anderen mitzuteilen. Darauf hatte Paulus sein Augenmerk gerichtet, als er an die Epheser schrieb: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allem und durch alles und in uns allen. Einem jeglichen aber unter uns ist gegeben die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi“ (Eph. 4,4-7; nicht ganz Luthertext). „Darum heißt es: ‚Er ist aufgefahren in die Höhe und hat das Gefängnis gefangen geführt und hat den Menschen Gaben gegeben’ ... Der hinuntergefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte. Und er hat etliche zu Aposteln gesetzt, etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern, daß die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Dienstes, dadurch der Leib Christi erbaut werde, bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters ..., auf daß wir nicht mehr Kinder seien und uns bewegen und wiegen lassen von allerlei Wind der Lehre ... Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der ganze Leib wächst zu seiner selbst Auferbauung, und das alles in der Liebe“ (Eph. 4,8.10-16; fast ganz Luthertext).
IV,3,2
Mit diesen Worten zeigt der Apostel zunächst, daß der Dienst von Menschen, den Gott zur Regierung seiner Kirche benutzt, das wichtigste Band ist, durch das die Gläubigen in einem Leibe zusammengehalten werden. Dann legt er ferner auch dar, daß die Kirche nicht anders unversehrt bewahrt bleiben kann, als wenn sie durch diese Mittel gestützt wird, welche der Herr nach seinem Wohlgefallen zu ihrer Erhaltung eingerichtet hat. Er sagt: „Christus ist aufgefahren in die Höhe, auf daß er alles erfüllte“ (Eph. 4,10; nicht Luthertext). Dieses „Erfüllen“ geschieht aber auf die Weise, daß er durch die Diener, denen er diese Amtspflicht aufgetragen und die Gnade zur Verrichtung dieses Dienstes gewährt hat, seine Gaben an die Kirche ausspendet und verteilt und sich so selber gewissermaßen als gegenwärtig erweist, indem er die Kraft seines Heiligen Geistes in dieser seiner Einsetzung zur Wirkung bringt, damit sie nicht eitel oder fruchtlos sei. So werden „die Heiligen zugerichtet“, so wird „der Leib Christi erbaut“ (Eph. 4,12), so „wachsen wir in allen Stücken an dem, der das Haupt ist“ (Vers 15), so fügen wir uns auch untereinander zusammen (Vers 16) und werden wir alle zur Einheit Christi gebracht, wenn nämlich unter uns das Prophetenamt in Kraft steht, wenn wir die „Apostel“ annehmen und die Lehre, die uns durch solchen Dienst zukommt, nicht verachten. Jeder also, der diese Ordnung, um die es in unserer Erörterung geht, und diese Art des Regiments abzuschaffen begehrt oder sie verkleinert, als sei sie weniger notwendig, der bemüht sich tatsächlich um die Zerstreuung oder lieber um den Zerfall oder den Untergang der Kirche. Denn weder das Licht und die Wärme der Sonne noch auch Speis und Trank sind zur Ernährung und Erhaltung des gegenwärtigen Lebens so notwendig wie das Amt der Apostel und Hirten zur Bewahrung der Kirche auf Erden.
IV,3,3
Deshalb habe ich oben daran erinnert, daß uns Gott die würde dieses Amtes oft mit allen nur möglichen Lobsprüchen gepriesen hat, damit es bei uns in höchster Ehre und Wertschätzung stehe, gleichsam als das kostbarste von allen Dingen. Er gibt dem Propheten die Weisung zu dem Ausruf, „lieblich“ seien die „Füße“ und glückselig sei das Kommen „der Boten, die da Frieden verkündigen“ (Jes. 52,7), er nennt die Apostel „das Licht der Welt“ und „das Salz der Erde“ (Matth. 5,13f.), und damit bezeugt er, daß er den Menschen eine einzigartige Wohltat zukommen läßt, indem er ihnen Lehrer erweckt. Auch hätte er dies Amt gar nicht leuchtender zieren können, als indem er sprach: „Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich“ (Luk. 10,16). Aber die herrlichste Stelle von allen findet sich bei Paulus im zweiten Korintherbrief, wo er diese Frage gleichsam als Thema behandelt. Da behauptet er also, daß es in der Kirche nichts Vortrefflicheres und Herrlicheres gibt, als das Amt des Evangeliums, weil es ja das Amt des Geistes (2. Kor. 3,8), der „Gerechtigkeit“ (2. Kor. 3,9) und des ewigen Lebens ist (zum Ganzen noch 2. Kor. 4,6). Diese Worte und ähnliche haben den Zweck, daß jene Art und Weise, die Kirche durch die Diener zu regieren und zu erhalten, die der Herr für alle Zeit gestiftet hat, bei uns nicht in Verachtung gerate und schließlich durch Geringschätzung in Abgang komme.
Wie notwendig dies Amt nun ist, das hat uns der Herr nicht allein mit Worten, sondern auch an Beispielen gezeigt. Als er den Cornelius mit dem Lichte seiner Wahrheit reichlicher anstrahlen wollte, da sandte er einen Engel vom Himmel, der ihn zu Petrus weisen sollte (Apg. 10,3-6). Als er den Paulus zu seiner Erkenntnis berufen und in die Kirche einfügen wollte, da redete er ihn zwar mit eigener Stimme an, aber er schickte ihn doch zu einem Menschen, damit er von ihm die Lehre des Heils und die Heiligung der Taufe empfing (Apg. 9,6)! Es geschieht doch sicher nicht ohne Grund, daß der Engel, der Gottes Bote ist, selbst davon Abstand nimmt, Gottes Willen kundzumachen, sondern (dem Cornelius) die Weisung gibt, einen Menschen herbeizurufen, damit dieser ihn bekanntgebe; es geschieht nicht ohne Grund, daß Christus, der einige Lehrmeister der Gläubigen, den Paulus dem Lehramt eines Menschen anvertraut - den Paulus, den er doch in den dritten Himmel zu „entzücken“ und der Offenbarung unaussprechlicher Dinge zu würdigen beschlossen hatte (2. Kor. 12,2-4)! Wenn es so steht - wer will es dann jetzt wagen, jenes Dienstamt zu verachten oder als überflüssig zu übergehen, das Gott mit solchen Beweisen hat bezeugen wollen?
IV,3,4
Als solche, die nach der Einsetzung Christi dem Kirchenregiment vorstehen, verzeichnet Paulus zunächst die „Apostel“, dann die „Propheten“, drittens die „Evangelisten“, viertens die „Hirten“ und schließlich die „Lehrer“ (Eph. 4,11). Unter diesen haben bloß die beiden letzten ein regelmäßiges Amt in der Kirche; die anderen drei hat der Herr im Beginn seines Reiches erweckt, und er erweckt sie auch sonst zuweilen, je nachdem es die Notdurft der Zeiten erfordert.
Was die Amtsaufgabe der Apostel ist, ergibt sich deutlich aus der Anweisung: „Gehet hin ... und prediget das Evangelium aller Kreatur“ (Mark. 16,15). Ihnen werden keine bestimmten Gebiete zugeordnet, sondern sie bekommen den ganzen Erdkreis zugewiesen, um ihn zum Gehorsam gegen Christus zu bringen: sie sollen das Evangelium bei allen Völkern ausstreuen, bei denen sie es zu tun vermögen, und allenthalben Christi Reich aufrichten. So bezeugt es daher auch Paulus; er will sein Apostelamt bekräftigen, und dazu erinnert er daran, daß er Christus nicht irgendeine einzelne Stadt erworben, sondern das Evangelium weit und breit bekanntgemacht hat, auch daß er „nicht auf einen fremden Grund gebaut“, sondern vielmehr dort Kirchen gepflanzt hat, „wo des Herrn Name nicht bekannt war“ (Röm. 15,19. 20). Die Apostel wurden also ausgesandt, um den Erdkreis aus seinem Abfall zum wahren Gehorsam gegen Gott zurückzuführen und um Gottes Reich allenthalben durch die
Predigt des Evangeliums aufzurichten oder auch, wenn man lieber will, um gleichsam als die ersten Baumeister der Kirche in der ganzen Welt ihre Fundamente zu legen (1. Kor. 3,10).
„Propheten“ nennt der Apostel (Eph. 4,11) nicht jegliche Künder des Willens Gottes, sondern solche, die sich durch eine besondere Offenbarung auszeichneten. Derartige Menschen gibt es heutzutage entweder keine, oder aber sie sind weniger sichtbar.
Unter „Evangelisten“ verstehe ich solche, die den Aposteln zwar an Würde nachstanden, aber nach ihrer Amtsverpflichtung sehr nahe an sie herankamen und gar an ihrer Statt wirkten. Von dieser Art waren Lukas, Timotheus, Titus und andere dergleichen, dazu vielleicht auch die siebzig Jünger, die Christus an zweiter Stelle nach den Aposteln bestimmte (Luk. 10,1).
Zufolge dieser Deutung, die mir sowohl den Worten als auch der Meinung des Paulus zu entsprechen scheint, waren diese drei Amtsaufgaben in der Kirche nicht dergestalt eingerichtet, daß sie bleibend sein sollten, sondern sie sollten nur für die Zeit dasein, in der es galt, Kirchen aufzurichten, wo zuvor keine gewesen waren, oder aber Kirchen von Mose zu Christus herüberzuführen. Allerdings bestreite ich nicht, daß Gott auch nachher noch zuweilen Apostel oder wenigstens an ihrer Stelle Evangelisten erweckt hat, wie das ja zu unserer Zeit geschehen ist. Denn es bedurfte solcher Männer, um die Kirche von dem Abfall des Antichrists zurückzubringen. Das Amt selber bezeichne ich trotzdem als „außerordentlich“, weil es in regelrecht eingerichteten Kirchen keinen Platz hat.
Dann folgen die „Hirten“ und „Lehrer“, ohne die die Kirche zu keiner Zeit sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen besteht meines Erachtens darin, daß die „Lehrer“ weder bei der Übung der Zucht noch bei der Verwaltung der Sakramente, noch bei den Vermahnungen und Ermunterungen die Leitung haben, sondern allein bei der Auslegung der Schrift, damit die lautere und gesunde Lehre unter den Gläubigen erhalten bleibt. Das Amt der „Hirten“ dagegen begreift dies alles in sich.
IV,3,5
Jetzt sind wir uns darüber klar, welche Ämter im Kirchenregiment mit zeitlich begrenzter Gültigkeit bestanden haben und welche dazu eingerichtet sind, immerfort bestehen zu bleiben, wenn wir nun die Evangelisten mit den Aposteln verbinden, so bleiben uns je zwei gleichartige Ämter übrig, die sich untereinander gewissermaßen entsprechen. Denn die gleiche Ähnlichkeit, die unsere (heutigen) Lehrer mit den früheren Propheten haben, besteht auch zwischen den Hirten (Pastoren) und den Aposteln. Das Amt der Propheten war hervorragender (als das unserer Lehrer), und zwar wegen der besonderen Gabe der Offenbarung, die den Propheten zuteil geworden war. Aber das Amt der Lehrer hat doch fast die gleiche Art und durchaus den gleichen Zweck. Ebenso hatten auch jene Zwölf, die der Herr auserwählte, um die neue Predigt des Evangeliums der Welt bekanntzumachen, an Rang und würde einen höheren Platz als die übrigen (Luk. 6,13; Gal. 1,1). Allerdings können auf Grund der Bedeutung und der sprachlichen Wurzel des Wortes alle Diener der Kirche regelrecht als „Apostel“ bezeichnet werden; denn sie werden ja alle von dem Herrn ausgesandt und sind seine Boten. Aber weil eben doch viel darauf ankam, daß man von der Sendung derer, die eine solch neue, unerhörte Sache vorbringen sollten, eine sichere Kenntnis hatte, so war es nötig, daß jene Zwölf, zu deren Zahl später noch Paulus hinzukam, vor allen anderen mit einem besonderen Titel ausgezeichnet wurden. Freilich gibt Paulus selbst diesen Namen an einer Stelle (Röm. 16,7) dem Andronikus und dem Junias, von denen er sagt, sie seien unter den Aposteln „berühmt“ gewesen, wenn er aber im eigentlichen Sinne sprechen will, dann bezieht er diesen Namen („Apostel“) allein auf den ursprünglichen Rang. Das ist auch der allgemeine Gebrauch der Schrift (Matth. 10,1).
Trotzdem (d.h. trotz der unübertragbaren Besonderheit der Apostel) haben die Hirten (Pastoren) die gleiche Amtsaufgabe wie die Apostel - nur daß jeder einzelne von ihnen eine bestimmte, ihm zugewiesene Kirche leitet, wie die Amtsaufgabe der Pastoren nun beschaffen ist, das wollen wir noch deutlicher hören.
IV,3,6
Als der Herr die Apostel aussandte, da gab er ihnen, wie ich bereits vor kurzem ausführte, die Weisung, das Evangelium zu predigen und diejenigen, die da glaubten, zur Vergebung der Sünden zu taufen (Matth. 28,19). Zuvor aber hatte er ihnen aufgetragen, die heiligen Merkzeichen seines Leibes und Blutes nach seinem Beispiel auszuteilen (Luk. 22,19). Siehe, da haben wir nun ein heiliges, unverletzliches und bleibendes Gesetz vor uns, das denen auferlegt ist, die den Aposteln auf ihrem Platz nachfolgen, ein Gesetz, kraft dessen sie den Auftrag erhalten, das Evangelium zu predigen und die Sakramente zu verwalten. Daraus ergibt sich für uns, daß diejenigen, die diese beiden Aufgaben vernachlässigen, sich zu Unrecht als Träger des Amtes der Apostel ausgeben.
Wie steht es nun aber um die Hirten (Pastoren)? Paulus spricht nicht nur von sich selber, sondern von ihnen allen, wenn er sagt: „Dafür halte uns jedermann: für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse“ (1. Kor. 4,1). Ebenso an anderer Stelle: „Ein Bischof soll sich an das zuverlässige Wort halten, das der Lehre gemäß ist, auf daß er mächtig sei, zu ermahnen durch die heilsame Lehre und zu strafen die Widersprecher“ (Tit. 1,9; erste Hälfte nicht Luthertext). Aus diesen und ähnlichen Stellen, die uns immer wieder begegnen, läßt sich entnehmen, daß auch die Amtsaufgabe der Pastoren vornehmlich in diesen beiden Stücken besteht: das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Die Unterweisung geschieht nun aber nicht allein in öffentlichen Predigten, sondern sie erstreckt sich auch auf persönliche Ermahnungen. So zieht Paulus die Epheser als Zeugen dafür heran, daß er ihnen nichts vorenthalten habe, das ihnen nützlich war, sondern daß er es ihnen verkündigt, sie öffentlich und hin und her in den einzelnen Häusern gelehrt und „beiden, den Juden und Griechen“, bezeugt hat „die Buße ... und den Glauben an ... Christus“ (Apg. 20,20f.). Ebenso fordert er sie kurz danach zu Zeugen dafür auf, daß er nicht „abgelassen“ hat, „einen jeglichen” von ihnen „mit Tränen zu vermahnen“ (Apg. 20,31). Es gehört aber nicht zu der uns jetzt beschäftigenden Aufgabe, die einzelnen Gaben eines guten „Hirten“ durchzugehen, sondern nur, zu zeigen, zu was für einer Tätigkeit sich eigentlich die, die sich „Hirten“ nennen, bereit erklären, nämlich dazu, ihr Vorsteheramt in der Kirche so zu üben, daß sie nicht etwa eine müßige Würde innehaben, sondern mit der Lehre von Christus das Volk zu wahrer Frömmigkeit unterweisen, die heiligen Sakramente verwalten und die rechte Zucht bewahren und üben. Denn allen, die in der Kirche zu Wächtern gesetzt sind, kündigt der Herr an, er werde, wenn einer durch ihre Nachlässigkeit in seiner Unwissenheit zugrunde gehe, sein Blut von ihren eigenen Händen fordern (Ez. 3,17f.). Auf sie alle bezieht sich auch, was Paulus von sich sagt: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte, wo mir seine Austeilung doch anbefohlen ist!“ (1. Kor. 9,16f.; Vers 17 nicht Luthertext). Kurzum, was die Apostel an dem ganzen Erdkreis geleistet haben, das soll jeder einzelne Hirt (Pastor) an seiner Herde tun, der er zugeordnet ist!
IV,3,7
Wenn wir den einzelnen Hirten (Pastoren) ihre besonderen Kirchen zuweisen, so leugnen wir freilich unterdessen nicht, daß der, der an eine Kirche gebunden ist, auch anderen Kirchen Beistand leisten kann, sei es, daß irgendwelche Wirrnisse vorkommen, die seine Anwesenheit erfordern, oder sei es auch, daß man in irgendeiner dunklen Frage seinen Rat erbittet. Aber zur Erhaltung des Friedens der Kirche ist jene Ordnung vonnöten, daß jeder klar umschrieben bekommt, was er zu
tun hat: es sollen doch nicht alle miteinander unruhig daherstürmen, ohne Berufung unsicher hin und her laufen, auch nicht alle auf gut Glück an einem Ort zusammenströmen, auch sollen die, die mehr um ihr Wohlsein als um die Erbauung der Kirche besorgt sind, die Kirchen nicht nach ihrem Vergnügen im Stich lassen! Deshalb muß nach Möglichkeit allgemein an der Einteilung festgehalten werden, daß sich jeder mit seinen Grenzen begnügen und nicht in ein fremdes Gebiet einbrechen soll.
Das ist auch kein Menschensündlein, sondern Gott hat es selber so eingerichtet. Denn wir lesen doch, daß Paulus und Barnabas in den einzelnen Kirchen zu Lystra, Antiochia und Ikonium Älteste eingesetzt haben (Apg. 14,22f.), und Paulus selber weist den Titus an, er solle „die Städte hin und her mit Ältesten besetzen“ (Tit. 1,5). So erwähnt er auch an anderer Stelle die Bischöfe der Philipper (Phil. 1,1) und wieder an anderer Stelle den Archippus, den Bischof der Kolosser (Kol. 4,17). Auch finden wir bei Lukas eine herrliche Rede von ihm, die er an die Ältesten der Gemeinde zu Ephesus richtete (Apg. 20,18ff.).
Wer also die Leitung einer einzelnen Kirche und die Fürsorge für sie in die Hand genommen hat, der soll wissen, daß er an dieses Gesetz der göttlichen Berufung gebunden ist. Das bedeutet nicht, daß er gleichsam „an die Scholle gebunden“ wäre - wie die Rechtsgelehrten sagen -, also ein Leibeigener sein müßte, oder daß er geradezu festgekettet wäre und keinen Fuß von der Stelle rühren könnte, wenn der öffentliche Nutzen es (auch) erfordern sollte - sofern das (letztere) nur nach Regel und Ordnung geschieht. Nein, der, der an einen bestimmten Ort berufen ist, darf nicht selbst über seinen Wegzug nachdenken, soll auch seine Befreiung vom Dienst nicht etwa so suchen, wie er es für sich für bequem hält. Und dann: wenn es einem von Nutzen ist, an einen anderen Ort versetzt zu werden, so darf er das doch nicht aus persönlicher Entschließung unternehmen, sondern er muß die (Regelung durch die) öffentliche Autorität abwarten.
IV,3,8
Daß ich übrigens die Männer, die die Kirchen zu leiten haben, ohne Unterschied als „Bischöfe“, „Älteste“, „Pastoren“ und „Diener“ bezeichnet habe, das habe ich zufolge des Sprachgebrauchs der Schrift getan, die diese Ausdrücke miteinander vermischt; denn sie erteilt allen, die den Dienst am Wort ausüben, den Titel „Bischof” zu. So geschieht es z.B. bei Paulus: eben hat er dem Titus die Weisung erteilt, hin und her in den Städten Älteste einzusetzen (Tit. 1,5), da fährt er gleich anschließend fort: „Denn ein Bischof soll untadelig sein ...” (Tit. 1,7). So grüßt er auch an anderer Stelle (Phil. 1,1) mehrere Bischöfe in einer Kirche. Und in der Apostelgeschichte wird berichtet, daß er die „Ältesten“ von Ephesus zusammenberufen habe (Apg. 20,17), die er doch selber in seiner Rede (Apg. 20,28) als „Bischöfe“ bezeichnet!
Hier ist aber nun zu bemerken, daß wir bisher ausschließlich diejenigen Amtsverpflichtungen aufgeführt haben, die im Dienst am Wort bestehen; andere hat auch Paulus im vierten Kapitel des Epheserbriefs, das wir anführten, nicht erwähnt. Im Brief an die Römer (Röm. 12,7f.) und im ersten Brief an die Korinther (1. Kor. 12,28) dagegen zählt er auch andere auf, so z.B. Machterweisungen (in Wundern), die Gabe, gesund zu machen, die Auslegung, die Leitung und die Fürsorge für die Armen. Unter diesen übergehe ich die, die bloß von zeitlicher Bedeutung gewesen sind; denn es ist nicht vonnöten, daß wir uns bei ihnen aufhalten. Es gibt aber zwei, die fortwährend bleiben, nämlich die Leitung und die Fürsorge für die Armen.
Die „Regierer“ (1. Kor. 12,28) sind nach meiner Ansicht Älteste gewesen, die aus dem Volke ausgewählt waren, um zusammen mit den Bischöfen die Aufsicht über den Lebenswandel zu führen und die Zucht zu üben. Denn wenn Paulus
sagt: „Regiert jemand, so sei er sorgfältig“ (Röm. 12,8), so kann man das nicht anders auslegen (als im obigen Sinne). Seit Anbeginn hatte also jede einzelne Kirche ihren Ältestenrat (senatus), der mit frommen, ernsten und heiligen Männern besetzt war; bei diesem lag auch die Gerichtsgewalt zur Besserung von Lastern (also: die „Sittenzucht“), von der wir hernach noch sprechen werden. Daß nun aber die Ordnung dieser Art nicht nur einem einzigen Jahrhundert zugehörte, das zeigt die Erfahrung selbst. Folglich ist also auch dies Amt der Leitung für alle Zeiten vonnöten.
IV,3,9
Die Fürsorge für die Armen war den „Diakonen“ aufgetragen. Allerdings treten im Römerbrief zwei Arten von Diakonen auf; Paulus sagt da: „Gibt jemand, so gebe er einfältig ... Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s mit Lust“ (Röm. 12,8). Da Paulus hier zweifellos von den öffentlichen Ämtern der Kirche redet, so muß es also zwei voneinander unterschiedene Rangstufen gegeben haben. Wenn mich mein Urteil nicht täuscht, so bezeichnet er im ersten Gliede solche Diakonen, die die Almosen verwalteten. Im zweiten Gliede meint er dann solche Diakonen, die sich der Fürsorge an den Armen und Kranken geweiht hatten; von dieser Art waren die Witwen, die er im (1.) Brief an Timotheus erwähnt (1. Tim. 5,10). Denn die Frauen konnten kein anderes öffentliches Amt übernehmen, als wenn sie sich dem Dienst an den Armen widmeten. Wenn wir uns dies nun zu eigen machen - und das sollen wir durchaus tun! -, so wird es also (auch bei uns) zweierlei Diakonen geben: die einen dienen der Kirche, indem sie die Angelegenheiten der Armen verwalten, die anderen, indem sie für die Armen selber sorgen. Obwohl nun der Ausdruck „Diakonie“ eine sehr weitgehende Bedeutung hat, bezeichnet die Schrift doch in besonderer Weise solche Leute als „Diakonen“, die die Kirche als Vorsteher bei der Verteilung der Almosen und der Fürsorge für die Armen einsetzt und gleichsam zu Verwaltern des öffentlichen Armenvermögens bestellt. Ursprung, Einweisung und Amtsaufgabe dieser Diakonen werden von Lukas in der Apostelgeschichte beschrieben (Apg. 6,3). Als sich nämlich „ein Murmeln unter den Griechen erhoben hatte“, weil ihre Witwen bei dem Dienst an den Armen „übersehen“ würden, da entschuldigten sich die Apostel, daß sie dem doppelten Amt, der Predigt des Wortes und dem „Dienst zu Tische“, nicht Genüge zu tun vermöchten, und sie baten die Menge, man solle sieben rechtschaffene Männer erwählen, denen sie diesen Dienst auftragen konnten (Apg. 6,1ff.). Da sehen wir, was für Diakonen die apostolische Kirche gehabt hat und was für welche wir nach ihrem Vorbild auch haben sollten.
IV,3,10
Obwohl nun in der heiligen Versammlung alles „ehrbar und ordentlich zugehen“ soll (1. Kor. 14,40), so muß dies doch bei nichts sorgsamer festgehalten werden als bei der Einsetzung der (Kirchen-)Leitung; denn nirgends besteht größere Gefahr, wenn etwas unordentlich zustande kommt. Damit sich nun also unruhige und aufrührerische Menschen nicht ohne Grund eindrängen, um zu lehren oder zu regieren - was sonst geschehen würde -, so ist ausdrücklich verboten, daß sich jemand ohne Berufung ein öffentliches Amt in der Kirche aneignet. Will also jemand als wahrer Diener der Kirche angesehen werden, so muß er zuerst rechtmäßig berufen (rite vocatus) sein, ferner muß er aber auch seiner Berufung entsprechen, das heißt: er muß die ihm übertragenen Aufgaben anfassen und ausführen. Das läßt sich bei Paulus öfters beobachten: wenn er sein Apostelamt beweisen will, so führt er neben seiner Treue in der Amtsausübung fast stets auch seine Berufung an. Wenn sich ein so hervorragender Diener Christi nur deshalb die Autorität anzumaßen wagt, in der Kirche gehört zu werden, weil er durch den Auftrag des Herrn dazu bestellt ist, und wenn er nun treulich ausführt, was ihm aufgetragen ist, was ist es dann für eine Schamlosigkeit, wenn irgendein Sterblicher, dem dies beides oder eines von beiden
abgeht, eine solche Ehre für sich verlangt! Aber weil wie über die Notwendigkeit, das (aufgetragene) Amt auf sich zu nehmen, schon oben kurz gesprochen haben, so wollen wir jetzt nur über die Berufung eine Erörterung anstellen.
IV,3,11
Die Behandlung der Berufung hat sich nun mit vier Fragen zu beschäftigen; wir müssen wissen, (1.) was für Leute zu Dienern (der Kirche) bestellt werden sollen, (2.) auf welche Weise das geschehen muß, (3.) wer die Einsetzung zu vollziehen hat und (4.) nach welchem Brauch und mit welcher Zeremonie die Einführung geschehen soll.
Ich spreche dabei von der äußeren und feierlichen Berufung, die es mit der öffentlichen Ordnung der Kirche zu tun hat; jene verborgene Berufung dagegen, deren sich jeder Diener vor Gott bewußt ist, zu deren Zeugen er aber die Kirche nicht hat, übergehe ich. Diese verborgene Berufung ist das gute Zeugnis unseres Herzens, daß wir weder aus Ehrgeiz noch aus Habsucht, noch aus irgendwelcher anderen Begierde, sondern aus aufrichtiger Gottesfurcht und aus dem Eifer um die Auferbauung der Kirche heraus das uns angebotene Amt annehmen. Das ist, wie ich sagte, für jeden einzelnen von uns notwendig, wenn wir wollen, daß unser Dienst Gott wohlgefällig sei.
Vor dem Angesicht der Kirche ist aber trotzdem auch der rechtmäßig berufen, der mit schlechtem Gewissen an sein Amt herangegangen ist, sofern nur seine Schlechtigkeit nicht offen zutage getreten ist. Man pflegt auch von amtlosen Leuten zu sagen, sie seien zum Dienst berufen, wenn man nämlich sieht, daß sie geeignet und fähig sind, dies Amt zu bekleiden, und zwar, weil die Bildung, wenn sie mit der Frömmigkeit und den anderen Gaben eines guten Hirten (Pastors) verbunden ist, eine gewisse Vorbereitung auf das Amt darstellt. Denn die Menschen, die der Herr zu einer so großen Aufgabe bestimmt hat, die rüstet er zunächst mit den Waffen aus, die erforderlich sind, um sie zu erfüllen, damit sie nicht leer und unvorbereitet kommen. Daher hat auch Paulus im (ersten) Brief an die Korinther, als er von den Amtspflichten selber sprechen wollte, zunächst die Gaben aufgezählt, mit denen die, die solche Amtspflichten ausüben, ausgerüstet sein müssen (1. Kor. 12,7-11). Aber weil dies bereits das erste von den vier Hauptstücken ist, die ich oben aufgestellt habe, so wollen wir jetzt weiter davon reden.
IV,3,12
Was für Leute man zu Bischöfen erwählen soll, das setzt Paulus an zwei Stellen gründlich auseinander (Tit. 1,7f.; 1. Tim. 3,1-7). Die Hauptsache ist dabei folgendes: es sollen nur solche erwählt werden, die von gesunder Lehre und heiligem Lebenswandel sind, und an denen keinerlei Gebrechen erkennbar ist, das ihnen die Autorität rauben und dem Amte Schande bringen könnte. Mit den Diakonen und Ältesten ist es ganz ähnlich bestellt (1. Tim. 3,8-13). Man muß immer darauf sehen, daß sie nicht unfähig oder ungeeignet sind, die Last zu tragen, die ihnen auferlegt wird, das heißt, daß sie mit den Fähigkeiten ausgestattet sind, die dazu notwendig sein werden, ihr Amt auszufüllen. So hat auch Christus die Apostel, als er sie aussenden wollte, mit den Waffen und Werkzeugen ausgerüstet, die sie nicht entbehren konnten (Luk. 21,15; 24,49; Mark. 16,15-18; Apg. 1,8). Und nachdem Paulus das Bild eines guten und wahren Bischofs gezeichnet hat, ermahnt er den Timotheus, er solle keinen zum Bischof erwählen, der diesem Bilde nicht entspräche, und sich damit nicht selber beflecken (1. Tim. 5,22).
Die zweite Frage war, auf welche Weise man die Diener der Kirche einsetzen solle. Das beziehe ich nun aber nicht auf das Verfahren bei der Erwählung, sondern auf den gottesfürchtigen Ernst, der dabei zu wahren ist. Daher kommt das Fasten und Beten, das nach dem Bericht des Lukas die Gläubigen geübt haben, wenn sie Älteste einsetzten (Apg. 14,23). Denn sie sahen ein, daß
sie ein Werk von höchstem Ernst verrichteten, und deshalb wagten sie nur mit tiefster Ehrfurcht und Sorgfalt, etwas zu unternehmen, vor allem aber übten sie eifriges Gebet, um den Geist des Rates und der Unterscheidung von Gott zu erflehen.
IV,3,13
Die dritte Frage in der oben aufgestellten Einteilung war die, von wem die Diener der Kirche erwählt werden sollten.
Hierfür läßt sich nun aus der Einsetzung der Apostel keine sichere Regel entnehmen; denn diese hatte einen von der gewöhnlichen Berufung der übrigen wesentlich verschiedenen Charakter. Denn es war ja ein außerordentliches Amt, und deshalb mußten seine Träger durch den Mund des Herrn selber berufen und eingesetzt werden, damit dieses Amt durch ein besonders herrliches Kennzeichen sichtbar gemacht wurde. Die Apostel waren also mit keinerlei menschlicher Erwählung, sondern allein mit dem Auftrag Gottes und Christi ausgerüstet, als sie sich an ihr Werk machten. Daher kommt es auch, daß die Apostel, als sie einen anderen Apostel an die Stelle des Judas setzen wollen, nicht etwa wagen, einen einzelnen bestimmt zu ernennen, sondern zwei in ihre Mitte stellen, damit der Herr durch das Los bekanntgebe, welcher von ihnen nach seinem Willen jenen Platz einnehmen solle (Apg. 1,23-26). In diesem Sinne muß man es auch verstehen, daß Paulus erklärt, er sei „nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen“ zum Apostel bestellt worden, sondern von Christus und von Gott, dem Vater (Gal. 1,1.12). Das erste nämlich: „nicht von Menschen“ - das hatte Paulus mit allen frommen Dienern am Wort gemeinsam. Denn es hat nie jemand diesen Dienst recht ausüben können, ohne von Gott dazu berufen zu sein. Das zweite dagegen kam einzig und als etwas Besonderes dem Apostel zu. Wenn er sich dessen also rühmt, so erhebt er nicht nur den Anspruch, das zu besitzen, was ein wahrer und rechtmäßiger Hirte (der Kirche) haben muß, sondern er weist auch die Kennzeichen seines Apostelamtes vor. Denn es gab ja bei den Galatern Leute, die sich bemühten, seine Autorität zu verkleinern und ihn deshalb für einen gewöhnlichen Jünger erklärten, den die ursprünglichen Apostel hinzugewählt hätten. Um nun seiner Predigt die ihr zustehende Würde, gegen die sich nach seiner Kenntnis jene Nachstellungen richteten, unverkürzt zu erhalten, hielt er es für erforderlich, zu zeigen, daß er den übrigen Aposteln in keiner Hinsicht irgendwie nachstand. Deshalb versichert er, daß er nicht, wie ein gewöhnlicher Bischof, durch das Urteil von Menschen erwählt worden ist, sondern durch den Mund und das deutliche Offenbarungswort des Herrn selber.
IV,3,14
Daß es aber durchaus nach der Ordnung einer rechtmäßigen Berufung zugeht, wenn die Bischöfe durch Menschen ernannt werden, das wird kein vernünftiger Mensch leugnen; denn es sind in dieser Sache gar viele Zeugnisse der Schrift vorhanden. Dem widerspricht auch, wie gesagt, nicht das Zeugnis des Paulus, nach welchem er „nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen“ gesandt worden ist (Gal. 1,1); denn er spricht an dieser Stelle nicht von der ordentlichen Erwählung der Diener (der Kirche), sondern schreibt sich das zu, was den Aposteln besonders zukam. Freilich: obwohl der Herr den Paulus von sich aus kraft eines besonderen Vorrechts bestimmte, so hat er es doch auch bei ihm so gehalten, daß er sich zugleich der Ordnung kirchlicher Berufung bediente. Denn Lukas berichtet: „Da aber die Apostel fasteten und beteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir aus Paulus und Barnabas zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe“ (Apg. 13,2; ungenau). Wozu diente nun diese Aussonderung und Handauflegung, nachdem doch der Heilige Geist die von ihm ausgehende Erwählung bereits bezeugt hatte? Doch nur zur Wahrung der kirchlichen Ordnung, kraft deren die Diener (der Kirche) durch Menschen bestimmt werden! Gott hätte also eine solche Ordnung durch keinen klareren Beweis bekräftigen können, als indem er den Paulus, von dem er doch schon zuvor gesagt hatte, er habe ihn den Heiden zum Apostel bestimmt, trotzdem auch von der Kirche erwählt sein lassen wollte. Das gleiche kann man auch aus der Erwählung des
Matthias sehen (Apg. 1,23). Denn weil das Amt eines Apostels von solch hoher Bedeutung war, daß sie es nicht wagten, nach ihrem Urteil einen einzelnen in diese Rangstufe mit aufzunehmen, so stellten sie zwei in die Mitte, auf deren einen das Los fallen sollte. Das geschah, damit auf diese Weise die Erwählung ein merkliches Zeugnis vom Himmel her empfing, zugleich aber doch die Ordnung der Kirche durchaus nicht übergangen wurde.
IV,3,15
Es ist nun die Frage, ob der Diener von der ganzen Kirche gewählt werden soll oder bloß von seinen Amtsgenossen und von den Ältesten, die die Zucht zu üben haben, oder aber, ob er auch kraft der Autorität eines einzelnen eingesetzt werden kann.
Manche übertragen tatsächlich dieses Recht auf einen einzelnen Menschen und ziehen dazu das Wort des Paulus an Titus heran: „Derhalben ließ ich dich in Kreta, daß du solltest ... besetzen die Städte hin und her mit Ältesten ...” (Tit. 1,5). Oder ebenso das Wort an Timotheus: „Die Hände lege niemand zu bald auf“ (1. Tim. 5,22). Jene Leute täuschen sich aber, wenn sie meinen, Timotheus habe in Ephesus oder Titus auf Kreta eine Regierungsgewalt ausgeübt, so daß sie also beide nach ihrem Gutdünken alles bestimmt hätten. Denn ihre Vorsteherschaft hatte nur den Zweck, daß sie dem Volke mit guten und heilsamen Ratschlägen vorangingen, nicht aber, daß sie allein, unter Ausschluß aller anderen, durchführten, was ihnen gefiel.
Damit nun nicht der Eindruck entsteht, als ob ich mir hier selber etwas ausdächte, so will ich meine Darlegung mit einem ähnlichen Beispiel deutlich machen. Lukas berichtet von Paulus und Barnabas: „Und sie ordneten ihnen hin und her Älteste in den Gemeinden“ (Apg. 14,23); aber er bezeichnet zugleich auch die Art und Weise oder das Verfahren, indem er nämlich sagt, das sei durch eine Stimmabgabe geschehen (vgl. Urtext, Apg. 14,23). Er sagt nämlich: „Mit Aufrecken der Hände wählten sie... für jede Kirche Älteste“ (wörtlich; ausgelassen ist: „ihnen“). Es war also so: Paulus und Barnabas selbst wählten zwei Männer, die ganze Menge aber bezeugte, wie das die Griechen bei Wahlen gewohnt waren, mit aufgehobener Hand, welchen (von den beiden) sie haben wollte. Die römischen Geschichtsschreiber drücken sich nämlich nicht selten so aus, der Konsul, der eine Volksversammlung gehalten habe, habe neue Amtspersonen „gewählt“, und diesen Ausdruck verwenden sie nur aus dem einen Grunde, daß er eben die abgegebenen Stimmen in Empfang genommen und das Volk bei der Wahlhandlung geleitet hat.
Nun ist es aber sicherlich nicht glaubhaft, daß Paulus dem Timotheus und dem Titus mehr zugestanden hätte, als er sich selber an Rechten genommen hat. Wir sehen aber, daß er die Gewohnheit hatte, die Bischöfe auf Grund der Stimmabgabe des Volkes zu wählen. Die oben genannten Stellen sind also dergestalt aufzufassen, daß sie dem allgemeinen Recht und der Freiheit der Kirche keinen Abbruch tun. Sehr treffend ist es daher, wenn Cyprian behauptet, es sei aus Gottes Autorität herzuleiten, daß der Priester in Gegenwart des Volkes vor aller Augen erwählt und durch öffentliches Urteil und Zeugnis als würdig und geeignet bestätigt werde (Brief 67). Wir sehen ja auch, daß man es bei den levitischen Priestern auf Weisung des Herrn so gehalten hat, daß sie vor ihrer Weihe dem Volke vor Augen gestellt wurden (Lev. S,4-6; Num. 20,2s. 27). Auch die Einreihung des Matthias in die Amtsgenoffenschaft der Apostel und ebenso die Wahl der sieben Diakonen geschah nicht anders als im Beisein und unter Billigung des Volkes (Apg. ),15 ff.; b,2-7). „Diese Beispiele“, sagt Cyprian, „zeigen, daß die Ordination eines Priesters nur unter Mitwiffen des anwesenden Volkes geschehen soll, damit die Ordination recht und rechtmäßig erfolgt, weil sie vor dem Zeugnis aller eine Prüfung durchgemacht hat“ (Brief 67).
Es ergibt sich also: nach Gottes Wort rechtmäßig ist die Berufung eines Dieners da, wo auf Grund der einhelligen Meinung und der Billigung des Volkes diejenigen gewählt werden, die als geeignet erschienen sind. Die Leitung aber bei der Wahl sollen andere Pastoren innehaben, damit die Menge sich nicht etwa durch Leichtfertigkeit, üble Treibereien oder auch durch Aufruhr versündigt.
IV,3,16
Jetzt ist noch das Verfahren bei der Ordination übrig, dem wir bei der (Besprechung der) Berufung den letzten Platz gegeben haben. Es steht nun fest, daß die Apostel, wenn sie jemanden in ein Amt einsetzten, keine andere Zeremonie angewandt haben als die Handauflegung. Dieser (gottesdienstliche) Brauch ist nach meiner Meinung von der Sitte der Hebräer hergekommen: wenn diese etwas gesegnet oder geweiht haben wollten, so stellten sie es durch Auflegung der Hände gleichsam Gott dar. So legte Jakob dem Ephraim und dem Manasse, als er sie segnen wollte, die Hände aufs Haupt (Gen. 48,14). Diesem Brauch hat sich auch unser Herr angeschlossen, als er über den Kindlein betete (Matth. 19,15). Nach meiner Ansicht hatte es die gleiche Bedeutung, wenn die Juden auf Grund der Vorschrift des Gesetzes ihren Opfern die Hand auflegten. Die Apostel deuteten also durch die Handauflegung an, daß sie den, den sie in sein Amt einwiesen, Gott zum Opfer darbrachten. Freilich haben sie die Handauflegung auch an denen geübt, denen sie sichtbare Gnadengaben des Heiligen Geistes zuteil werden ließen (Apg. 19,6). Wie dem nun auch sei - dies war jedenfalls der allgemein übliche Brauch, wenn sie jemanden in ein kirchliches Amt beriefen. In dieser Weise haben sie die Hirten und Lehrer, aber auch die Diakonen (zu ihrem Amt) geheiligt. Allerdings besteht nun kein klares Gebot hinsichtlich der Handauflegung, aber wir sehen doch, daß sie bei den Aposteln in fortwährendem Gebrauch war, und die Tatsache, daß sie diesen Brauch so gründlich innehielten, soll für uns doch soviel gelten wie ein Gebot. Es ist auch sicherlich von Nutzen, daß durch ein derartiges Merkzeichen einerseits dem Volke die Würde des Amtes ans Herz gelegt, andererseits aber auch der, der ordiniert werden soll, daran gemahnt wird, daß er jetzt nicht mehr sein eigener Herr ist, sondern Gott und der Kirche zu Dienste gegeben. Außerdem wird es auch kein leeres Zeichen sein, wenn es nur zu seinem reinen, ursprünglichen Sinn zurückgeführt wird. Denn weil der Geist Gottes in der Kirche nichts umsonst eingerichtet hat, so werden wir auch von dieser Zeremonie, die doch von ihm ausgegangen ist, die Erfahrung machen, daß sie nicht ohne Nutzen bleibt, wofern sie nur nicht in einen abergläubischen Mißbrauch verkehrt wird. Schließlich müssen wir noch wissen, daß nicht etwa die ganze Menge ihren Dienern die Hände aufgelegt hat, sondern allein die Hirten (der Kirche). Allerdings ist es ungewiß, ob die Handauflegung immer durch mehrere geschah oder nicht. Sicher ist aber, daß es bei den Diakonen, bei Paulus und Barnabas und bei einigen wenigen anderen so gemacht worden ist (Apg. 6,6; 13,3). Andererseits erwähnt Paulus an anderer Stelle, daß er dem Timotheus die Hände aufgelegt habe, nicht aber mehrere andere. Er sagt: „Um solcher Ursache willen erinnere ich dich, daß du erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände“ (2. Tim. 1,6). Denn was wir in dem anderen Brief von der Handauflegung des „Presbyteriums“ lesen (1. Tim. 4,14), das verstehe ich nicht so, als ob Paulus von der Amtsgenossenschaft der Ältesten (also von unserem „Presbyterium“) spräche, sondern ich fasse es so auf, daß dieser Ausdruck die Ordination selber (als Vorgang) meint (Übersetzung der Stelle also etwa: „durch die Handauflegung, die zum Ältestenamt gehört“); es ist also, als ob Paulus sagte: Sorge dafür, daß die Gnade, die du durch die Auflegung der Hände empfangen hast, als ich dich zum Ältesten einsetzte, nicht wirkungslos sei.
Viertes Kapitel
Vom Zustand der Alten Kirche und von der Regierungsweise, die vor dem Papsttum in Übung stand
IV,4,1
Bisher ging unsere Erörterung um die Ordnung des Kirchenregiments, wie sie uns aus Gottes reinem Wort überliefert ist, und um die Dienstämter, wie sie von Christus eingesetzt sind. Damit uns nun das alles klarer und vertrauter sichtbar wird und sich auch besser in unserem Herzen festsetzt, wird es von Nutzen sein, in diesen Dingen die Gestalt der Alten Kirche näher zu betrachten, die uns gewissermaßen ein Bild der göttlichen Einsetzung vor Augen stellen wird. Freilich haben die Bischöfe jener Zeiten viele Kirchensatzungen ausgehen lassen, in denen sie mehr zum Ausdruck zu bringen scheinen, als es in der Heiligen Schrift geschehen ist. Aber sie haben ihre ganze Regierungsweise doch mit solcher Vorsicht nach jener einzigen Richtschnur des Wortes Gottes eingerichtet, daß man leicht sehen kann, wie sie in dieser Hinsicht fast nichts gehabt haben, was Gottes Wort fremd wäre. Aber selbst wenn in ihren Einrichtungen noch einiges zu wünschen übrig sein könnte, so haben sie sich doch in aufrichtigem Bemühen angestrengt, Gottes Einsetzung zu wahren, und sie sind auch nicht viel von ihr abgeirrt; deshalb wird es also sehr förderlich sein, hier kurz durchzugehen, was das denn für eine Ordnung war, die sie so gewissenhaft eingehalten haben.
Wie wir nun oben dargelegt haben, daß uns in der Schrift drei Arten von Dienern (der Kirche) anbefohlen werden, so hat auch die Alte Kirche alles, was sie an Dienern besaß, in drei Ordnungen eingeteilt. Aus der Ordnung der Presbyter („Priester“) wurden nämlich teils (1.) die Hirten und Lehrer erwählt; der übrige Teil hatte (2.) die Leitung bei der Aufsicht über den Lebenswandel und bei der Zuchtübung; (3.) den Diakonen war die Fürsorge für die Armen und die Verteilung der Almosen anvertraut.
Die Bezeichnungen „Lektor“ und „Akoluth“ aber bezogen sich nicht auf bestimmte Amtsaufgaben. Es war vielmehr so: die Leute, die man „Kleriker“ nannte, gewöhnte man von Jugend auf durch bestimmte Übungen an den Dienst der Kirche, damit sie besser erkannten, wozu sie bestimmt waren, und damit sie zu gegebener Zeit desto gründlicher vorbereitet an ihre Amtspflichten herantreten konnten. Das werde ich bald noch eingehender darlegen.
Demzufolge zählt Hieronymus, nachdem er das Bestehen von fünf Ordnungen in der Kirche behauptet hat, folgende auf: Bischöfe, Presbyter („Priester“), Diakonen, Gläubige und Katechumenen; dem übrigen „Klerus“ und den Mönchen weist er keinen eigenen Platz an (Zu Jesaja 19,13).
IV,4,2
Man bezeichnete also alle, denen das Lehramt aufgetragen war, als Presbyter („Priester“). Diese wählten nun aus ihrer Zahl in jeder Stadt einen aus, dem sie besonders den Titel „Bischof“ gaben. Das geschah, damit nicht, wie das gewöhnlich eintritt, aus der Gleichheit (im Rang) ein Zwiespalt erwüchse. Aber der Bischof hatte nicht einen solchen Vorrang an Ehre und Würde, daß er etwa über seine Amtsgenossen die Herrschaft ausgeübt hätte. Er führte vielmehr in der Versammlung der Presbyter ein Amt, das den Aufgaben des Vorstehers (consul) im Rat (senatus) entsprach: der soll bekanntlich über die Geschäfte berichten, die Meinung der anderen erfragen, ihnen mit Rat, Ermahnung und Ermunterung vorangehen, mit seiner Autorität die ganze Verhandlung leiten und schließlich ausführen, was im gemeinen Rat beschlossen ist.
Auch geben die Alten selber zu, daß diese Regelung nach den Erfordernissen der Zeit durch menschliches Übereinkommen eingeführt worden ist. So sagt Hieronymus in seiner Auslegung des Titusbriefs: „Zwischen Presbyter und Bischof besteht kein Unterschied; und bevor auf Eingeben des Teufels in der Religion Zwiespältigkeiten entstanden, so daß man im Volke sagte: ‚Ich bin paulisch’ oder: ‚Ich bin kephisch’ (1. Kor. 1,12), wurden die Kirchen durch gemeinsame Beratung der Presbyter regiert“ (Zu Kap. 1). „Später hat man dann, um alle Keime der Uneinigkeit auszureißen, alle Sorge auf einen übertragen. Wie also die Presbyter wissen, daß sie der Gewohnheit der Kirche zufolge dem unterworfen sind, der die Leitung hat, so müssen auch die Bischöfe wissen, daß ihr Vorrang über die Presbyter und ihre Verpflichtung, mit ihnen zusammen die Kirche zu leiten, mehr aus der Gewohnheit als aus der Wahrheit der Anordnung des Herrn erwachsen ist.“ (Ebenda).
An anderer Stelle aber legt er doch dar, daß diese Regelung schon althergebracht sei; er sagt nämlich, in Alexandria hätten die Presbyter von dem Evangelisten Markus an bis auf Herakles und Dionysius stets einen aus ihrer Mitte erwählt und ihm eine höhere Rangstufe gegeben, und diesen hätten sie „Bischof“ genannt (Brief 146, an Euangelus bzw. Euagrius).
Jede einzelne Stadt besaß also ein Kollegium von Presbytern, die „Hirten“ und „Lehrer“ waren. Denn sie übten alle an dem Volke das Amt der Lehre, der Ermahnung und der Zucht, das Paulus den Bischöfen auferlegt (Tit. 1,9), und, damit sie Samen hinterließen, gaben sie sich auch Mühe, die Jüngeren, die sich dem heiligen Kriegsdienst verschrieben hatten, zu erziehen.
Jeder einzelnen Stadt war nun ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, das aus ihr seine Presbyter entnahm und gleichsam zu dem Leibe jener Kirche zugerechnet wurde. Die einzelnen Kollegien waren, wie gesagt, zur Wahrung der Ordnung und des Friedens einem einzigen Bischof unterstellt; dieser hatte zwar nach der Würde den Vorrang vor den anderen, aber doch so, daß er der Versammlung der Brüder unterworfen war. Wenn nun das Gebiet, das unter seinem Bistum stand, zu groß war, als daß er allenthalben allen Berufspflichten eines Bischofs genügen konnte, so wurden über dies Gebiet hin an bestimmten Orten Presbyter bestellt, die bei weniger wichtigen Geschäften die Vertretung des Bischofs wahrnehmen sollten. Diese nannte man „Landbischöfe” (Chorepiscopi), weil sie für jenen Landstrich den Bischof darstellten.
IV,4,3
Was nun die Amtspflicht betrifft, von der wir jetzt sprechen, so mußten der Bischof wie auch die Presbyter der Austeilung des Wortes und der Sakramente obliegen. Denn nur in Alexandria bestand, wie uns Sokrates im neunten Buche der „Historia tripartita“ berichtet, die Regelung, daß der Presbyter keine Predigt an das Volk halten durfte; dort hatte ja Arius die Kirche in Verwirrung gebracht. Trotzdem verhehlt Hieronymus nicht, daß ihm diese Maßnahme mißfällt (Brief 52). Jedenfalls hätte man es für etwas Ungeheuerliches gehalten, wenn sich jemand als Bischof ausgegeben hätte, ohne sich auch mit der Tat als wahrer Bischof zu erweisen. Es bestand also zu jenen Zeiten eine solche Strenge, daß man alle Diener der Kirche nötigte, ihre Amtsaufgaben so zu erfüllen, wie es der Herr von ihnen fordert. Auch berichte ich hier nicht allein von der Gewohnheit eines einzigen Zeitalters; denn nicht einmal zur Zeit (Papst) Gregors (I.), als die Kirche schon beinahe verfallen oder jedenfalls von ihrer vorigen Reinheit wesentlich entartet war, wäre es erträglich gewesen, daß sich ein Bischof der Predigt enthielt. Er sagt selber an einer Stelle: „Ein Priester stirbt, wenn man von ihm keinen Klang vernimmt; denn er fordert den Zorn des verborgenen Richters gegen sich
heraus, wenn er ohne den Klang der Predigt einhergeht” (Brief 24). Und an anderer Stelle heißt es bei ihm: „Wenn Paulus bezeugt, er sei ‚rein von aller Blut’ (Apg. 20,26), so werden in diesem Worte wir überführt, wir gebunden und für schuldig erklärt, die wir Priester heißen, die wir zu den Übeltaten, die wir für uns selber haben, auch noch den Tod anderer zufügen; denn wir morden soviel Menschen, wie wir Tag für Tag lau und schweigend zum Tode wandern sehen“ (Predigten über Ezechiel, XI,10). „Schweigend“ nennt er sich und andere, weil sie weniger eifrig am Werk wären, als es sein sollte. Wenn er nicht einmal die schont, die ihre Amtspflicht nur halb erfüllten, was würde er dann wohl getan haben, wenn sie jemand ganz unterließe? Lange Zeit hatte es also in der Kirche Geltung, daß die erste Aufgabe des Bischofs darin bestünde, das Volk mit dem Worte Gottes zu nähren und die Kirche öffentlich und in Sonderheit mit gesunder Lehre zu erbauen.
IV,4,4
Daß aber jede Provinz unter ihren Bischöfen einen Erzbischof hatte, daß ebenso auf der Synode von Nicäa Patriarchen eingesetzt wurden, die den Erzbischöfen an Rang und Würde überlegen sein sollten, das diente zur Aufrechterhaltung der Zucht. Allerdings kann man bei dieser Erörterung nicht übergehen, daß man diese Regelung sehr selten angewandt hat. Jene Rangstufen sind vor allem aus folgendem Grunde eingerichtet worden: wenn in irgendeiner Kirche etwas vorkam, was nicht gut von wenigen in Ordnung gebracht werden konnte, so sollte es vor die Provinzialsynode gebracht werden können; erforderte der Umfang oder die Schwierigkeit der Angelegenheit auch noch eine weitergehende Verhandlung, so wurden die Patriarchen in Gemeinschaft mit den Synoden zugezogen, von welchen dann nur noch eine Berufung an ein allgemeines Konzil möglich war.
Die so geregelte Regierungsweise haben einige als „Hierarchie“ bezeichnet: das ist nach meiner Ansicht ein unpassender, jedenfalls der Schrift ungewohnter Name. Denn der Heilige Geist hat verhüten wollen, daß sich jemand, wenn es um die Regierung der Kirche geht, eine Obergewalt oder eine Herrschaft erträumt. Wenn wir aber die Bezeichnung weglassen und allein die Sache anschauen, so werden wir finden, daß sich die Bischöfe der Alten Kirche keine Gestalt der Kirchenleitung haben erdenken wollen, die anders gewesen wäre als die, welche Gott in seinem Worte vorgeschrieben hat.
IV,4,5
Auch mit den Diakonen war es damals nicht anders bestellt als unter den Aposteln. Sie nahmen nämlich die täglichen Gaben der Gläubigen und die jährlichen Einkünfte der Kirche ein, um sie dem rechten Gebrauch zuzuführen, das heißt: um sie teils zur Unterhaltung der Diener, teils zum Unterhalt der Armen zu verteilen. Das geschah aber nach dem Ermessen des Bischofs, dem sie auch alle Jahre über ihre Verwaltung Rechenschaft ablegten. Die kirchlichen Rechtssatzungen erklären zwar den Bischof allenthalben für den Verteiler aller Güter der Kirche. Aber das ist nun nicht so aufzufassen, als ob er selber von sich aus dafür Sorge getragen hätte. Es ist vielmehr so ausgedrückt, weil es seine Aufgabe war, dem Diakon vorzuschreiben, wer in die öffentliche Unterhaltung durch die Kirche aufgenommen werden sollte, ferner: an wen das vergeben werden sollte, was übrig war, und wieviel jeder davon erhalten sollte, - und weil er die Aufsicht darüber hatte, ob der Diakon getreulich ausführte, was seine Amtspflicht erforderte. Denn in den Rechtssatzungen (Canones), die man den Aposteln zuschreibt, steht zu lesen: „Wir gebieten, daß der Bischof den Besitz der Kirche in seiner Gewalt habe. Denn wenn ihm die Seelen der Menschen anvertraut sind, die doch kostbarer sind (als der Besitz), so gehört es sich noch viel mehr, daß er für die Gelder Sorge trage. Es soll also mit seiner Vollmacht alles durch die Presbyter und Diakonen an die Armen ausgeteilt werden, damit es mit Furcht und aller Sorgfalt verwaltet werde“ (Canones Apostolici 40). Und auf dem Konzil von Antiochia (341) wurde beschlossen, die Bischöfe, die
ohne Mitwissen der Presbyter und Diakonen den Besitz der Kirche verwalteten, sollten in ihre Grenzen zurückgewiesen werden (Kap. 25). Aber eine längere Erörterung über diesen Punkt erübrigt sich, da aus sehr vielen Briefen des Gregor mit Sicherheit hervorgeht, daß auch noch zu jener Zeit, als sonst die kirchlichen Ordnungen bereits reichlich verdorben waren, die gründlich beobachtete Sitte fortdauerte, daß die Diakonen unter Leitung des Bischofs die Verwalter für die Armen waren.
Die Subdiakonen sind ursprünglich wahrscheinlich den Diakonen beigegeben worden, damit diese ihre Hilfe im Dienst an den Armen in Anspruch nehmen sollten. Aber diese Unterscheidung ist allmählich verwischt worden.
Archidiakonen aber begann man zu bestellen, als der Umfang des Vermögens eine neue und gründlichere Art der Verwaltung erforderte. Allerdings erwähnt Hieronymus, daß dies schon zu seiner Zeit geschehen sei (Brief 146 an Euangelus bzw. Euagrius). Bei den Archidiakonen lag nun die oberste Verwaltung der Einkünfte, des Besitzes, der Hauseinrichtung und der täglichen Gaben. Daher kündigt Gregor dem Archidiakon von Salona an, daß man ihn selber dafür verantwortlich machen werde, wenn etwas von den Gütern der Kirche durch Nachlässigkeit oder durch jemandes Betrug in Verlust geriete (Brief I,10). Daß man ihnen aber die Lesung des Evangeliums vor dem Volke und die Ermahnung zum Gebet übertrug und daß sie ebenso bei der Feier des Heiligen Abendmahles zur Darreichung des Kelches herangezogen wurden, das geschah, um ihr Amt zu zieren, damit sie es mit um so größerer Ehrfurcht wahrnähmen: sie wurden eben durch solche Merkzeichen daran gemahnt, daß ihre Tätigkeit nicht irgendeine weltliche Verwaltung darstellte, sondern eine geistliche, Gott geheiligte Amtsaufgabe.
IV,4,6
Hieraus läßt sich auch ein Urteil darüber gewinnen, welchen Gebrauch man von den kirchlichen Gütern machte und wie man sie austeilte. Immer wieder wird man in den Beschlüssen der Synoden wie auch bei den alten Schriftstellern (den Grundsatz vertreten) finden, alles, was die Kirche an Grund und Boden oder an Geld in Besitz habe, sei das Vermögen der Armen. Deshalb wird in jenen Dokumenten je und dann den Bischöfen und Diakonen das Liedlein gesungen, sie sollten bedenken, daß sie nicht ihren eigenen Besitz verwalteten, sondern den, der für die Notdurft der Armen bestimmt sei, und wenn sie diesen nun in Untreue verschwinden ließen oder verschleuderten, so würden sie eine Blutschuld auf sich laden, von da aus werden sie dann ermahnt, diesen Besitz mit großem Zittern und höchster Ehrfurcht, gleichsam vor dem Angesicht Gottes, ohne Ansehen der Person an die zu verteilen, denen er zukomme. Daher rühren auch jene ernsten Beteuerungen bei Chrysostomus, Ambrosius, Augustin und anderen Bischöfen ihrer Art, mit denen sie ihre Lauterkeit vor dem Volke versichern.
Da es nun aber recht und billig und auch vom Gesetz des Herrn so verordnet ist, daß die, die der Kirche ihren Dienst weihen, auch aus öffentlichen Mitteln der Kirche unterhalten werden, und da es zu jener Zeit zudem auch einige Presbyter gab, die Gott ihr Vermögen geweiht hatten und darüber freiwillig zu Armen geworden waren, so geschah die Verteilung dergestalt, daß es den Dienern nicht an Unterhalt fehlte, zugleich aber die Armen nicht vernachlässigt wurden. Trotzdem hütete man sich unterdessen, daß nicht die Diener selber, die doch den anderen ein Vorbild der Genügsamkeit bieten sollen, soviel hatten, daß sie ihre Einkünfte zu Üppigkeit und Vergnügen mißbrauchen konnten; sie sollten vielmehr nur soviel bekommen, daß sie damit ihrer Notdurft Genüge leisten konnten. „Denn die Kleriker, die von ihrem elterlichen Vermögen bestehen können“, sagt Hieronymus, „die begehen, wenn sie etwas annehmen, was den Armen zukommt, eine Heiligtumsschändung und essen und trinken sich durch solchen Mißbrauch selbst das Gericht zu“ (Aus dem Decretum Gratiani II,1,2,6).
IV,4,7
Ursprünglich war die Verwaltung (des Kirchenvermögens) frei und freiwillig, da die Bischöfe und Diakonen von selbst treu waren und da für sie die Lauterkeit ihres Gewissens und die Unschuld ihres Lebens an der Stelle der Gesetze stand. Als aber dann hernach aus der Begehrlichkeit und dem üblen Treiben gewisser Leute ein böses Vorbild erwuchs, da hat man, um solche Laster abzustellen, Rechtssatzungen aufgestellt. Diese teilten die Einkünfte der Kirche in vier Teile, ein Teil wurde den Klerikern zugewiesen, der zweite den Armen, der dritte diente dazu, die heiligen Gebäude und andere Baulichkeiten in gutem Zustande zu erhalten, der vierte wurde für die ortsfremden wie auch für die einheimischen Armen bestimmt.
Freilich weisen andere Rechtssatzungen diesen letzten Teil dem Bischof zu; aber das bringt keine Veränderung gegenüber der dargelegten Einteilung. Denn die Absicht ist dabei nicht, daß dies Gut dem Bischof selbst gehören soll, so daß er es selber verschlingen oder nach Gutdünken verschwenden könnte, sondern es soll dazu dienen, daß er der (Pflicht zur) Gastfreundschaft, die Paulus von einem Bischof fordert, genügen kann (1. Tim. 3,2). So legen es auch Gelasius und Gregor aus; denn auf die Frage, weshalb ein Bischof für sich etwas beanspruchen dürfe, gibt Gelasius keinen anderen Grund an als den: er müsse in den Stand versetzt werden, den Gefangenen und Fremdlingen etwas zuteil werden zu lassen (Decretum Gratiani II,16,3,2). Noch klarer redet Gregor; er sagt: „Der apostolische Stuhl hat die Gepflogenheit, dem eingesetzten Bischof die Weisung zu geben, man solle alle eingehenden Mittel in vier Teile einteilen; und zwar soll der erste Teil dem Bischof und seinen Hausgenossen zukommen, damit er gastfrei sein und Herberge bieten kann, der zweite Teil soll für den Klerus, der dritte für die Armen und der vierte für die Instandsetzung der Kirchen bestimmt sein“ (Decretum Gratiani II,12,2,30). Der Bischof durfte also nichts zu seinem eigenen Gebrauch entnehmen außer dem, was zu mäßiger und einfacher Kost und Kleidung hinreichte. Wenn jemand anfing, Verschwendung zu treiben, sei es durch Üppigkeit oder durch Prunk und Prachtentfaltung, so wurde er alsbald von seinen Amtsgenossen zurechtgewiesen, und wenn er nicht gehorchte, so wurde er seiner Ehrenstellung für verlustig erklärt.
IV,4,8
Was sie aber weiter auf die Ausschmückung der Heiligtümer verwendeten, war im Anfang sehr wenig. Als dann die Kirche ein wenig reicher geworden war, da hielten sie doch in dieser Hinsicht die maßvolle Schlichtheit bei. Jedoch verblieb alles Geld, das sie daran verwandten, unverkürzt den Armen, wenn eine größere Not eintrat. So machte es z.B. Kyrill: als das Gebiet von Jerusalem von einer Hungersnot heimgesucht wurde und dem Mangel nicht anders abgeholfen werden konnte, da verkaufte er die (gottesdienstlichen) Gefäße und Gewänder und verbrauchte den Ertrag zur Ernährung der Armen (Historia tripartita V,37). Ähnlich machte es der Bischof Akatius von Amida, als eine große Menge von Persern beinahe Hungers gestorben wäre: er rief die Kleriker zusammen, hielt eine treffliche Ansprache an sie: „Unser Gott hat weder Schüsseln noch Kelche nötig; denn er ißt nicht und trinkt nicht“ - und dann ließ er die Gefäße einschmelzen, um den Armen Nahrung und Lösegeld zu verschaffen (Historia tripartita XI,16). Auch erwähnt Hieronymus bei einer Strafrede gegen die allzu große Pracht der Kirchengebäude mit Ehren den Bischof Exuperius von Tolosa, der den Leib des Herrn in einem geflochtenen Körbchen und das Blut des Herrn in einem Glase trug, aber keinen einzigen Armen Hunger leiden ließ (Brief 125). Was ich eben von Akatius sagte, das berichtet Ambrosius von sich selber; als ihn nämlich die Arianer beschuldigten, er habe zur Loskaufung von Gefangenen die heiligen Gefäße zerbrochen, da entschuldigte er sich mit folgenden trefflichen Worten: „Der, der die Apostel ohne Gold ausgesandt hat, der hat auch die Kirche ohne Gold versammelt. Die Kirche hat zwar Gold - aber nicht, um es aufzubewahren, sondern um es auszu-
teilen und den Menschen in ihren Nöten zu Hilfe zu kommen. Wozu soll man auch bewahren, was niemandem etwas nützt? Wissen wir etwa nicht, wieviel Gold und Silber, die Assyrer aus dem Tempel des Herrn weggenommen haben? Ist es, wenn andere Hilfe mangelt, nicht besser, daß der Priester sie zum Unterhalt der Armen einschmelzen läßt, als daß sie ein heiligtumsschändender Feind davonträgt? Wird (sonst) der Herr nicht sagen: ‚Weshalb hast du es zugelassen, daß soviel Arme Hungers gestorben sind, wo du doch Gold hattest, von dem du Nahrung hättest schaffen können? Weshalb sind so viele Gefangene davongeführt und nicht losgekauft worden? Weshalb sind so viele vom Feind getötet worden? Es wäre besser gewesen, du hättest die Gefäße lebendiger Menschen erhalten als die aus Metall!’ Auf diese Fragen wirst du keine Antwort geben können; denn was wolltest du sagen? Willst du etwa antworten: ‚Ich hatte Angst, es könnte dem Tempel Gottes an Zierat mangeln’? Er würde dir entgegnen: ‚Die Sakramente verlangen nicht nach Gold, und was nicht mit Gold erkauft wird, das wird auch nicht durch Gold wohlgefällig. Der Zierat der Sakramente ist die Loskaufung der Gefangenen!’„ (Von den Amtspflichten der Diener II,28,137f.) Kurzum, wir sehen, daß es sehr richtig war, wenn der gleiche Ambrosius an anderer Stelle sagt, alles, was die Kirche damals besaß, sei zum Unterhalt der Armen bestimmt gewesen, oder wenn er ebenso erklärt, ein Bischof besäße nichts, was nicht den Armen gehörte (Brief 18,16; 20).
IV,4,9
Das, was wir aufgezählt haben, das waren die Ämter der Alten Kirche. Denn die anderen, die die kirchlichen Schriftsteller erwähnen, waren eher Übungen und Vorbereitungen als bestimmte Ämter. Denn jene heiligen Männer wollten gern ein Pflanzgärtlein der Kirche hinterlassen, und sie nahmen dazu junge Menschen, die sich im Einvernehmen und mit Billigung ihrer Eltern dem geistlichen Kriegsdienst verschrieben, in ihre Treue und Obhut und auch in ihre Zucht auf, und diese bildeten sie nun von zartem Alter an so aus, daß sie einst nicht ungeschult und als Neulinge an ihre Amtstätigkeit herantraten. Alle nun, die solchen Anfangsunterricht genossen, wurden mit einer allgemeinen Bezeichnung „Kleriker“ genannt. Ich möchte freilich, man hätte ihnen einen anderen, besser zutreffenden Namen beigelegt. Denn diese Benennung ist aus Irrtum oder jedenfalls aus verkehrter Gesinnung erwachsen; Petrus nämlich nennt die ganze Kirche den „Klerus“, das heißt das „Erbe“ des Herrn (1. Petr. 5,3; Grundtext). Die Einrichtung selbst dagegen war heilig und äußerst heilsam, bestand sie doch darin, daß die, welche sich und ihren Dienst der Kirche weihen wollten, unter der Hut des Bischofs so erzogen wurden, daß nur der in den Dienst der Kirche trat, der gut vorgebildet war, seit früher Jugend die heilige Lehre in sich aufgenommen, auf Grund einer recht strengen Zucht eine gewisse Haltung des Ernstes und einer heiligen Lebensführung sich angeeignet hatte, keine weltlichen Sorgen kannte und an geistliche Sorgen und Bemühungen gewöhnt war. Wie man nun angehende Kriegsleute durch Übungsgefechte zum wahren, ernsthaften Kampfe heranbildet, so gab es bestimmte Anfangsgründe, in denen jene Jünglinge zur Zeit ihres Klerikertums geübt wurden, bevor man sie in die eigentlichen Ämter beförderte. Man trug diesen Männern also zunächst die Fürsorge für das Öffnen und Schließen der Kirchengebäude auf und nannte sie „Türhüter” (ostialii). Nachher nannte man sie „Akoluthen“: diese sollten dem Bischof mit häuslichen Dienstleistungen beistehen und ihn fortwährend begleiten, und zwar erstens der Ehre wegen, zweitens aber auch zur Verhütung jeglichen Argwohns. Außerdem aber gab man ihnen auch Gelegenheit, auf der Kanzel die Lesung zu halten (als „Lektoren“). Das geschah, damit sie dem Volke allmählich bekannt würden und sich einen guten Ruf erwürben, auch damit sie es lernten, den Anblick aller Leute zu ertragen und im Beisein aller zu reden: sie sollten eben nicht, wenn sie Presbyter geworden waren und hervor-
traten, um ihr Lehramt auszuüben, vor Scham aus der Fassung geraten. Auf diese Weise wurden sie von Stufe zu Stufe befördert, um ihren Fleiß bei jeder einzelnen Übung zu beweisen, bis daß sie (schließlich) „Subdiakonen“ wurden. Ich will nur zeigen, daß es sich hier mehr um Anfängerübungen von Neulingen handelt als um die Ausübung von Diensten, die zu den wahren Ämtern der Kirche zu rechnen wären.
IV,4,10
Ich habe oben dargelegt, daß bei der Berufung der Diener die erste und zweite Frage darum geht, welche Leute man zu Dienern wählen und welchen ehrfürchtigen Ernst man dabei walten lassen soll. In dieser Hinsicht ist nun die Alte Kirche der Vorschrift des Paulus und dem Beispiel der Apostel gefolgt. Denn man pflegte zur Erwählung der Hirten (Pastoren) mit höchster Ehrerbietung und unter eifriger Anrufung des Namens Gottes zusammenzukommen. Außerdem hatte man eine feste Form der Prüfung, nach der man den Lebenswandel und die Lehre derer, die erwählt werden sollten, gemäß jenem Richtmaß des Paulus erfragte. Nur versündigten sie sich hier recht sehr durch unmäßige Strenge, indem sie nämlich mehr von einem Bischof verlangen wollten, als es Paulus tut (1. Tim. 3,2-7); vor allem forderten sie mit fortschreitender Zeit die Ehelosigkeit. Aber in den übrigen Punkten haben sie es der Beschreibung des Paulus entsprechend gehalten.
Was nun die Frage betrifft, die wir an dritter Stelle nannten, nämlich: wer die Diener einsetzen soll, so haben die Alten da nicht immer die gleiche Ordnung innegehalten.
In alter Zeit wurde nicht einmal in die Schar der „Kleriker“ jemand aufgenommen ohne Zustimmung des ganzen Volkes. So entschuldigt sich Cyprian nachdrücklich, weil er einen gewissen Aurelius ohne Befragung der Kirche als Lektor eingesetzt hatte; denn dies war gegen die Sitte, wenn auch nicht ohne Grund geschehen. Seine Vorrede aber lautet dabei: „Bei der Einsetzung von Klerikern, teure Brüder, pflegen wir euch zuvor zu Rate zu ziehen und in gemeinsamer Beratung den Lebenswandel und die Verdienste des einzelnen zu erwägen“ (Brief 38). Aber weil bei jenen geringeren Übungen keine große Gefahr bestand - denn man nahm diese Leute ja zu einer lang andauernden Erprobung und nicht zu einer wichtigen Amtsaufgabe an -, so hat man aufgehört, dazu die Einwilligung des Volkes zu erbitten.
IV,4,11
Späterhin hat das Volk auch bei den übrigen Rangstufen mit Ausnahme des Bischofsamtes durchgängig dem Bischof und den Presbytern das Urteil und die Auswahl überlassen: diese sollten also darüber befinden, welche Leute dazu geschickt und würdig wären. Anders war es, wenn der Fall vorlag, daß für die Parochien neue Presbyter bestimmt wurden; dann mußte nämlich die Menge an dem betreffenden Ort ausdrücklich zustimmen. Es ist auch kein Wunder, daß das Volk in dieser Beziehung weniger Gewicht darauf legte, sein Recht zu wahren. Denn es wurde ja kein Mensch zum Subdiakon gemacht, der sich nicht als Kleriker, und zwar unter der damals bestehenden Strenge der Zucht, durch eine lang andauernde Probe bewährt hatte. Wenn er auf dieser Rangstufe erprobt war, so wurde er als Diakon eingesetzt, und von da aus gelangte er zu der Ehre des Presbyteramtes, wenn er sich als treu erwiesen hatte. Es wurde also niemand befördert, der nicht tatsächlich viele Jahre hindurch unter den Augen des Volkes seine Prüfung durchgemacht hatte. Auch bestanden viele Rechtssatzungen zur Bestrafung ihrer Vergehen, so daß die Kirche nicht mit schlechten Presbytern oder Diakonen belastet zu werden brauchte, wenn sie die vorhandenen Hilfsmittel nicht vernachlässigte. Allerdings wurde auch bei den Presbytern stets die Einwilligung der Bürger verlangt; das wird auch (im Decretum Gratiani) Distinktion 67, und zwar im Canon 1 bezeugt, der dem Anaklet zugeschrieben wird. Schließlich geschahen alle Amtseinweisungen zu festgesetzten Zeiten des
Jahres, damit sich niemand heimlich ohne Einwilligung der Gläubigen einschlich oder mit gar zu großer Leichtigkeit ohne Zeugen befördert werden konnte.
Bei der Erwählung der Bischöfe wurde dem Volke seine Freiheit lange Zeit hindurch erhalten: es sollte also niemand aufgedrängt werden, der nicht allen genehm war. Auf dem Konzil zu Antiochia (341) wurde daher verboten, daß man jemand gegen den Willen des Volkes aufnötigte. Das bestätigt auch Leo I. mit Nachdruck. Daher kommen die folgenden Aussagen: „Erwählt werden soll der, den der Klerus und das Volk oder (wenigstens) die Mehrheit begehrt“ (Brief 14,5). Ebenso: „Der, der einst allen vorstehen soll, soll auch von allen erwählt werden. Denn wenn jemand zum Vorsteher ernannt wird, der noch unbekannt und nicht geprüft ist, so bedeutet das ja notwendig, daß man ihn den Leuten aufzwingt“ (Brief 10,6). Oder ebenso: „Erwählt werden soll der, der von den Klerikern gewählt und vom Volke begehrt worden ist, und der soll dann von den Bischöfen der Provinz mit Wissen und Willen des Metropoliten eingesegnet werden“ (Brief 167). Die heiligen Väter haben sich dermaßen in acht genommen, daß diese Freiheit des Volkes nur ja auf keine Weise verkürzt würde, daß die zu Konstantinopel versammelte allgemeine Synode ihre Absicht, den Nectarius (zum Patriarchen von Konstantinopel) einzusetzen, nicht ohne die Zustimmung des ganzen Klerus und des Volkes verwirklichen wollte, wie sie es in ihrem Brief an die römische Synode bezeugt hat. Wenn daher ein Bischof einen Nachfolger für sich bestimmte, so hatte das nur dann Gültigkeit, wenn das ganze Volk es beschloß. Dafür begegnet uns bei Augustin nicht nur ein Beispiel, sondern geradezu auch eine feste Verfahrensform, und zwar bei der Benennung des Eraclius (Brief 110). Theodoret berichtet, Athanasius habe den Petrus zu seinem Nachfolger bestimmt, aber er fügt gleich hinzu, die Priesterschaft habe dies gelten lassen und die Obrigkeit samt den vornehmsten und dem ganzen Volke hätten es durch ihre Zustimmungserklärung gebilligt (Kirchengeschichte IV,20).
IV,4,12
Allerdings, das gebe ich zu, bestand auch eine sehr begründete Ursache für den Beschluß des Konzils von Laodicäa, der verbot, die Erwählung den Volksmassen zu überlassen (Kap. 13). Es kommt nämlich kaum jemals vor, daß so viele Köpfe eine Sache in einhelliger Meinung recht ordnen, und durchgängig bleibt wahr, was man gesagt hat: „Die Menge ist unbestimmt und spaltet sich in einander widersprechende Bestrebungen auf“ (Vergil). Aber gegen diese Gefahr hat man ein sehr wirksames Mittel angewandt. Zuerst nämlich wählten die Kleriker allein. Dann stellten sie den Erwählten der Obrigkeit oder dem Rat und den Vornehmsten vor. Diese beratschlagten über die Sache, und wenn ihnen die Erwählung recht erschien, so bestätigten sie sie; dünkte sie ihnen nicht richtig, so erwählten sie einen anderen Mann, der ihnen besser zusagte. Dann (erst) wurde die Sache der Menge vorgelegt, die nun zwar an jene zuvor abgegebenen Entscheidungen nicht gebunden war, aber doch weniger Aufruhr machen konnte. Oder man machte auch bei der Menge den Anfang, aber das geschah nur, damit man erführe, wen sie am meisten begehrte; nachdem man dann die Wünsche des Volkes vernommen hatte, vollzogen schließlich die Kleriker die Erwählung. So durften weder die Kleriker bestellen, wen sie wollten, noch hielten sie sich auf der anderen Seite daran gebunden, törichten Wünschen des Volkes zu willfahren. Diese Ordnung setzt Leo (I.) an einer Stelle fest. Er sagt: „Man muß die Wünsche der Bürger, die Zeugnisse der Leute aus dem Volk, die Entscheidung der Amtspersonen und die Wahl der Kleriker abwarten“ (Brief 10,4). Ähnlich sagt er: „Man soll sich an das Zeugnis der Amtspersonen, an die Einwilligung der Kleriker und an die Zustimmung des Rats und des Volkes halten“, „anders zu verfahren, besteht keine Ursache“ (Brief 10,6; 167). Auch jener Beschluß der Synode zu Laodicäa hat nur den Zweck, daß sich die Kleriker und die Vornehmen nicht von der unbesonnenen Menge mitreißen
lassen, sondern im Gegenteil, wenn es erforderlich ist, die törichten Begehrungen der großen Masse mit ihrer Weisheit und ihrem Ernst niederhalten.
IV,4,13
Diese Art der Erwählung war auch noch zu Gregors Zeiten in Kraft, und sie hat wahrscheinlich auch noch lange danach fortgedauert. Es sind bei Gregor sehr viele Briefe vorhanden, die hierfür ein klares Zeugnis abgeben. Jedesmal nämlich, wenn es sich irgendwo um die Ernennung eines neuen Bischofs handelt, so pflegt Gregor an den Klerus, an den Rat und an das Volk zu schreiben, zuweilen auch an den Fürsten, je nachdem, wie die Regierung der betreffenden Stadt eingerichtet ist. Und wenn er etwa infolge des ungeordneten Zustandes der Kirche einem benachbarten Bischof die Aufsicht bei der Wahl aufträgt, so fordert er doch stets einen feierlichen Beschluß, der durch die Unterschrift aller (Beteiligten) bekräftigt sein muß. Auch dies steht in mehreren Briefen zu lesen. So war ein gewisser Constantinus zum Bischof von Mailand ernannt worden; nun hatten sich aber wegen der Einfälle fremdländischer Heerhaufen viele Mailänder nach Genua geflüchtet: da hielt nun selbst in diesem Falle Gregor die Erwählung nur dann für gesetzmäßig, wenn auch diese Geflüchteten zusammenberufen würden und ihre Zustimmung erklärten (Brief III,30). Ja, es sind noch nicht fünfhundert Jahre verflossen, seit Papst Nikolaus (II.) für die Erwählung des römischen Bischofs (1059) das Verfahren festsetzte, es sollten zunächst die Kardinalbischöfe vorangeben, dann sollten sie den übrigen Klerus zu sich hinzunehmen, und schließlich sollte die Wahl durch die Einwilligung des Volkes in Kraft gesetzt werden. Am Schluß führt er dann auch den oben erwähnten Erlaß Leos (I.) auf und gibt die Anweisung, dieser solle auch weiterhin in Geltung stehen. Selbst wenn einmal die Bosheit der Gottlosen dermaßen um sich gegriffen hat, daß die Kleriker zur Durchführung einer reinen Wahl aus der Stadt heraus zu gehen genötigt sind, so gibt Nikolaus doch das Gebot, es sollten stets einige Leute aus dem Volke mit dabeisein (Decretum Gratiani I,23,1).
Die Einwilligung des Kaisers war, soweit sich erkennen läßt, nur in zwei Kirchen erforderlich, nämlich in der zu Rom und zu Konstantinopel, weil dies die beiden Residenzen des Reiches waren. Allerdings wurde Ambrosius mit einer Vollmacht des Kaisers Valentinian nach Mailand gesandt, um die Wahl eines neuen Bischofs zu leiten; aber das war etwas Außerordentliches, und es geschah wegen der schweren Parteiungen, in die die Bürger gegeneinander entbrannt waren. In Rom aber war in alter Zeit die Autorität des Kaisers bei der Ernennung des Bischofs von solcher Bedeutung, daß Gregor erklärt, er sei auf seinen Befehl in die Leitung dieser Kirche eingesetzt worden, obwohl er doch in feierlichem Verfahren vom Volke erbeten worden war (Brief I,5). Die Gepflogenheit war dabei nun folgende: wenn die Standespersonen, der Klerus und das Volk jemanden bestimmt hatten, so erstatten die ersteren dem Kaiser alsbald Bericht, damit er entweder durch seine Bestätigung die Wahl bekräftigte oder sie durch seine Ablehnung nichtig machte. Dieser Gewohnheit widersprechen die von Gratian gesammelten Erlasse nicht; in ihnen wird nichts anderes ausgesprochen, als daß es auf keine Weise ertragen werden dürfe, daß der König unter Aufhebung der kanonischen Wahl einen Bischof nach seinem Belieben einsetzte; ferner wird verfügt, die Metropoliten dürften einen Bischof, der unter gewalttätiger Machtausübung ernannt worden sei, nicht einsegnen. Denn es ist etwas anderes, ob man die Kirche ihres Rechtes beraubt, so daß alles dem Gutdünken eines einzigen Menschen überlassen wird - oder ob man dem König oder dem Kaiser die Ehre gibt, mit seiner Autorität die rechtmäßige Wahl zu bestätigen.
IV,4,14
Jetzt müssen wir weiter die (vierte) Frage behandeln, nach welchem Brauch die Diener der Alten Kirche nach ihrer Erwählung in ihr Amt eingewiesen wurden. Diesen Vorgang haben die Lateiner „Ordination“ oder „Einsegnung“ (Weihe), die Griechen „Cheirotonia“ oder zuweilen auch „Cheirothesia“ („Handaufhebung” oder zuweilen auch „Handauflegung”) genannt; freilich bedeutet „Handaufhebung“ (cheirotonia) im eigentlichen Sinne jenes Wahlverfahren, bei dem die Stimmabgabe durch Aufrecken der Hände kenntlich gemacht wird. Nun gibt es einen Beschluß des Konzils in Nicäa, nach welchem der Metropolit mit allen Bischöfen der Provinz zusammenkommen sollte, um den, der erwählt worden war, zu ordinieren. Wenn aber infolge der weiten Entfernung oder durch Krankheit oder einen anderen Notfall ein Teil am Erscheinen verhindert war, so sollten doch mindestens drei zusammenkommen, und die Abwesenden sollten ihre Einwilligung schriftlich versichern. Als dann diese Rechtssatzung aus der Gewohnheit kam und dadurch in Abgang geriet, wurde sie nachher noch von vielen Synoden erneuert. Die Anordnung, daß alle oder wenigstens die, die keine Entschuldigung hatten, gegenwärtig sein mußten, hatte den Zweck, daß eine um so strengere Prüfung der Lehre und des Lebenswandels dessen vorgenommen wurde, der ordiniert werden sollte. Denn ohne solche Prüfung wurde die Ordination nicht vollzogen. Auch geht aus den Worten des Cyprian hervor, daß diese Bischöfe nicht erst nach der Wahl herbeigerufen wurden, sondern daß sie in alter Zeit gewöhnlich auch bei der Wahl selbst zugegen waren, und das hatte den Zweck, daß sie gleichsam als Leiter wirkten, damit bei der Menge kein Durcheinander entstünde. Cyprian erklärt nämlich zunächst, das Volk habe die Vollmacht, würdige Priester zu erwählen und unwürdige abzulehnen; dann aber fügt er kurz nachher zu: „Deshalb muß - wie das auch bei uns und in fast allen Provinzen geschieht - auf Grund der göttlichen und apostolischen Überlieferung fleißig darauf geachtet und gehalten werden, daß zum gehörigen Vollzug der Ordinationen die Bischöfe der betreffenden Provinz alle in der Gemeinde zusammenkommen, für welche man den Vorsteher ordiniert, und daß der Bischof in Gegenwart des Volkes erwählt wird“ (Brief 67). Aber da das Zusammenkommen der Bischöfe oft allzulange Zeit in Anspruch nahm und Gefahr bestand, daß einige Leute diesen Verzug als Gelegenheit zur Stimmenwerbung mißbrauchten, so kam man zu dem Beschluß, es sei ausreichend, wenn die Bischöfe nach vollzogener Erwählung kämen und den Erwählten nach einer gesetzmäßigen Untersuchung einsegneten.
IV,4,15
Obgleich dies nun allenthalben ohne Ausnahme geschah, wuchs doch nach und nach eine andersartige Gepflogenheit heran, nämlich daß sich die Gewählten in die Hauptstadt begaben, um die Ordination nachzusuchen. Das ist nun mehr aus Ehrgeiz und Verkehrung der alten Ordnung als aus irgendeinem guten Grunde geschehen. Nicht lange danach, als die Autorität des römischen Stuhls bereits größer geworden war, riß dann noch eine schlimmere Gewohnheit ein, daß nämlich die Bischöfe von fast ganz Italien ihre Einsegnung (Weihe) von Rom begehrten. Das läßt sich aus den Briefen Gregors ersehen. Nur wenigen Städten, die sich nicht so leicht hatten zurückdrängen lassen, blieb ihr altes Recht erhalten. So findet man bei Gregor das Beispiel Mailands erwähnt (Briefe III,30). Möglicherweise haben allein die Hauptstädte (d.h. die Sitze der Metropoliten) ihr Vorrecht behalten. Denn zur Einsegnung (Weihe) des Erzbischofs pflegten alle Bischöfe der Provinz eben in der Hauptstadt zusammenzukommen.
Der bei der Ordination waltende gottesdienstliche Brauch war übrigens die Handauflegung. Soweit ich nämlich lese, hat man außerdem keinerlei Zeremonien angewandt, abgesehen davon, daß die Bischöfe bei der feierlichen Versammlung bestimmte Schmuckgewänder getragen haben, um dadurch von den anderen Presbytern unterschieden zu werden. Auch die Presbyter und Diakonen ordinierte
man allein durch Handauflegung. Jeder Bischof aber ordinierte seine Presbyter zusammen mit dem Kollegium der (anderen) Presbyter. Obgleich nun (dabei) alle (d.h. Bischof und Presbyter) das gleiche taten, so sprach man doch von der Ordination „durch den Bischof“, weil dieser voranging und die Handlung gleichsam unter seiner Anleitung geschah. Daher kann man bei den Alten oft zu lesen bekommen, der Presbyter sei nur darin vom Bischof verschieden, daß er eben nicht die Vollmacht zur Ordination besitze.
Fünftes Kapitel
Die alte Form des Kirchenregiments ist durch die Tyrannei des Papsttums völlig zugrunde gerichtet worden
IV,5,1
Jetzt ist es erforderlich, die Ordnung der Kirchenleitung, wie sie heutzutage der römische Stuhl und alle seine Trabanten innehalten, dazu auch das ganze Bild jener Hierarchie, die sie immerzu im Munde führen, in Augenschein zu nehmen und mit der oben beschriebenen Ordnung der ursprünglichen, alten Kirche zu vergleichen. Aus dieser Gegenüberstellung soll dann deutlich werden, was das für eine Kirche ist, die jene Leute innehaben, die allein auf diesen Titel übermütig pochen, um uns damit zu beschweren oder vielmehr zu erdrücken.
Am besten ist es, wenn wir dabei mit der Berufung beginnen, damit wir sehen, welche Leute bei ihnen zum kirchlichen Amt berufen werden, welcher Art sie sind und aufweiche Weise die Berufung geschieht. Danach werden wir dann auch betrachten, mit welcher Treue sie ihr Amt ausfüllen.
Den ersten Platz wollen wir aber den Bischöfen geben - ach, wenn es ihnen doch Ehre einbringen könnte, bei dieser Erörterung an erster Stelle zu stehen! Aber die Sache selbst erträgt es nicht, daß ich diesen Gegenstand auch nur leicht berühre, ohne daß es ihnen zu größter Schande gereicht. Und doch werde ich im Auge behalten, mit was für einer Art von Schrift(stellerei) ich hier beschäftigt bin, und ich werde meine Darlegungen, die der schlichten Unterweisung dienen sollen, nicht über ihre Grenzen hinausgehen lassen.
Trotzdem soll mir doch einer von denen, die noch nicht ganz und gar alle Scham verloren haben, Antwort geben, was für Bischöfe man heutzutage allenthalben erwählt.
Eine Prüfung hinsichtlich der Lehre anzustellen, das ist wahrhaftig gar zu sehr in Abgang gekommen. Wenn man irgendwie auf Lehre Rücksicht nimmt, so wählt man irgendeinen Rechts gelehrten, der sich besser darauf versteht, vor Gericht einen Streit zu führen, als in der Kirche zu predigen. Das steht fest, daß in den letzten hundert Jahren unter hundert Bischöfen kaum einer erwählt worden ist, der etwas von der heiligen Lehre gewußt hätte. Die vorausgehenden Jahrhunderte schone ich nicht etwa deshalb, weil sie viel besser gewesen wären, sondern weil ich hier nur von der Kirche der Gegenwart reden will.
Soll eine Beurteilung des Lebenswandels eintreten, so werden wir finden, daß da nur wenige oder nahezu gar keine gewesen sind, die die alten Rechtssatzungen nicht für unwürdig erklärt hätten. Wer kein Trunkenbold war, der war ein Hurer, wer auch von diesem Laster rein war, der war ein Spieler oder ein Jäger oder sonst in irgendeinem Stück seines Lebens ohne Zucht. Die Fehler nämlich, die auf Grund der alten Rechtssatzungen einen Menschen vom Bischofsamt ausschließen, sind leichter (als die eben genannten). Das weitaus Widersinnigste ist aber dies, daß man Knaben von kaum zehn Jahren mit Bewilligung des Papstes zu Bischöfen gemacht hat. Man ist eben bis zu einem solchen Grad von Schamlosigkeit und Abstumpfung gelangt, daß man nicht einmal vor jener äußersten und geradezu ungeheuerlichen Schandtat zurückschreckt, die selbst dem natürlichen Empfinden voll und ganz zuwider ist. Daraus geht deutlich hervor, was für „gottesfürchtige“ Wahlen das gewesen sind, bei denen eine derart leichtfertige Unachtsamkeit im Spiele war.
IV,5,2
Ferner ist bei der Wahl das ganze Recht des Volkes, von dem wir sprachen, aufgehoben worden. Wünsche, Bewilligungen, Unterschriften und alle Dinge dieser Art sind verschwunden. Die ganze Macht ist ausschließlich auf die Kanoniker übergegangen. Diese übertragen das Bischofsamt, wem sie wollen; den von ihnen Bestimmten führen sie dann tatsächlich alsbald vor das Angesicht des Volkes - aber nicht zur Prüfung, sondern zur Anbetung!
Leo (I.) aber erklärt doch demgegenüber, ein solches Verfahren sei unter keinen Umständen zulässig, er sagt ausdrücklich, damit werde (der Bischof dem Volke) gewalttätig aufgedrängt! Cyprian bezeugt, es gehe aus göttlicher Rechtssetzung hervor, daß die Wahl nur mit Einwilligung des Volkes erfolgen darf, und damit zeigt er, daß die entgegengesetzte Gewohnheit mit dem Worte Gottes im Widerspruch steht. So viele Synodalbeschlüsse verbieten auf das strengste ein anderes Verfahren; und wenn etwas dergestalt Verbotenes doch geschehen ist, so gebieten sie, es solle ungültig sein. Wenn das wahr ist, so ist heutzutage im ganzen Papsttum keine einzige Wahl mehr übrig, die nach göttlichem oder kirchlichem Recht satzungsgemäß wäre.
Aber wie werden sie es, selbst wenn sonst kein Übelstand vorhanden wäre, doch fertigbringen, die Tatsache zu entschuldigen, daß sie die Kirche solcher Gestalt ihres Rechtes beraubt haben? Sie sagen: Beim Volk und bei den Obrigkeiten hatten bei der Wahl der Bischöfe Haß und Eifer mehr Gewicht als rechtes und gesundes Urteil, und so erforderte es die Verderbnis der Zeiten, daß statt dessen die Entscheidung in dieser Sache wenigen übertragen wurde. - Geben wir zu, dies wäre wirklich unter solch jämmerlichen Umständen das äußerste Heilmittel gegen ein derartiges Übel gewesen. Aber es ist doch inzwischen offen zutage getreten, daß die Arznei schädlicher ist als die Krankheit selbst - weshalb tritt man nun nicht auch diesem neuen Übel entgegen? - Ja, antworten sie, aber es ist doch den Kanonikern selbst genau vorgeschrieben, an welche Regeln sie sich bei der Wahl zu halten haben. - Aber behaupten wir denn, das Volk habe in alter Zeit vielleicht nicht gewußt, daß es an höchst heilige Gesetze gebunden war, wo es doch sah, daß ihm aus dem Worte Gottes eine Regel gesetzt war, wenn es zur Wahl eines Bischofs zusammenkam? Denn jenes eine Wort Gottes, in dem er das wahre Bild eines Bischofs beschreibt, mußte doch verdientermaßen mehr Gewicht haben als ungezählte Tausende von kirchlichen Rechtssatzungen. Aber trotzdem war das Volk durch üble Gesinnung verdorben, so daß es auf Recht und Billigkeit keine Rücksicht nahm! So steht es auch heutzutage: obwohl sehr gute Gesetze geschrieben sind, bleiben sie doch in den Büchern begraben. Unterdessen ist es durch die Gewohnheit durchgängig zur Annahme gekommen und auch, als geschähe es aus begründeter Ursache, gebilligt worden, daß man Trunkenbolde, Hurer und Würfelspieler allenthalben zu solcher Ehre (nämlich zu der des Bischofsamtes) befördert, ja - ich sage noch zu wenig -, daß die Bischofssitze Belohnungen für Ehebruch und Kuppelei darstellen. Denn wenn sie (bloß) an Jäger und Vogelsteller vergeben werden, dann muß man (schon) meinen, die Sache sei hervorragend ausgefallen! Eine solche Unwürdigkeit auf irgendeine Weise zu entschuldigen, ist gar zu unverschämt. Das Volk hatte, so sagte ich, in alter Zeit eine sehr gute Richtschnur (zur Wahl); denn das Wort Gottes schrieb ihm vor, ein Bischof solle „unsträflich“, „lehrhaft“, „nicht zänkisch“ sein usw. (1. Tim. 3,1-7). Weshalb hat man nun die Aufgabe, Bischöfe zu wählen, dem Volke genommen und sie auf die Kanoniker übertragen? Darum (so sagt man), weil eben inmitten des Aufruhrs und der Parteiungen des Volkes das Wort Gottes nicht mehr vernommen wurde. Und weshalb nimmt man diese Aufgabe nicht heutzutage wieder den Kanonikern fort, die nicht nur alle Gesetze verletzen, sondern alle Scham von sich werfen und in ihrer Zügellosigkeit, ihrer Geld- und Ehrsucht Göttliches und Menschliches miteinander vermengen und verwirren?
IV,5,3
Es ist aber erlogen, wenn sie sagen, dies (neue) Verfahren habe man als Heilmittel aufgebracht. Wir lesen zwar, daß in alter Zeit die Städte bei der Wahl von Bischöfen oft in Aufruhr geraten sind, aber trotzdem hat niemand gewagt, daran zu denken, daß man den Bürgern dieses Recht wegnehmen sollte. Denn man hatte andere Wege, um entweder solchen Fehlern entgegenzutreten oder, wenn sie bereits begangen waren, für Abhilfe zu sorgen. Ich will aber sagen, wie die Sache sich ver-
hält. Als das Volk bei dem Vollzug der Wahl nachlässiger zu werden anfing und diese Sorge, als ob sie ihm weniger anstünde, den Presbytern zuschob, da haben diese die gebotene Gelegenheit mißbraucht, um eine tyrannische Macht an sich zu reißen, die sie dann hernach durch Aufstellung neuer Rechtssatzungen befestigt haben.
Die Ordination aber ist (bei den Papisten) nichts anderes als ein reiner Spott. Das Scheinbild einer Prüfung, das sie dabei an den Tag legen, ist dermaßen leer und inhaltlos, daß es sogar jeder Trugfarbe ermangelt.
Wenn daher mancherorts die Fürsten von den römischen Päpsten durch Vertrag das Recht erlangt haben, selbst die Bischöfe zu benennen, dann ist damit der Kirche kein neuer Schaden zugefügt worden, weil ja damit die Wahl nur den Kanonikern genommen ist, die sie ohne jedes Recht geraubt oder jedenfalls gestohlen hatten. Wenn auf solche Weise die Bischöfe vom (fürstlichen) Hofe ausgesandt werden, um die Kirchen in Besitz zu nehmen, so ist das allerdings gewiß ein sehr übles Beispiel, und fromme Fürsten hätten die Pflicht, von solchem verderbten Brauch Abstand zu nehmen. Es ist nämlich jedesmal eine gottlose Beraubung der Kirche, wenn man irgendeinem Volke einen Bischof aufdrängt, den es nicht begehrt oder wenigstens mit freier Meinungsäußerung bestätigt hat. Aber tatsächlich hat jene unordentliche Gewohnheit, die seit langer Zeit in den Kirchen bestand, den Fürsten die Gelegenheit geboten, die Benennung der Bischöfe an sich zu ziehen. Sie wollten nämlich lieber, daß diese Wohltat von ihnen ausginge, als von denen, die ebensowenig ein Recht dazu hatten und sie nicht weniger übel mißbrauchten.
IV,5,4
Das ist also die herrliche Berufung, um derentwillen die Bischöfe sich rühmen, sie wären die Nachfolger der Apostel!
Sie behaupten nun aber weiter, das Recht zur Einsetzung der Presbyter stehe ihnen allein zu. Aber sie verderben die alte Einrichtung dadurch auf das übelste, daß sie mit ihrer Ordination eben nicht Presbyter einsetzen, die das Volk leiten und weiden, sondern vielmehr Priester, die opfern sollen. Ebenso: wenn sie Diakonen weihen, so kümmern sie sich nicht um deren wahre und eigentliche Amtspflicht, sondern sie ordinieren sie nur zu bestimmten Zeremonien bei Kelch und Schale.
Auf der Synode von Chalcedon (451) hat man nun aber festgesetzt, es sollten keine „absoluten“ Ordinationen stattfinden, das heißt: keine, bei denen man nicht zugleich dem Ordinierten einen Platz anwiese, an dem er sein Amt ausüben sollte (vgl. Decretum Gratiani I,70,1). Dieser Beschluß ist in zwiefacher Hinsicht von höchstem Nutzen. Er dient erstens dazu, daß die Kirchen nicht mit überflüssigen Ausgaben belastet werden und nicht an untätige Leute Geld ausgegeben wird, das man an die Armen verteilen sollte. Zweitens dient er dazu, daß die, welche ordiniert werden, daran denken, daß sie nicht zu einer Ehre befördert, sondern mit einem Amte beauftragt werden, zu dessen Ausrichtung sie sich durch feierliche Bezeugung verpflichten.
Die römischen Meister dagegen, die da meinen, man solle in der Religion für nichts anderes sorgen als für den Bauch, erklären, unter dem „Titel“ (im Sinne des obigen Beschlusses) sei ein Einkommen zu verstehen, das zum Lebensunterhalt ausreiche, ob es nun aus elterlichem Erbgut oder aus einem Priesteramt herfließe. Wenn sie also einen Diakon oder einen Presbyter ordinieren, so machen sie sich keine Sorge darum, wo diese ihr Amt ausüben sollen, sondern übertragen ihnen ihren Rang, wenn sie nur reich genug sind, um sich zu ernähren. Aber welcher Mensch wird annehmen wollen, daß der „Titel“, den der Beschluß des Konzils erfordert, ein jährliches Einkommen zum Lebensunterhalt bedeute?
Nun haben die neueren Rechtssatzungen die Bischöfe, um ihr gar zu großes Entgegenkommen (bei der Ordination) zu dämpfen, zum Unterhalt derer verurteilt, die sie ohne geeigneten „Titel“ ordiniert haben. Aber da hat man sich denn auch eine Vor-
sichtsmaßregel ausgedacht, um mit ihrer Hilfe der Strafe zu entgehen. Derjenige, den man ordiniert, verspricht nämlich nach Nennung irgendeines „Titels“, er wolle damit zufrieden sein. Durch diese Abmachung wird ihm das Recht zu einer Klage auf Unterhalt entrissen. Ich will noch von den tausend Betrügereien schweigen, die dabei vorkommen. So erdichten sich einige Leute eitle „Titel“ von Priesterstellen, aus denen sie nicht fünf Heller im Jahre zusammenbringen können. Andere erhalten auf Grund heimlicher Verabredung eine Pfründe geliehen, und sie versprechen, sie sofort zurückzugeben, geben sie aber zuweilen nicht zurück. Dazu kommen dann noch andere „Geheimnisse“ dieser Art.
IV,5,5
Aber selbst wenn diese gröberen Mißbräuche behoben werden sollten - bleibt es dann nicht doch immerfort ein Widersinn, einen Presbyter einzusetzen, dem man keinen Platz (zur Ausübung seines Dienstes) anweist? Denn die Papisten ordinieren tatsächlich niemanden zu einem anderen Dienst als allein zum Opfern. Die rechtmäßige Ordination eines Presbyters geschieht dagegen dann, wenn man ihn zur Regierung einer Kirche, diejenige eines Diakons, wenn man ihn zur Verwaltung der Almosen beruft. Sie umgeben zwar das, was sie tun, mit viel Gepränge, damit es unter solchem Schein bei schlichten Leuten Verehrung genießt. Aber was können solche Larven bei vernünftigen Menschen für einen Wert haben, wo doch nichts Festes und Wahres dahinter steckt? Denn sie wenden Zeremonien an, die sie entweder aus dem Judentum herbeiholen oder aus sich selbst heraus zusammendichten - und von denen man besser Abstand nähme!
Von der wahren Prüfung (in der Lehre) aber - denn bei jenem Schatten, den sie beibehalten, halte ich mich nicht auf -, von der Einwilligung des Volkes und von anderen notwendigen Dingen ist keine Rede. Einen „Schatten“ nenne ich jene lächerlichen Gebärden, die danach gemacht sind, die alte Zeit unpassend und inhaltslos nachzuahmen. Die Bischöfe haben ihre Vikare, die vor der Ordination eine Untersuchung über die Lehre anstellen. Aber was stellen sie da für Fragen? Sie erkundigen sich, ob die Anwärter auch ihre Messen lesen können, ob sie irgendein gewöhnliches Hauptwort, das in der Lesung vorkommt, zu deklinieren oder irgendein Zeitwort zu konjugieren vermögen oder ob sie die Bedeutung eines einzigen Ausdrucks kennen - denn es ist nicht erforderlich, daß sie den Sinn auch nur eines einzigen Versleins wiederzugeben verstehen! Trotzdem werden auch die, die in diesen kindlichen Anfangsgründen versagen, nicht gleich vom Priestertum ausgeschlossen, wenn sie nur irgendeine Empfehlung an Geld oder Gunst beibringen. Aus dem gleichen Mehl ist dann das nächste gebacken: wenn die, die ordiniert werden sollen, vor den Altar gestellt werden, dann fragt man dreimal mit Worten, die niemand versteht, ob sie auch dieser Ehre würdig seien; dann ist da einer, der sie nie zu Gesichte bekommen hat, der aber, damit nichts an der gesetzten Form fehlt, im Spiel diese Rolle überkommen hat - und der antwortet: „Sie sind würdig“! Was soll man gegen diese verehrungswürdigen Väter anders für eine Beschuldigung vorbringen als dies, daß sie in solch offenem Frevel ihr Spiel treiben und damit Gott und Menschen ohne Scham verlachen? Aber weil sie bereits lange Zeit im „Besitz“ dieser Sache sind, so meinen sie, das sei ihnen nun erlaubt. Wenn nun aber jemand gegen so offenkundige und furchtbare Laster den Mund aufzutun wagt, so wird er von ihnen gleich vor Gericht geschleppt, als ob er ein todeswürdiges Verbrechen begangen hätte - wie der Mann, der einst die heiligen Geheimnisse der Ceres in die Öffentlichkeit gebracht hatte! Würden sie das wohl tun, wenn sie meinten, es gäbe einen Gott?
IV,5,6
Wie steht es nun mit der Austeilung der Pfründen (Benefizien), die einst mit der Ordination verbunden war, jetzt aber völlig von ihr getrennt ist? Wieviel besser führen sich die Papisten dabei auf?
Hier besteht nun bei ihnen eine vielfältige Art und Weise. Denn die Bischöfe sind nicht die einzigen, die Priesterstellen verleihen, und auch bei solchen Stellen, deren „Kollatoren“ (Besetzungsberechtigte) sie heißen, haben sie nicht immer volles Recht, sondern andere haben (oft) das Benennungsrecht (praesentatio), die Bischöfe selber aber behalten zu ihrer Ehrung den Titel des Besetzungsrechts bei. Dazu kommen dann noch die Pfründenverleihungen auf der Schulbank, die „Resignationen“, und zwar „einfache“ oder auch solche, die auf Grund eines Austauschs erfolgen, dazu die Empfehlungsschreiben, die „Präventionen“ (Vorgriffsrechte) und was dergleichen mehr ist. Aber die Beteiligten verhalten sich alle so, daß keiner von ihnen dem anderen einen Vorwurf machen kann! So behaupte ich: im Papsttum wird heutzutage unter hundert Pfründen kaum eine ohne Simonie vergeben, wenn wir die Simonie so verstehen, wie die Alten sie definiert haben. Ich sage nicht, daß sie alle ihre Pfründen mit barem Gelde kaufen - aber man soll mir von zwanzig auch nur einen zeigen, der durch keinerlei versteckte Empfehlung zum Priesteramt käme! Die einen erlangen ihre Beförderung durch Blutsverwandtschaft oder Verschwägerung, die anderen durch das Ansehen ihrer Eltern, wieder andere erwerben sich Gunst durch Dienstwilligkeit. Kurzum, die Pfründen werden nicht etwa zu dem Zweck vergeben, daß dadurch die Kirchen versorgt würden, sondern vielmehr, daß für die Leute gesorgt wird, die sie bekommen. Deshalb nennt man sie ja auch „Benefizien“ (Wohltaten) - ein Name, mit dem man genugsam zu erkennen gibt, daß man sie nicht anders einschätzt als die Schenkungen von Fürsten, mit denen sich diese die Gunst ihrer Kriegsleute erwerben oder auch ihre Anstrengungen belohnen. Ich übergehe dabei noch, daß man solche „Belohnungen“ auch an Barbiere, Köche, Maultiertreiber und andere Leute dieses Schlags vergibt. Zudem hallen heutzutage die Gerichte fast von keinen Streitigkeiten mehr wider als von solchen, die sich um Pfründen drehen - man könnte geradezu sagen, daß die Pfründen nichts anderes sind als eine Beute, die man den Hunden zur Jagd vorwirft! Ist es nicht unerträglich zu hören, daß man Leute als „Hirten“ bezeichnet, die in den Besitz einer Kirche eingebrochen sind, als wäre sie ein feindliches Gebiet, die diesen Besitz als Siegesbeute durch Streitereien vor Gericht gewonnen oder mit Geld erkauft oder mit schmutzigen Diensten erworben haben, die als Knaben, die kaum zu stammeln vermochten, in solchen Besitz hineingewachsen sind, als sei er ein Erbbesitz von ihren Onkeln oder verwandten oder zuweilen gar - sofern sie Bastarde sind - von ihren Vätern her?
IV,5,7
Wäre wohl die Zügellosigkeit des Volkes, so verderbt und gesetzlos es aicj gewesen sein mag, je soweit gegangen?
Eine noch größere Ungeheuerlichkeit ist es aber, daß ein einziger Mensch - ich sage nichts davon, was für einer, jedenfalls aber einer, der sich selber nicht zu regieren vermag - an die Spitze von fünf oder sechs Kirchen gestellt wird, um sie zu „leiten“. Man kann heutzutage an den Fürstenhöfen junge Männer sehen, die dreimal Äbte, zweimal Bischöfe und einmal Erzbischöfe sind. Durchgängig aber sind sie Kanoniker, mit fünf, sechs, sieben Pfründen beladen, um die sie sich durchaus nur insofern sorgen, als sie sich eben darum kümmern, Einkünfte aus ihnen zu empfangen. Ich will da nicht den Einwurf machen, daß Gottes Wort dagegen allenthalben Einspruch erhebt - denn das hat bei diesen Leuten seit langer Zeit aufgehört, auch nur die mindeste Bedeutung zu haben. Ich will auch nicht den Einwurf machen, daß man auf vielen Konzilien gegen diese Unverschämtheit die schärfsten Verordnungen erlassen hat - denn auch diese verachten sie wacker, so oft es ihnen paßt. Ich sage aber dies: daß ein einziger Räuber viele Kirchen zugleich mit Beschlag belegt, und daß man einen Menschen als „Hirten“ bezeichnet, der, selbst
wenn er will, nicht bei seiner Herde sein kann - das sind beides ungeheuerliche Schändlichkeiten, die Gott, der Natur und dem Kirchenregiment ganz und gar zuwider sind. Und doch verdeckt man in seiner Schamlosigkeit solch widerwärtige Greuel hinter dem Namen der Kirche, um sie jedem Vorwurf zu entziehen. Ja, „wenn es Gott gefällt“, so besteht in diesen Nichtsnutzigkeiten jene hochheilige Aufeinanderfolge (der Bischöfe), deren Verdienst es, wie sie rühmen, zuwege gebracht hat, daß die Kirche nicht untergegangen ist.
IV,5,8
Jetzt wollen wir zusehen, mit welcher Treue sie ihr Amt ausüben; denn das ist das zweite Kennzeichen, nach dem man einen rechtmäßigen Hirten beurteilen soll.
Unter den Priestern, die man bei den Papisten einsetzt, sind die einen Mönche, die anderen sogenannte Weltpriester.
Dabei ist der erste Haufe der Alten Kirche unbekannt gewesen. Auch steht das Innehaben einer solchen Stelle (nämlich des Priesteramts) in der Kirche mit dem Mönchsberuf in einem solchen Gegensatz, daß Leute, die einst aus den Klöstern heraus in den Klerus aufgenommen wurden, aufhörten Mönche zu sein. Ja, selbst Gregor (I.), zu dessen Zeiten die Kirche bereits sehr viel Unsauberkeit an sich trug, hat trotzdem nicht geduldet, daß eine derartige Verwirrung eintrat. Er will nämlich, daß Leute, die Äbte geworden sind, auf ihren Stand als Kleriker verzichten, und zwar, weil niemand zu gleicher Zeit rechtmäßig Mönch und Kleriker sein könne, da eben eins für das andere ein Hindernis sei (Brief IV,11). Wenn ich nun frage, wieso denn einer, den die kirchlichen Rechtssatzungen für nicht geeignet erklären, sein Amt recht ausfüllen könne - was will man mir dann, das möchte ich zu gerne wissen, für eine Antwort geben? Man wird mir natürlich jene unzeitig zur Welt gekommenen Anordnungen des Innozenz und des Bonifaz zitieren, nach denen Mönche zur Würde und Vollmacht des Priesteramtes zugelassen werden und doch gleichzeitig in ihren Klöstern verbleiben. Aber was ist das für eine Sache, daß irgendein ungelehrter Esel, sobald er nur den römischen Stuhl in Beschlag genommen hat, die ganze alte Ordnung mit einem einzigen Wörtlein über den Haufen wirft? Aber darüber nachher. Für jetzt soll die Feststellung genügen, daß man es in der reineren Kirche für einen großen Widersinn gehalten hat, wenn ein Mönch das Priesteramt ausübte. Denn Hieronymus erklärt, daß er, solange er unter den Mönchen lebt, nicht die Amtspflicht eines Priesters verrichtet; nein, er betrachtet sich als einen aus dem Volke, der von den Priestern regiert wird. Aber lassen wir ihnen das selbst durchgehen, so bleibt doch die Frage, was für eine Amtspflicht sie eigentlich erfüllen. Einige von den Bettelmönchen predigen. Alle anderen Mönche singen und murmeln Messen in ihren Winkeln. Als ob es nach dem Willen Christi wäre oder als ob es das Wesen dieses Amtes duldete, daß man sie zu diesem Zweck zu Presbytern („Priestern“) machte! Die Schrift bezeugt doch offen und klar, daß ein Presbyter die Aufgabe hat, seine eigene Kirche zu regieren (Apg. 20,28). Ist es dann nicht eine gottlose Entweihung, wenn man die heilige Stiftung Gottes in eine andere Richtung bringt, ja, wenn man sie voll und ganz verwandelt? Denn wenn die Mönche ordiniert werden, so wird ihnen doch ausdrücklich verboten, das zu tun, was Gott allen Presbytern („Priestern“) als Pflicht auferlegt hat. Es wird ihnen doch das Liedlein gesungen: Ein Mönch soll sich mit seinem Kloster zufrieden geben und sich nicht unterstehen, die Sakramente zu verwalten oder sonst irgend etwas zu verrichten, was Sache des öffentlichen Amtes ist. Nun sollen sie es doch, wenn sie können, bestreiten, daß es eine offene Verspottung Gottes ist, wenn man einen zu dem Zweck als Presbyter einsetzt, daß er sich seiner wahren und reinen Amtspflicht enthält, und wenn einer, der den Namen hat, die (zugehörige) Sache nicht haben kann!
IV,5,9
Jetzt komme ich zu den Weltpriestern. Diese sind zum Teil Pfründner, wie man sagt; das heißt: sie haben Priesterstellen, um sich von ihnen zu ernähren. Zum anderen Teil vermieten sie ihre täglichen Dienste zum Messelesen und Singen, und sie fristen ihr Leben gleichsam von dem (dabei) aufgebrachten Lohn.
Die Pfründen umfassen zum Teil die Seelsorge, wie z.B. Bistümer und Pfarreien; zum Teil sind sie eine Besoldung für verwöhnte Leute, die sich mit Singen ihr Brot verdienen, so z.B. die Praebenden, Kanonikerstellen, Personate, Dignitäten (bestimmte Domherrenstellen), Kaplansstellen und dergleichen. Allerdings werden, wo die Dinge oben und unten bereits voll und ganz über den Haufen geworfen sind, auch Abts- und Priorstellen nicht nur an Weltpriester, sondern auch - durch „Privileg“, das heißt nach allgemeiner, gebräuchlicher Gewohnheit - an Knaben vergeben.
Was nun die Lohnpriester betrifft, die Tag für Tag ihren Unterhalt suchen - was sollten die anders machen, als sie wirklich tun? Was sollten sie anders machen, als daß sie sich in einer Weise, die eines freien Mannes unwürdig und die beschämend ist, zu schnödem Gewinn mißbrauchen lassen? Vor allem in der Menge, in der heutzutage die Welt von ihnen überströmt! Weil sie nun also nicht öffentlich zu betteln wagen oder weil sie meinen, auf diesem Wege allzu wenig zu erreichen, so laufen sie wie hungrige Hunde umher und pressen den Menschen, die nicht wollen, durch ihr unverschämtes Geilen wie durch Gebell etwas ab, um damit ihren mageren Leib zu füllen. Wenn ich nun hier versuchte, mit Worten darzutun, was für eine Schande es der Kirche bringt, daß die Ehre und das Amt eines Presbyters so weit heruntergekommen sind, so würde ich kein Ende finden. Die Leser haben also keinen Anlaß, von mir eine Rede zu erwarten, die einer solch schandbaren Unwürdigkeit entspräche. Ich sage nur kurz: nach der Vorschrift des Wortes Gottes (1. Kor. 4,1) und auch nach den Erfordernissen der alten Kirchensatzungen hat der Presbyter die Amtsverpflichtung, die Kirche zu weiden und Christi geistliches Reich zu verwalten; wenn es aber so steht, dann gilt von all solchen Meßpriestern, die ihre Arbeit und ihren Lohn bloß beim Handel mit Messen finden, daß sie nicht nur ihre Amtspflicht unterlassen, sondern überhaupt kein rechtmäßiges Amt haben, das sie ausüben könnten. Denn es bietet sich ihnen gar keine Gelegenheit zur Unterweisung, und sie haben auch keine Gemeinde, die sie regieren könnten. Kurzum, es bleibt ihnen nichts außer dem Altar, um Christus darauf zu „opfern“ - das bedeutet aber, wie wir an anderer Stelle sehen werden, nicht etwa, Gott Opfer zu bringen, sondern den Teufeln!
IV,5,10
Ich berühre hier nicht die von außen hinzukommenden Gebrechen, sondern ausschließlich den inwendigen Schaden, der ihrer Gestaltung der Dinge von der Wurzel her anhaftet. Ich will noch ein Wörtlein zufügen, das in ihren Ohren übel klingen wird; aber weil es wahr ist, darum muß man es aussprechen: Alle Kanoniker, Dekane, Kaplane, Pröpste und all jene Leute, die sich von müßigen Priesterämtern ernähren, sind (mit den oben genannten Meßpriestern) auf eine Linie zu stellen! Denn was für einen Dienst können sie der Kirche leisten? Sie haben doch die Predigt des Wortes, die Sorge für die kirchliche Zucht und die Verwaltung der Sakramente als gar zu unbequeme Belastungen von sich abgeschoben! Was ist ihnen also übriggeblieben, auf Grund dessen sie sich rühmen könnten, sie seien wahre Presbyter? Selbstverständlich das Singen und das Gepränge der Zeremonien. Aber was hat das mit der Sache zu tun? Wenn sie sich auf die Gewohnheit, die Übung und den zwingenden Einfluß der langen Zeit berufen, so verweise ich demgegenüber auf Christi Bestimmung (des Amtes), in der er uns die wahren Presbyter beschrieben und damit gezeigt hat, was die haben müssen, die als solche angesehen werden wollen. Wenn sie nun aber ein so hartes Gesetz nicht zu tragen vermögen, daß sie sich der Regel Christi unterwerfen, so sollen sie wenigstens zulassen, daß diese Sache auf Grund der Autorität der ursprünglichen Kirche abgemacht wird. Aber sie
werden keineswegs besser daran sein, wenn über ihren Zustand nach den alten Kirchensatzungen geurteilt wird. Die Leute, die (heutzutage) zu Kanonikern entartet sind, sollten eigentlich Presbyter sein, so wie es einst die waren, die mit dem Bischof gemeinsam die Kirche leiteten und gleichsam im Hirtenamt seine Amtsgenossen waren. Jene sogenannten „Würdenträger in den Kapiteln“ (dignitates capitulares) haben überhaupt mit der wahren Regierung der Kirche nichts zu tun, noch viel weniger die Kaplanschaften und der sonstige Bodensatz solcher Titel. Wofür sollen wir sie deshalb alle miteinander halten? Auf jeden Fall schließt sie das Wort Christi und auch der Brauch der Alten Kirche von der Ehre des Presbyteramtes aus. Trotzdem behaupten sie, sie seien Presbyter. Aber man muß ihnen die Maske vom Gesicht reißen; dann werden wir finden, daß ihr ganzer Beruf mit jenem Amt der Presbyter, das uns die Apostel beschreiben und das in der ursprünglichen Kirche gefordert wurde, rein nichts zu tun hat und weit von ihm entfernt ist. Alle solchen Rangstufen - mit was für Titeln sie auch ausgezeichnet sein mögen - sind also neue Fündlein, die jedenfalls weder auf Gottes Stiftung, noch auf die Ordnung der Alten Kirche gestützt sind, und deshalb dürfen sie in der Ordnung des geistlichen Regiments, das die Kirche als von dem Mund des Herrn selber geheiligt empfangen hat, keinen Platz einnehmen. Oder - wenn sie lieber wollen, daß ich ungeschliffener und gröber rede -: da die Kapläne, Kanoniker, Dekane, Pröpste und dergleichen faule Bäuche nicht einmal mit dem kleinsten Finger irgendein Stücklein von jener Amtspflicht anrühren, die von den Presbytern notwendig verlangt wird, so ist es nicht zu ertragen, daß sie sich fälschlich solche Ehre anmaßen und dadurch Christi heilige Stiftung entweihen.
IV,5,11
Jetzt sind noch die Bischöfe und die Pfarrherren übrig. Ach, wenn sie sich doch anstrengten, bei ihrer Amtspflicht zu bleiben! Denn wir würden ihnen gern zugeben, daß sie ein frommes und herrliches Amt haben- wenn sie es nur ausübten! Aber wenn sie die ihnen anvertrauten Kirchen verlassen, die Sorge um sie auf andere abwälzen und trotzdem für „Hirten“ gehalten werden wollen, so tun sie gerade so, als ob das Amt eines Hirten darin bestände, nichts zu tun. Wenn sich ein Wucherer, der nie einen Fuß vor die Stadt gesetzt hätte, für einen Bauern oder Weingärtner ausgäbe, oder wenn sich ein Kriegsknecht, der fortgesetzt auf dem Schlachtfeld oder im Lager lebte, aber nie ein Gericht oder Bücher zu sehen bekommen hätte, für einen Rechtsgelehrten verkaufen wollte - wer wollte dann solche unsinnigen Nichtsnutzigkeiten ertragen? Aber diese Leute tun noch etwas wesentlich Widersinnigeres, indem sie als rechtmäßige Hirten der Kirche erscheinen und bezeichnet werden möchten und es doch nicht (einmal) sein wollen. Denn wie wenige sind unter ihnen, die auch nur zum Schein die Regierung ihrer Kirche führen! Die meisten verzehren ihr Leben lang die Einkünfte von Kirchen, die sie nicht einmal zum Zweck der Aufsichtsführung je besuchen. Andere kommen im Jahre einmal selber hin oder schicken ihren Verwalter, damit nichts an der Pacht in Verlust gerät. Als diese Verderbnis zuerst aufkam, da machten sich die, die diese Art von Müßiggang genießen wollten, noch durch (besondere) Privilegien frei; jetzt aber ist es ein seltenes Beispiel, wenn jemand in seiner Kirche wohnt. Sie sehen nämlich in den Kirchen nichts anderes als Landhäuser, deren Leitung sie ihren Vikaren gleich Verwaltern oder Pächtern übertragen. Aber das ist auch selbst dem natürlichen Empfinden zuwider, daß einer der Hirte einer Herde ist, der nie ein Schaf aus ihr zu sehen bekommen hat.
IV,5,12
Schon zur Zeit Gregors (I.) sind offenbar gewisse Keime des Übelstandes vorhanden gewesen, daß die Vorsteher der Kirchen in der Unterweisung recht nachlässig zu sein begannen; denn an einer Stelle führt er darüber ernste Klage. „Die Welt“, sagt er, „ist voll von Priestern, und doch findet man selten einen Arbeiter in der Ernte; denn wir übernehmen zwar das priesterliche Amt, aber das Werk, das zu diesem Amt gehört, das richten wir nicht aus“ (Predigten über die
Evangelien I,17,3). Ebenso: „Weil sie das Herzblut der Liebe nicht haben, darum wollen sie als Herren angesehen werden; aber daß sie Vater sind, das erkennen sie überhaupt nicht; den Platz der Niedrigkeit verwandeln sie in den Stolz der Herrschaft“ (Ebenda). Oder ebenso: „Aber wir, ihr Hirten, was tun wir, wenn wir den Lohn empfangen, aber keine Werkleute sind? ... Wir sind auf Dinge verfallen, die uns nichts angehen. Wir übernehmen das eine, aber wir tun etwas anderes. Wir verlassen den Dienst der Predigt, und wie ich sehe, werden wir zu unserer Strafe Bischöfe genannt, wir, die wir allein den Titel der Ehre, nicht aber den der Tugend führen“ (Ebenda). Wenn Gregor solch harte Worte gegen Leute gebraucht, die in ihrem Amte bloß weniger eifrig und fleißig waren - was würde er dann wohl, frage ich, sagen, wenn er sähe, daß unter den Bischöfen fast keiner oder jedenfalls nur selten einer, unter den übrigen kaum einer unter hundert je eine Kanzel besteigt? Denn man ist dermaßen von Sinnen geraten, daß es allgemein als eine Sache gilt, die unter der Würde eines Bischofs ist, wenn einer eine Predigt an das Volk hält. Zur Zeit des Bernhard (von Clairvaux) waren die Dinge bereits wesentlich schlimmer in Verfall geraten (als zu Gregors Zeiten); aber wir sehen auch, mit was für bitteren Vorwürfen er gegen den ganzen Stand losfährt; und doch ist anzunehmen, daß dieser damals nicht wenig besser in Ordnung war, als er es heute ist.
IV,5,13
Wenn jemand die ganze Gestalt des Kirchenregiments, wie sie heutzutage unter dem Papsttum besteht, gehörig erwägt und untersucht, so wird er finden, daß es keine Räuberhöhle gibt, in der die Räuber willkürlicher ohne Gesetz und Maß wüteten. Auf jeden Fall ist dort alles der Einsetzung Christi dermaßen unähnlich, ja fremd, man ist von den alten Einrichtungen und Sitten der Kirche dermaßen abgefallen, man lebt in solchem Widerspruch gegen Natur und Vernunft, daß man Christus gar keine größere Unehre antun kann, als indem man seinen Namen als Vorwand zur Verteidigung solch ordnungswidrigen Regiments benutzt. Wir sind - so sagt man - die Pfeiler der Kirche, die Obersten in der Religion, wir sind die Stellvertreter Christi, die Häupter der Gläubigen; denn die apostolische Vollmacht ist durch die Aufeinanderfolge (der Bischöfe) auf uns gekommen. Immerzu brüsten sie sich mit solchen Nichtsnutzigkeiten - als ob sie zu Klötzen sprächen! Jedesmal aber, wenn sie darauf pochen, so frage ich sie wiederum, was sie denn mit den Aposteln gemeinsam hätten. Denn es handelt sich hier nicht um eine erbliche Würde, die man einem im Schlafe übertragen könnte, sondern um das Predigtamt, dem sie so sehr aus dem Wege gehen. Und ähnlich: wenn wir erklären, ihr Regiment sei die Tyrannei des Antichrists, so wenden sie immerzu ein, es sei jene verehrungswürdige „Hierarchie“, die so oft von großen und heiligen Männern gepriesen worden sei. Als ob die heiligen Väter, wenn sie die kirchliche Hierarchie oder das geistliche Regiment, wie es ihnen von den Aposteln überliefert war, hoch rühmten, im Traum an dieses mißgestaltete und von Verwüstung erfüllte Chaos gedacht hätten, wo die Bischöfe entweder zuallermeist ungebildete Esel sind, die nicht einmal die ersten und bekanntesten Grundelemente des Glaubens kennen, oder auch Kinder, die eben frisch von der Säugamme kommen, wo, wenn es einige gibt, die etwas gelehrter sind - was jedoch selten der Fall ist -, diese das Bischofsamt für nichts anderes halten als für einen Titel von Prunk und Gepränge, wo die Vorsteher der Kirchen ebensowenig an das Weiden ihrer Herde denken wie der Schuster ans Ackerbauen, und wo alles in einer mehr als babylonischen Verwirrung so durcheinandergebracht ist, daß von der Einrichtung der Väter keine unversehrte Spur mehr zum Vorschein kommt.
IV,5,14
Wie sieht es nun aus, wenn wir jetzt auf den Lebenswandel zu sprechen kommen? Wo ist da wohl jenes „Licht der Welt“, das Christus fordert, wo ist das „Salz der Erde“ (Matth. 5,14.13)? Wo ist wohl jene Heiligkeit, die gleichsam als
beständige Lebensregel dienen könnte? Kein Stand unter den Menschen ist heutzutage berüchtigter wegen seiner Ausschweifungen, seiner Verweichlichung, seiner Vergnügungen, kurz jeder Art von Begierden, aus keinem Stand kommen geschicktere und erfahrenere Meister in allerlei Falschheit, Betrug, Verrat und Treulosigkeit, nirgendwo findet man soviel Getriebenheit und Verwegenheit, Schaden zu tun! Ich schweige noch von der Aufgeblasenheit und dem Hochmut, der Raubgier und der Wildheit. Ich schweige von der ungebundenen Willkür in allen Stücken der Lebensführung. Die Welt ist es dermaßen müde, sich dergleichen gefallen zu lassen, daß ich nicht befürchten muß, den Anschein zu erwecken, als ob ich etwas gar zu sehr übertriebe. Ich sage nur eins, was sie selber nicht werden leugnen können: wenn man auf Grund der alten Kirchensatzungen ein Urteil über ihren Lebenswandel sprechen sollte, so wäre unter den Bischöfen beinahe nicht ein einziger, unter den Vorstehern der Pfarreien nicht einer unter hundert, der nicht in den Bann getan oder wenigstens seines Amtes entsetzt werden müßte. Es hat den Anschein, als ob ich etwas Unglaubliches ausspräche, so sehr ist die alte Zucht, die eine schärfere Untersuchung über den Lebenswandel des Klerus vorzunehmen gebot, in Abgang geraten; aber die Verhältnisse sind tatsächlich so!
Jetzt sollen die, die unter der Fahne und Leitung des römischen Stuhles Kriegsdienst tun, ruhig hingehen und sich des Priesterstandes rühmen, der bei ihnen vorhanden ist. Jedenfalls stammt der, den sie haben, offenbar weder von Christus noch von seinen Aposteln, noch von den Vätern, noch von der Alten Kirche.
IV,5,15
Jetzt sollen die Diakonen hervortreten, dazu auch jene hochheilige Austeilung der kirchlichen Güter, die sie üben: Allerdings setzen sie ihre Diakonen keineswegs mehr zu diesem Behuf ein; denn sie tragen ihnen nichts anderes auf, als daß sie Altardienst verrichten, das Evangelium verlesen und singen und wer weiß was sonst für Possen treiben. Keine Rede von Almosen, keine Rede von der Fürsorge für die Armen, keine Rede von der ganzen Amtsaufgabe, die sie einstmals innehatten! Ich rede hier von der eigentlichen Einrichtung (des Diakonenamtes); denn wenn wir auf das blicken, was sie verrichten, dann haben sie tatsächlich kein Amt, sondern es handelt sich nur um eine Stufe zur Presbyterwürde. In einem einzigen Stück legen die, die in der Messe als Diakonen wirken, einen leeren Schein der alten Einrichtung an den Tag: sie nehmen nämlich vor der Konsekration die Opfergaben in Empfang. Die alte Gewohnheit bestand darin, daß sich die Gläubigen vor dem gemeinschaftlichen Genuß des heiligen Abendmahls gegenseitig küßten und ihre Almosen am Altar opferten; so gaben sie zunächst durch jenes Merkzeichen (den Kuß) und dann auch durch Wohltun selbst ihre Liebe zu erkennen. Der Diakon, der ja der Verwalter für die Armen war, nahm das, was gegeben wurde, in Empfang, um es zu verteilen. Heutzutage aber kommt den Armen von jenen Almosen ebensowenig zugute, als wenn sie (alle) ins Meer geworfen würden. Mit solchem lügenhaften „Diakonat“ verspottet man also die Kirche. Auf jeden Fall haben die Papisten darin nichts, was mit der apostolischen Stiftung oder auch mit dem, was die Alten beobachtet haben, eine Ähnlichkeit hätte.
Die Austeilung der Güter selbst aber haben sie anderswohin verbracht und so eingerichtet, daß man sich nichts Ordnungswidrigeres vorstellen kann. Wie nämlich die Räuber, nachdem sie den Menschen den Hals herumgedreht haben, die Beute unter sich verteilen, so machen sie es auch: nachdem das Licht des Wortes Gottes ausgelöscht und die Kirche gleichsam erwürgt ist, sind sie auf die Meinung geraten, daß alles, was man zu heiligem Gebrauch geweiht hat, dem Raub und der Ausplünderung preisgegeben sei. Deshalb haben sie es verteilt, und dann hat sich jeder errafft, soviel er vermochte.
IV,5,16
Hier sind alle jene alten Grundsätze, die wir dargelegt haben, nicht allein durcheinandergebracht, sondern ausgetilgt und zunichte gemacht. Das beste Stück (aus den Kirchengütern) haben die Bischöfe und die städtischen Presbyter (Stadtpriester), die, durch diese Beute reich geworden, in Kanoniker verwandelt worden sind, plündernd untereinander verteilt. Daß die Verteilung trotzdem unter Tumult vor sich gegangen ist, wird daran offenbar, daß sie bis auf den heutigen Tag über die (gegenseitigen) Grenzen miteinander im Streite liegen. Wie dem auch sei - durch diese Abmachung ist dafür gesorgt, daß von allen Gütern der Kirche nicht ein einziger Pfennig an die Armen gelangt, denen sie doch wenigstens zur Hälfte zukamen. Denn die Kirchensatzungen sprechen ihnen ausdrücklich den vierten Teil (des Kirchenvermögens) zu, und ein weiteres viertel weisen sie den Bischöfen zu dem Zweck zu, daß sie es zur Gastfreiheit und zu anderen Pflichten der Wohltätigkeit ausgeben. Ich schweige davon, was die Kleriker mit ihrem Anteil machen und zu welchem Gebrauch sie ihn verwenden sollten; denn ich habe bereits zur Genüge dargetan, daß auch der Rest, der für die Kirchen, Gebäude und andere Ausgaben bestimmt ist, in der Not den Armen zur Verfügung stehen muß. Ich frage nur: wenn diese Papisten auch nur einen einzigen Funken Gottesfurcht im Herzen hätten - würden sie dann das Bewußtsein ertragen können, daß alles, was sie an Nahrung und Kleidung wenden, aus Diebstahl, ja aus Tempelraub herrührt? Aber weil sich diese Leute von Gottes Gericht gar wenig rühren lassen, so sollten sie doch wenigstens bedenken, daß es Menschen sind, mit Empfinden und Vernunft begabt, denen sie weismachen wollen, sie hätten in ihrer Kirche so herrliche und wohlgeordnete Stände, wie sie es rühmend zu behaupten pflegen. Sie sollen mir doch nur kurz antworten, ob denn die Diakonie wirklich die willkürliche Freiheit zum Stehlen und Rauben ist. Wenn sie das leugnen, dann müssen sie auch notgedrungen eingestehen, daß sie keinerlei Diakonie mehr haben; denn bei ihnen ist die ganze Verwaltung der Kirchengüter offenkundig zu einer heiligtumsschänderischen Ausraubung geworden!
IV,5,17
Aber hier wenden sie nun eine ganz feine Deckfarbe an: sie sagen nämlich, durch diese Prachtentfaltung werde die Würde der Kirche in sehr geziemender Weise aufrechterhalten. Sie haben auch in ihrer Sekte gewisse Leute, die dermaßen unverschämt sind, daß sie offen zu rühmen wagen, jene Weissagungen, mit denen die alten Propheten die Herrlichkeit des Reiches Christi beschreiben, gingen erst dadurch in Erfüllung, daß am Priesterstande solch königliche Pracht sichtbar sei. Gott hat doch, so sagen sie, seiner Kirche verheißen: „Könige werden kommen und vor dir anbeten und dir Gaben zutragen“ (Ps. 72,10f.; nicht Luthertext), er hat doch verheißen: „Mache dich auf, mache dich auf, Zion! Zieh deine Stärke an, schmücke dich herrlich, Jerusalem! ... Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen. Alle Herden in Kedar sollen zu dir versammelt werden ...” (Jes. 52,1; 60,6f.)! Diese Weissagungen, so meinen sie, sind doch nicht umsonst geschehen! Wenn ich nun diese Frechheit ausführlich widerlegen wollte, so müßte ich fürchten, ich könnte albern erscheinen. Deshalb habe ich keine Lust, ohne Grund Worte zu verlieren. Ich frage aber doch: wenn nun irgendein Jude solche Zeugnisse mißbrauchen würde, was würden sie ihm dann für eine Erklärung geben? Sie würden selbstverständlich seinen Stumpfsinn tadeln, weil er das, was geistlich über Christi geistliches Reich gesagt ist, auf Fleisch und Welt bezöge. Denn wir wissen, daß uns die Propheten unter dem Bilde irdischer Dinge Gottes himmlische Herrlichkeit abgezeichnet haben, die in der Kirche leuchten soll. Denn an jenen Segnungen, die die Worte der Propheten
zum Ausdruck bringen, hat die Kirche niemals weniger Überfluß gehabt als unter den Aposteln, und doch geben alle Leute zu, daß damals die Kraft des Reiches Christi in höchster Blüte stand! Was haben nun jene Aussagen der Propheten für einen Sinn? Doch diesen: alles, was je kostbar, erhaben und herrlich ist, das muß dem Herrn unterworfen werden. Was da aber ausdrücklich von den Königen zu lesen steht, nämlich daß sie Christus ihre Gewalt unterstellen, ihm ihre Kronen zu Füßen werfen und der Kirche ihre Reichtümer weihen werden - wann soll das wohl, so wird man (mit mir) sagen, wahrhaftiger und völliger in Erfüllung gegangen sein als damals, als Theodosius den Purpur von sich warf, die kaiserlichen Machtzeichen hinter sich ließ und sich wie irgendein Mensch aus dem Volke vor Gott und der Kirche zu feierlicher Buße unterwarf? Wann soll es vollständiger erfüllt worden sein als damals, als er selbst und andere fromme Fürsten seinesgleichen ihren Eifer und ihre Sorge an die Erhaltung der reinen Lehre in der Kirche und an die Unterstützung und Schirmung der rechtgesinnten Lehrer wandten? Wie rein gar nicht aber dazumal die Priester in überflüssigem Besitz schwelgten, das gibt ein einziges Wort der Synode von Aquileja, deren Vorsitz Ambrosius führte, genugsam zu erkennen: „An den Dienern des Herrn ist Armut glorreich“. Sicherlich besaßen damals die Bischöfe einiges Vermögen, mit dessen Hilfe sie der Kirche einen sichtbaren Glanz hätten geben können, wenn sie gemeint hätten, dergleichen sei der wahre Zierat der Kirche. Aber da sie wußten, daß der Amtspflicht der Hirten nichts mehr zuwider ist, als durch die Genüsse der Tafel, die Pracht der Gewänder, die Größe der Dienerschaft und die Großartigkeit der Paläste Glanz zu entfalten und Hoffart zu treiben, so befleißigten sie sich und huldigten sie der Demut und Bescheidenheit, ja, der Armut selbst, die Christus unter seinen Dienern geheiligt hat.
IV,5,18
Aber um nicht zu weitschweifig zu werden, wollen wir wiederum in einer kurzen Summe zusammenfassen, wie weit die heutzutage geübte Austeilung oder (vielmehr) Verschwendung der Kirchengüter von der wahren Diakonie entfernt ist, wie sie uns das Wort Gottes ans Herz legt und wie sie auch die Alte Kirche gewahrt hat. Was man auf die Ausschmückung der Kirchengebäude verwendet, das ist, so behaupte ich, falsch angewandt, wofern nicht das Maß gehalten wird, das die Natur der Heiligtümer vorschreibt und das uns auch die Apostel und andere heilige Väter durch Unterweisung wie durch ihr eigenes Vorbild vorgezeichnet haben. Aber was bekommt man davon heutzutage in den Kirchen zu sehen? Alles, was - ich sage nicht: nach jener ursprünglichen Schlichtheit, sondern - überhaupt nach irgendeinem anständigen Mittelmaß geartet ist, das wird verächtlich beiseitegeschoben. Allgemein findet nur das Billigung, was nach Üppigkeit und nach der Verderbnis der Zeit schmeckt. Unterdessen ist man so weit davon entfernt, die gehörige Fürsorge für die lebendigen Tempel walten zu lassen, daß man lieber viele tausend Arme am Hunger zugrunde gehen lassen würde, als auch nur den geringsten Kelch oder das geringste Krüglein zu zerbrechen, um ihren Mangel zu beheben. Um nicht von mir aus etwas allzu Hartes auszusprechen, möchte ich nur, der fromme Leser würde einmal folgendes bedenken: wenn der oben genannte Bischof Exuperius von Toulouse, wenn Acatius, wenn Ambrosius oder irgendeiner ihresgleichen heute von den Toten auferstehen sollte - was sollte er wohl sagen? Diese Männer würden es wahrscheinlich nicht gutheißen, daß man bei solcher Not der Armen die Güter einem anderen Zweck zuführte, als ob sie (zu ihrem eigentlichen Zweck) überflüssig wären! Ich will noch davon schweigen, daß die Verwendungsarten, denen man sie dienen läßt, selbst dann in vieler Hinsicht schädlich, aber in keiner Weise nutzbringend wären, wenn es keine Armen gäbe. Aber ich lasse die Menschen beiseite. Diese Güter sind doch Christus geheiligt, und deshalb müssen sie auch nach seinem Urteil verteilt werden. Vergebens werden die Papisten aber so tun, als ob sie den Teil für Christus aufgewandt hätten, den sie ohne seinen Befehl ver-
schwendet haben. Allerdings - um die Wahrheit zu sagen -: durch diese Ausgaben (nämlich für die Kirchengebäude) geht von den ordentlichen Einkünften der Kirche nicht sehr viel verloren. Denn die Bistümer mögen noch so reich, die Abteien noch so fett, die Pfarrpfründen schließlich mögen noch so zahlreich, noch so glänzend sein, so reichen sie doch alle nicht hin, um der Gefräßigkeit der Priester zu genügen. Es ist vielmehr so: sie wollen sich selbst schonen, und deshalb bringen sie das Volk durch Aberglauben dazu, daß es die Mittel, die eigentlich den Armen zugute kommen müßten, auf die Erbauung von Kirchengebäuden, die Errichtung von Standbildern, den Kauf von Gefäßen und den Erwerb kostbarer Gewänder verwendet. Auf diese Weise werden die täglichen Almosen von diesem Abgrund verschlungen.
IV,5,19
Was soll ich nun von den Einkünften, die sie aus Grundstücken und Besitztümern empfangen, anders sagen, als was ich bereits dargelegt habe und was auch vor aller Augen ist? Wir sehen ja, mit was für einer Treue die Leute, die man Bischöfe und Äbte nennt, den größten Teil davon verwalten. Was ist es für ein Wahnwitz, hier kirchliche Ordnung zu suchen? Ist es etwa schicklich, daß die, deren Leben ein einzigartiges Vorbild der Genügsamkeit, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit und Demut sein sollte, in der Zahl ihrer Dienerschaft, im Glanz ihrer Häuser und im Prunk ihrer Gewänder und Mähler mit dem Wohlleben der Fürsten wetteifern? Gottes ewige und unverletzliche Weisung verbietet ihnen doch, nach schnödem Gewinn zu trachten, und verlangt von ihnen, daß sie mit schlichter Nahrung zufrieden sind (Tit. 1,7); wie sehr steht aber dann auch dies zu ihrer Amtspflicht im Widerspruch, daß sie nicht allein auf Dörfer und Burgen die Hand legen, sondern sich auch auf die ausgedehntesten Fürstentümer losstürzen und schließlich ganze Reiche mit Beschlag belegen? Wenn sie das Wort Gottes verachten, was wollen sie dann (wenigstens) auf jene Verordnungen der Synoden antworten, in denen festgesetzt wird, der Bischof solle nicht weit von der Kirche sein Häuslein haben, sein Tisch und Hausrat solle schlicht sein? Was wollen sie zu jenem Ausspruch der Synode von Aquileja sagen, in welchem gerühmt wird, an den Priestern des Herrn sei Armut etwas Glorreiches? Denn die Weisung, die einst Hieronymus dem Nepotian erteilte, es sollten zu seinem Tisch die Armen und die Fremdlinge und mit ihnen Christus als Tischgast Zugang haben, die werden sie wahrscheinlich als gar zu streng verwerfen! Aber was er gleich anfügt, das werden sie sich schämen zu leugnen, nämlich: der Ruhm eines Bischofs sei es, für den Besitz der Armen zu sorgen, eine Schande für alle Priester aber, wenn sie nach eigenen Reichtümern trachteten. Dies aber können sie nicht annehmen, ohne sich allesamt zur Schmach zu verurteilen. Aber es ist nicht erforderlich, sie hier härter zu verfolgen, weil ich keine andere Absicht hatte als zu beweisen, daß bei ihnen schon seit langem der rechtmäßige Stand der Diakonen verschwunden ist. Das wollte ich zeigen, damit sie sich dieses Titels nicht weiterhin zum Preis ihrer Kirche hochmütig rühmten. Und ich glaube, daß ich das genugsam vollbracht habe.
Sechstes Kapitel
Von der Obergewalt des römischen Stuhles
IV,6,1
Bisher haben wir diejenigen Rangstufen in der Kirche behandelt, die bereits bei der Regierung der Alten Kirche bestanden haben, hernach aber mit der Zeit verderbt und dann mehr und mehr verfälscht worden sind und heute in der päpstlichen Kirche nur noch ihren Namen beibehalten haben, in Wirklichkeit aber nichts anderes als Masken darstellen. Diese Erörterung hatte den Zweck, daß der fromme Leser auf Grund des Vergleiches ein Urteil darüber gewinnen sollte, was die Römischen eigentlich für eine Kirche haben, um derentwillen sie uns der Kirchenspaltung (schisma) beschuldigen, weil wir uns ja von ihr geschieden haben.
Das Haupt aber und die Spitze der ganzen Stufenordnung, nämlich die Obergewalt (den „Primat“) des römischen Stuhls, von der aus sie zu beweisen bestrebt sind, daß allein bei ihnen die katholische Kirche sei, haben wir dabei nicht berührt. Denn diese Obergewalt hat ihren Ursprung weder aus der Einsetzung Christi noch aus der Gepflogenheit der Alten Kirche genommen - im Gegensatz zu den oben genannten Ämtern, die, wie wir gezeigt haben, von der alten Zeit ausgegangen sind, freilich so, daß sie durch die Verderbnis der Zeiten ganz und gar entartet sind, ja, eine völlig neue Gestalt angenommen haben.
Und trotzdem suchen die Römischen der Welt einzureden, das vornehmste und nahezu einzige Band der kirchlichen Einheit sei dann gegeben, wenn wir dem römischen Stuhle anhingen und im Gehorsam gegen ihn verharrten. Die Stütze, sage ich, auf die sie vor allem bauen, wenn sie uns die Kirche absprechen und sie sich selber zueignen wollen, besteht in der Behauptung, sie besäßen eben das Haupt, von dem die Einheit der Kirche abhinge und ohne das sie notwendig zerspringen und zerbrechen müßte. Sie meinen das nämlich so: die Kirche sei gewissermaßen ein unvollständiger, verstümmelter Leib, wenn sie nicht dem römischen Stuhl, gleichsam als ihrem Haupte, unterworfen sei. Wenn sie also über ihre „Hierarchie“ Erörterungen anstellen, so nehmen sie ihren Ausgangspunkt stets bei dem Grundsatz: Der Bischof von Rom ist gleichsam der Statthalter Christi, der das Haupt der Kirche ist; als solcher hat er an Christi Statt die Führung der gesamten Kirche, und die Kirche ist nur dann recht eingerichtet, wenn der römische (Bischofs-) Stuhl über alle anderen die Obergewalt innehat. Deshalb müssen wir auch nachprüfen, wie es hierum steht, damit wir nichts übergehen, was zum rechten Regiment der Kirche gehört..
IV,6,2
Die gestellte Frage soll also sein, ob es zur wahren Gestalt der von ihnen so genannten „Hierarchie“ oder der kirchlichen Leitung erforderlich ist, daß ein (Bischofs-) Sitz unter den anderen an Würde und Macht den Vorrang hat, so daß er also das Haupt des ganzen Leibes wäre. Wir unterwerfen aber die Kirche doch gar zu unbilligen Gesetzen, wenn wir ihr solche Notwendigkeit ohne das Wort Gottes auferlegen. Wollen also unsere Widersacher das, was sie verlangen, auch beweisen, so müssen sie zunächst zeigen, daß diese Ordnung von Christus eingesetzt sei.
Zu diesem Zweck führen sie aus dem Gesetz den Hohenpriester an, ebenso auch das oberste Gericht, das Gott in Jerusalem eingesetzt hatte. Aber darauf
ist leicht zu antworten, und zwar auf vielfältige Weise, sofern sich die Widersacher an einer einzigen Antwort nicht genügen lassen.
Zunächst: es gibt keinen zwingenden Grund, das, was in einem Volke von Nutzen war, auf die ganze Welt auszudehnen. Ja, es wird doch wohl etwas wesentlich anderes sein, ob es sich um ein einziges Volk oder um die ganze Welt handelt! Die Juden waren doch ringsum von Götzendienern umgeben, und damit sie nun nicht durch eine Vielartigkeit von Religionen auseinandergezogen wurden, so hat Gott den Sitz seiner Verehrung mitten im Schoß des Landes aufgerichtet; dort hat er auch einen einzigen Vorsteher eingesetzt, auf den sie alle ihren Blick richten sollten, um dadurch besser in der Einheit erhalten zu werden. Jetzt aber ist doch die wahre Religion über die ganze Welt verbreitet, und wer sieht da nicht, daß es völlig widersinnig wäre, wenn man die Regierung des Ostens und des Westens einem einzigen Menschen übergäbe? Das wäre genau so, als wenn jemand die Behauptung aufstellte, die ganze Welt müsse von einem einzigen Amtmann regiert werden, und zwar, weil eben ein einziges Gebiet nicht mehrere Amtmänner hätte!
Aber es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb jene (oben genannte) Tatsache nicht als Beispiel genommen werden darf. Jedermann weiß doch, daß jener Hohepriester ein Vorbild auf Christus gewesen ist. Nun ist aber „das Priestertum verändert“, also „muß auch das Gesetz verändert werden“ (Hebr. 7,12). Auf wen ist nun aber das Priestertum übertragen worden? Doch ganz gewiß nicht auf den Papst, wie dieser unverschämt zu rühmen wagt, wenn er diese Aussage auf sich bezieht, sondern auf Christus, der das Amt ohne jeglichen Statthalter oder Nachfolger ausübt und demgemäß auch die Ehre keinem anderen überläßt. Denn dieses (Hohe-) Priesteramt besteht nicht nur in der Lehre, sondern in der Versöhnung Gottes, die Christus durch seinen Tod vollbracht hat, und in jener Fürsprache, die er jetzt bei dem Vater übt.
IV,6,3
Es geht also nicht an, daß sie uns an jenes Beispiel, das doch, wie wir sehen, zeitlich gewesen ist, festbinden, als ob es ein fortwährendes Gesetz sei.
Aus dem Neuen Testament haben sie nur eine Tatsache, um sie zur Bekräftigung ihrer Meinung vorzubringen: nämlich, daß nur zu einem Apostel gesagt wurde: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde“ (Matth. 16,18), und ebenso: „Petrus, hast du mich lieb? ... Weide meine Schafe“ (Joh. 21,15-17; nicht ganz Luthertext).
Sollen aber nun solche Beweise tragfest sein, so müssen die Papisten vor allem zeigen, daß der, dem die Weisung zuteil wird, er solle Christi Herde weiden, damit die Macht über alle Kirchen anvertraut erhält; ferner müssen sie nachweisen, daß „Binden“ und „Lösen“ nichts anderes bedeutet, als die Führung der ganzen Welt innezuhaben.
Wie nun aber Petrus vom Herrn jenen Auftrag empfing, so ermahnt er wiederum alle anderen Presbyter, die Kirche zu weiden (1. Petr. 5,2). Daraus läßt sich die Folgerung ziehen, daß dem Petrus entweder durch jenes Wort des Herrn gar nichts gegeben worden ist, das er vor anderen voraus gehabt hätte, oder aber daß Petrus das Recht, das er empfangen hatte, mit den anderen in gleichem Maße geteilt hat. Wir haben aber, damit wir nicht umsonst streiten, an anderer Stelle aus dem Munde Christi eine klare Auslegung, (die uns zeigt,) was „Binden“ und „Lösen“ bedeutet; es bedeutet nämlich, die Sünden zu „behalten“ und zu „erlassen“ (Joh. 20,23). Wie aber solches „Binden“ und „Lösen“ geschieht, das zeigt uns die ganze Schrift immer wieder; besonders klar aber gibt es uns Paulus zu verstehen, indem er erklärt, die Diener des Evangeliums hätten den Auftrag, die Menschen mit Gott zu versöhnen, und zugleich hätten sie die Vollmacht, gegen die, welche solche Wohltat verschmähten, Strafe zu üben (2. Kor. 5,18; 10,6).
IV,6,4
Wie unwürdig nun die Papisten jene Stellen verdrehen, die das „Binden“ und „Lösen“ erwähnen, das habe ich bereits an anderer Stelle gestreift, und es wird erst recht bald hernach ausführlicher zu entfalten sein. Jetzt ist es nur erforderlich, daß wir zusehen, was sie aus jener berühmten Antwort Christi an Petrus herausholen. Christus hat dem Petrus „des Himmelreichs Schlüssel“ verheißen, er hat ihm zugesagt, was er auf Erden binden werde, das solle auch im Himmel gebunden sein (Matth. 16,19). Wenn nun über den Ausdruck „Schlüssel“ und über die Art des „Bindens“ unter uns Einstimmigkeit herrschte, so würde jeder Streit sofort aufhören. Denn auch der Papst würde gerne die den Aposteln beigelegte Aufgabe fahrenlassen; denn sie ist voll Arbeit und Mühsal und würde ihm sein Wohlleben austreiben, ohne ihm irgendwelchen Gewinn zu bringen.
Da uns nun die Himmel durch die Lehre des Evangeliums aufgetan werden, so wird diese in einem treffenden Vergleich mit dem Namen „Schlüssel“ ausgezeichnet. Dann werden aber die Menschen auf keine andere Weise „gebunden“ und „gelöst“ als dadurch, daß die einen im Glauben mit Gott versöhnt, die anderen aber durch ihren Unglauben nur noch tiefer verstrickt werden. Wenn sich nun der Papst nur dies herausnähme, so würde nach meiner Ansicht niemand dasein, der ihm das neiden oder deswegen mit ihm Streit anfangen wollte.
Tatsächlich aber sagt dem Papst diese Nachfolgerschaft, die doch mühselig und keineswegs einträglich ist, durchaus nicht zu, und deshalb entsteht nun der Ausgangspunkt des Streites (zwischen ihm und uns) eben an der Frage, was denn Christus dem Petrus verheißen habe. Ich ziehe aus dem Tatbestand selbst die Folgerung, daß mit dieser Verheißung ausschließlich die Würde des apostolischen Amtes bezeichnet wird, die sich von der Last dieses Amtes nicht abtrennen läßt. Denn wenn man jene Bestimmung (der Begriffe „Binden“ und „Lösen“) annimmt, die ich oben aufgestellt habe - und die kann man nur aus Unverschämtheit verwerfen -, dann wird hier dem Petrus nichts gegeben, das nicht auch seinen Amtsgenossen gemeinsam gewesen ist; denn sonst würde nicht nur den Personen Unrecht zugefügt, sondern es würde auch die Majestät der Lehre selbst ans Hinken geraten.
Dagegen erheben nun die Papisten Einspruch. Aber ich bitte dich, was soll es ihnen helfen, an diesen Felsen anzustoßen? Denn sie werden es nicht ändern können, daß die Apostel, wie ihnen allen die Predigt des gleichen Evangeliums aufgetragen war, so auch gemeinsam mit der Vollmacht zum Binden und Lösen ausgerüstet waren. Die Papisten sagen: „Als Christus dem Petrus die Verheißung gab, er wolle ihm die Schlüssel geben, da hat er ihn doch zum Oberhaupt der ganzen Kirche eingesetzt.“ Aber was er damals dem einen Apostel verheißen hat, das hat er an anderer Stelle allen andern zugleich übertragen und gleichsam in die Hand gegeben (Matth. 18,18; Joh. 20,23)! Wenn nun damit allen eben das Recht zugestanden worden ist, das einem verheißen war, worin soll dann der Vorrang dieses einen bestehen? „Seine Sonderstellung“, sagen sie, „bestand darin, daß er dieses Recht sowohl gemeinsam (mit den anderen) erhielt als auch für sich besonders, während es den anderen nur gemeinsam gegeben wurde.“ Was wollen sie aber anfangen, wenn ich jetzt mit Cyprian und Augustin antworte, Christus habe das nicht etwa getan, um einen Menschen den anderen vorzuziehen, sondern um auf diese Weise die Einheit der Kirche hochzuhalten? Cyprian sagt nämlich so: in der Person eines einzigen Menschen habe der Herr allen die Schlüssel gegeben, um die Einheit aller aufzuzeigen; denn die anderen seien ja eben das gleiche gewesen, was auch Petrus war, mit gleichem Anteil an Ehre und Macht ausgestattet; Christus aber habe bei einem den Anfang gemacht, um damit zu zeigen, daß seine Kirche eine sei (von der Einheit der katholischen Kirche 4). Augustin aber
erklärt: „Wenn in Petrus nicht das Geheimnis der Kirche wäre, so würde der Herr nicht zu ihm sagen: ‚Dir werde ich die Schlüssel geben’; denn wenn das zu Petrus (allein) gesagt ist, dann hat die Kirche die Schlüssel nicht; wenn aber die Kirche die Schlüssel hat, dann bezeichnete Petrus, als er die Schlüssel empfing, die ganze Kirche“ (Predigten zum Johannesevangelium 50, 12). Und an anderer Stelle sagt er: „Es waren doch alle (von Christus) gefragt, aber Petrus allein antwortete: ‚Du bist Christus ...’; da wurde zu ihm gesagt: ‚Ich will dir die Schlüssel geben ...’ - als ob er die Gewalt, zu binden und zu lösen, allein empfangen hätte; weil er jene Antwort aber allein für die anderen gegeben hatte und demgemäß auch diesen Auftrag mit den anderen zusammen und gleichsam als einer, der die Einheit selbst in seiner Person darstellte, empfangen hat, darum wird er allein für alle genannt, weil ja zwischen allen die Einheit besteht“ (Predigten zum Johannesevangelium 11,5).
IV,6,5
Ja, sagt man, aber es steht doch irgendwo zu lesen, daß das Wort: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde“ (Matth. 16,18), (je) zu einem anderen gesagt worden ist! Als ob Christus hier von Petrus etwas anderes aussagte als Paulus und auch Petrus selber von allen Christen! Paulus nämlich erklärt Christus für den vornehmsten Eckstein, auf den alle erbaut werden sollen, die zu einem Tempel erwachsen, der dem Herrn heilig ist (Eph. 2,20-22). Petrus aber gebietet uns, „lebendige Steine“ zu sein, um als solche, auf jenen „auserwählten und köstlichen“ Stein gegründet, durch dieses Band und diese Zusammengefügtheit mit unserem Gott und untereinander verbunden zu sein (1. Petr. 2,5ff.). Ja, sagen sie, aber Petrus steht trotzdem vor allen, weil er in besonderer Weise den Namen (Fels, Stein) innehat. Ganz sicher gestehe ich dem Petrus gern die Ehre zu, daß er im Gebäu der Kirche unter den ersten seinen Platz hat oder - wenn sie auch das verlangen - unter allen Gläubigen der erste ist. Aber ich werde nicht zulassen, daß sie daraus ableiten, er habe über die anderen eine Obergewalt. Was soll das auch für ein Schlußverfahren sein, wenn man sagt: er übertraf die anderen an Glut des Eifers, an Unterweisung und Geistesgröße - also hat er auch Macht über sie? Als ob man nicht (dann auch) mit besserem Schein folgern könnte: Andreas steht nach dem Rang vor Petrus, weil er ihm zeitlich (in der Jüngerschaft) vorangegangen ist und ihn zu Christus hingeführt hat (Joh. 1,40.42)! Aber das lasse ich beiseite. Petrus möge sicherlich den ersten Platz haben. Aber es besteht doch ein großer Unterschied zwischen rangmäßiger Ehre und - Gewalt. Wir sehen, wie die Apostel dem Petrus durchweg die Aufgabe erteilt haben, in der Versammlung das Wort zu führen und gleichsam mit Berichten, Ermahnen und Ermuntern voranzugehen. Von einer (besonderen) Gewalt dagegen (die Petrus gehabt hätte) lesen wir nirgendwo ein Wort.
IV,5,6
Doch sind wir mit dieser Erörterung noch nicht beschäftigt. Für den Augenblick möchte ich nur dies feststellen: wenn unsere Gegner allein aus dem Namen des Petrus (der mit „Fels“ in Zusammenhang gebracht ist) dessen Herrschaft über die gesamte Kirche aufrichten wollen, so ist das eine gar zu oberflächliche Beweisführung. Denn jene alten Albernheiten, mit denen sie anfangs den Menschen etwas vorzumachen versuchten, sind keiner Widerlegung, ja, auch keiner Erwähnung wert. Sie sagten da, auf Petrus sei die Kirche gegründet, weil es doch hieße: „Auf diesen Felsen ...” So haben aber, wird man sagen, einige von den (Kirchen-) Vätern geredet! Gewiß, aber hier erhebt doch die ganze Schrift Einspruch, und wozu will man unter diesen Umständen die Autorität dieser Kirchenväter gegen Gott vorschützen? Ja, wozu streiten wir denn um den Sinn dieser Worte, als ob er dunkel oder zweideutig wäre, wo doch gar nichts Klareres und Gewisseres hätte gesagt werden können? Petrus hatte in seinem und der Brüder Namen bekannt, daß Christus der Sohn Gottes sei (Matth. 16,16). Auf diesen Felsen baut Christus seine Kirche, weil er, wie Paulus sagt, das einige Fundament ist, außer dem kein anderes gelegt
werden kann (1. Kor. 3,11). Ich verwerfe auch hier die Autorität der Väter nicht etwa deshalb, weil mir Zeugnisse von ihrer Seite zur Bestätigung meiner Behauptung abgingen, wenn ich sie heranzuziehen Lust hätte; nein, ich will, wie ich bereits ausführte, den Lesern nicht durch Streiten über eine so klare Sache unnütz lästig fallen, vor allem, da diese Angelegenheit von unseren Männern bereits vor langer Zeit mit ausreichender Gründlichkeit behandelt und entfaltet worden ist.
IV,6,7
Und doch kann tatsächlich niemand diese Frage besser lösen als die Heilige Schrift selber, wenn wir alle Stellen zueinanderbringen, an denen sie lehrt, was für ein Amt und was für eine Macht Petrus unter den Aposteln besessen, wie er sich verhalten hat und wie er auch von ihnen aufgenommen worden ist. Man gehe alle vorhandenen Berichte durch, so wird man nichts anderes finden, als daß er einer aus der Zahl der Zwölfe war, den anderen gleichgestellt, ihr Mitgenosse, aber nicht ihr Herr. Er bringt zwar in ihrem Rat vor, was je zu tun ist, und er ermahnt sie, was geschehen müsse; aber er hört zugleich auch auf die anderen, und er gibt ihnen nicht nur die Möglichkeit, ihre Meinung auszusprechen, sondern überläßt ihnen die Entscheidung; wo sie etwas festgesetzt haben, da folgt er und gehorcht (Apg. 15,5ff.). Als er an die Hirten schreibt, da gibt er seine Weisungen nicht auf Grund einer Befehlsgewalt, als ob er über ihnen stünde, sondern er behandelt sie als seine Amtsgenossen und ermahnt sie freundschaftlich, wie es unter Gleichgestellten zu geschehen pflegt (1. Petr. 5,1ff). Er wurde angeschuldigt, weil er zu Heiden eingegangen war; das geschah zwar, ohne daß er solchen Vorwurf verdient hätte, aber trotzdem antwortete er und reinigte er sich (Apg. 11,3ff.). Die Amtsgenossen beauftragten ihn, mit Johannes nach Samaria zu gehen - und er weigert sich nicht (Apg. 8,14). Indem die Apostel ihn aussenden, machen sie deutlich, daß sie ihn durchaus nicht für ihren Vorgesetzten halten; indem er selbst gehorcht und die ihm aufgetragene Sendung übernimmt, gibt er zu, daß er mit ihnen in Gemeinschaft steht, aber keine Herrschaft über sie ausübt.
Selbst wenn alle diese Berichte nicht vorhanden wären, so könnte uns doch allein der Brief an die Galater mit Leichtigkeit jeden Zweifel nehmen. Da behauptet Paulus fast zwei Kapitel hindurch nichts anderes, als daß er hinsichtlich der Würde des Apostelamtes dem Petrus gleichgestellt sei. Von da aus erinnert er daran, daß er zu Petrus gekommen sei, nicht etwa, um seine Unterworfenheit zu zeigen, sondern allein, um allen ihre Übereinstimmung in der Lehre bezeugt sein zu lassen. Er berichtet weiter, daß auch Petrus selbst nichts derartiges von ihm verlangt, sondern ihm „die rechte Hand“ (zum Zeichen) der Gemeinschaft gegeben hat, damit sie gemeinsam im Weinberg des Herrn arbeiteten. Er erklärt, daß ihm keine geringere Gnade unter den Heiden zuteil geworden sei als dem Petrus unter den Juden (Gal. 1,18; 2,8). Schließlich erzählt er, wie Petrus, als er nicht ganz treulich gehandelt hatte, von ihm zurechtgewiesen worden ist und dieser Zurechtweisung auch Gehorsam geleistet hat (Gal. 2,11-14). All dies macht offenbar, daß entweder zwischen Paulus und Petrus Gleichheit herrschte, oder daß jedenfalls Petrus den anderen gegenüber nicht mehr Macht besessen hat als diese ihm gegenüber. Dies aber behandelt Paulus, wie ich bereits sagte, mit voller Absicht: es sollte ihm keiner den Petrus oder den Johannes im Apostelamt vorziehen, weil diese eben seine Amtsgenossen, nicht aber seine Herren waren.
IV,6,8
Aber ich will ihnen einmal mit Bezug auf Petrus zugeben, was sie gern haben möchten; ich will also anerkennen, er sei wirklich der Oberste unter den Aposteln gewesen und habe an Würde einen Vorrang vor den übrigen gehabt. Selbst wenn ich das tue, so besteht doch keine Ursache, aus einem einzigartigen Beispiel eine allgemeine Regel zu machen und das, was einmal geschehen ist, auf ewige Zeiten zu beziehen: denn das ist eine völlig andere Sache.
Unter den Aposteln war (das will ich einmal zugeben) einer der oberste, weil sie eben wenige an Zahl waren. Wenn nun über zwölf Menschen ein einziger Mann gesetzt war - ergibt sich daraus etwa, daß auch über hunderttausend Menschen ein einziger Mann gesetzt werden muß? Daß die Zwölf einen Mann unter sich gehabt hatten, der sie alle regieren sollte, das wäre nicht verwunderlich. Denn die Natur bringt es mit sich und das Wesen der Menschen erfordert es, daß in jedem Kreise, auch dann, wenn alle an Macht gleich sind, doch einer gleichsam als Leiter wirkt, auf den die anderen blicken sollen. Es gibt keinen Rat ohne Bürgermeister, kein Gericht ohne Vorsitzenden oder Untersuchungführenden, kein Kollegium ohne Vorsteher, keine Genossenschaft ohne Meister. So läge nichts Widersinniges darin, wenn wir zugäben, daß die Apostel dem Petrus eine derartige Obergewalt (über ihren Kreis) übertragen hätten.
Aber was unter wenigen gilt, das läßt sich nicht gleich auf den gesamten Erdkreis beziehen, zu dessen Regierung ein einzelner Mensch allein nicht ausreicht. Aber, sagen sie, nicht weniger gilt in der Natur im allgemeinen wie auch in den einzelnen Teilen auch dies, daß ein oberstes Haupt über allen steht. Und für diese Behauptung entnehmen sie, wenn es Gott gefällt, den Beweis bei den Kranichen und Bienen, die sich auch allezeit ein Oberhaupt wählen und nicht mehrere. Allerdings lasse ich die von ihnen vorgebrachten Beispiele gelten. Aber strömen etwa aus der ganzen Welt die Bienen herbei, um sich einen einzigen König (!) zu wählen? Nein, die einzelnen Könige sind mit ihren eigenen Bienenkörben zufrieden! Ebenso hat auch unter den Kranichen jeder einzelne Schwarm seinen eigenen König. Was können (also) die Papisten aus diesen Beispielen anders gewinnen, als daß jeder einzelnen Kirche ihr besonderer Bischof zugeteilt sein muß? Dann verweisen sie uns auf Beispiele aus dem bürgerlichen Leben, sie ziehen das Wort aus Homer heran: „Vielherrschaft tut nicht gut“ (Ilias II,204), dazu auch das, was man im gleichen Sinne zur Empfehlung der Monarchie bei weltlichen Schriftstellern zu lesen bekommt. Die Erwiderung ist leicht zu geben: wenn Homers Ulysses oder andere Leute die Monarchie preisen, so geschieht das nämlich nicht in dem Sinne, als ob ein Mensch mit seinem Befehl die ganze Welt regieren sollte, sondern sie wollen zeigen, daß ein Reich nicht zwei Könige fassen kann und daß, wie einmal jemand gesagt hat, die Macht keinen Mitgenossen zu ertragen vermag (Lukan, Pharsalia I,92f.).
IV,6,9
Aber wir wollen es einmal so gelten lassen, wie sie es wollen, wir wollen einmal zugeben, es sei gut und nützlich, wenn die ganze Welt unter (einer) Monarchie stünde - es wäre allerdings höchst widersinnig; aber es möge einmal so sein! Selbst dann aber werde ich deswegen nicht zugeben, daß das gleiche auch für die Leitung der Kirche Geltung hätte. Denn die Kirche hat Christus zu ihrem einzigen Haupte, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden sind, und zwar nach der Ordnung und der Gestalt der Regierung, die er selbst vorgeschrieben hat. Die Papisten fügen also Christus sehr großes Unrecht zu, wenn sie verlangen, ein einziger Mensch müsse die gesamte Kirche regieren, und wenn sie dabei den Vorwand benutzen, die Kirche könne eben ein solches Haupt nicht entbehren. Denn Christus ist das Haupt, „von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem anderen Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der ganze Leib wächst ...” (Eph. 4,15f.). Sieht man, wie der Apostel allen Menschen ohne jede Ausnahme in dem Leibe ihren Platz zuweist, die Ehre und den Namen des Hauptes aber Christus allein vorbehält? Sieht man, wie er allen einzelnen Gliedern ein bestimmtes Maß, eine festgesetzte und begrenzte Aufgabe zuerteilt, damit die Vollkommenheit der Gnade wie auch die höchste Regierungsgewalt bei Christus allein liege?
Es ist mir auch nicht unbekannt, was für eine Ausflucht die Papisten suchen, wenn man ihnen dies vorhält; sie sagen nämlich: Christus wird im eigentlichen Sinne das einige Haupt genannt, weil er allein kraft eigener Autorität und in seinem eigenen Namen regiert; aber das hindert nicht, daß es unter ihm noch ein zweites, „dienstbares Haupt“ gibt - so drücken sie sich aus! -, das auf Erden seine Vertretung führt. Aber mit dieser Ausflucht werden sie nichts zuwege bringen, wenn sie nicht zuvor gezeigt haben, daß Christus dieses Amt verordnet hat. Der Apostel nämlich lehrt, die ganze „Handreichung“ sei über die Glieder hin verstreut, die Kraft aber ströme von jenem einen himmlischen Haupte her (Eph. 4,16). Oder wenn sie etwas Deutlicheres hören wollen: da die Schrift bezeugt, daß Christus das Haupt ist, und da sie ihm allein diese Ehre zuschreibt, so darf diese nur dann auf einen anderen übertragen werden, wenn Christus selber ihn zu seinem Statthalter gemacht hat. Dies aber steht nicht nur nirgendwo zu lesen, sondern man kann es auf Grund von vielen Stellen reichlich widerlegen (Eph. 1,22; 4,15; 5,23; Kol. 1,18; 2,10).
IV,6,10
Paulus malt uns einige Male ein lebendiges Bild der Kirche vor Augen. Von dem einen (menschlichen) Haupte dagegen liest man dort nichts. Nein, es läßt sich vielmehr aus seiner Beschreibung die Folgerung ziehen, daß dies „eine Haupt“ mit Christi Einsetzung nichts zu tun hat. Christus hat uns durch seine Himmelfahrt seine sichtbare Gegenwart entzogen; dennoch ist er „aufgefahren ..., auf daß er alles erfüllte“ (Eph. 4,10). Die Kirche hat ihn also auch jetzt noch gegenwärtig und wird ihn allezeit gegenwärtig haben. Indem nun Paulus die Art und Weise schildern will, in der sich Christus zeigt, verweist er uns auf die Ämter, deren sich Christus bedient. „In uns allen“, sagt er, „ist der Herr, nach dem Maß der Gnade, das er jedem einzelnen Gliede hat zuteil werden lassen. Darum hat er einige zu Aposteln eingesetzt, andere aber zu Hirten, andere zu Evangelisten, andere zu Lehrern ...” (Eph. 4,7.11, ungenau). Weshalb sagt Paulus nicht, Christus habe einen Menschen über alle gesetzt, der seine Vertretung führen sollte? Denn die Stelle (die ja immerzu von der Einheit redet) erforderte das in höchstem Maße, und es hätte unter keinen Umständen ausgelassen werden dürfen, wenn es wahr wäre. Er sagt: „Christus ist bei uns“. Wieso? Durch das Dienstamt der Menschen, die Christus zur Leitung der Kirche eingesetzt hat! Weshalb sagt er nicht lieber: durch das „dienstbare Haupt“, dem er seine Stellvertretung aufgetragen hat? Er spricht ausdrücklich von Einheit: aber das ist Einheit in Gott und im Glauben an Christus. Den Menschen schreibt er nichts zu als einen gemeinsamen Dienst und dazu jedem einzelnen sein besonderes „Maß“ (Vers 16). Er hatte doch von dem „einen Leib“, dem „einen Geist“, von der einen „Hoffnung der Berufung“ gesprochen, er hatte gesagt: „ein Gott, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph. 4,4-6, ungenau) - weshalb fügt er in diesem Lobpreis der Einheit nicht auch gleich zu, es gebe auch einen obersten Bischof, der die Kirche in der Einheit erhalten solle? Es hätte gar nichts Passenderes gesagt werden können - vorausgesetzt nur, daß die Wirklichkeit sich so verhielt! Man möge diese Stelle eindringlich erwägen: es besteht kein Zweifel, daß Paulus hier durchaus das heilige, geistliche Regiment der Kirche hat darstellen wollen, das die Späteren dann als „Hierarchie“ bezeichnet haben. Dagegen hat er nicht nur keine Monarchie unter den Dienern (der Kirche) aufgerichtet, sondern er hat gezeigt, daß es keine gibt. Es besteht auch kein Zweifel, daß er die Art der Verbundenheit hat zum Ausdruck bringen wollen, in der die Gläubigen mit Christus, ihrem Haupte, zusammenhängen. Da erwähnt er nun nicht nur kein „dienstbares Haupt“, sondern er schreibt jedem einzelnen Gliede ein besonderes „Werk“ zu (Vers 16), nach dem Maße der Gnade, die jedem einzelnen zugeteilt ist. Es besteht auch kein Anlaß, daß sie über die Vergleichung der himmlischen mit der irdischen „Hierarchie“ scharfsinnig philosophieren; denn es ist nicht gefahrlos, in Bezug auf die himmlische über das Maß
hinaus klug sein zu wollen, und bei der Aufrichtung der irdischen soll man keinem anderen Vorbild folgen als dem, das der Herr selber in seinem Worte umschrieben hat.
IV,6,11
Ich will ihnen aber auch dies andere einmal durchgehen lassen, was sie allerdings bei vernünftigen Menschen nie und nimmer werden durchsetzen können, nämlich daß in der Person des Petrus für die Kirche eine Obergewalt aufgerichtet worden sei, und zwar so, daß sie durch fortwährende Aufeinanderfolge stets erhalten bleiben würde. Woraus wollen sie dann aber beweisen, daß der Sitz (dieser Obergewalt) in Rom aufgerichtet sei, so daß also jeder, der Bischof dieser Stadt wäre, auch die Herrschaft über die ganze Welt hätte? Mit welchem Recht binden sie diese Würde an einen Ort, obwohl sie doch ohne Erwähnung eines Ortes gegeben worden ist? Petrus, sagen sie, hat doch in Rom gelebt und ist dort gestorben! Wie ist es aber mit Christus selbst? Hat er nicht, solange er lebte, das Bischofsamt in Jerusalem geführt und hat er nicht durch sein Sterben das Priesteramt erfüllt? Der Oberste der Hirten, der höchste Bischof, das Haupt der Kirche vermochte dem Ort (seines Wirkens) keine Ehre zu erwerben - und Petrus, der ihm doch bei weitem nachsteht, hat es vermocht? Sind das nicht mehr als kindische Albernheiten? Christus - so sagt man - hat die Ehre der Obergewalt dem Petrus übertragen, Petrus aber hatte seinen Sitz in Rom, also hat er dort den Sitz dieser Obergewalt aufgerichtet. Auf diese Weise hätten denn wohl die Israeliten vorzeiten den Sitz der Obergewalt in der Wüste aufrichten müssen, wo Mose als höchster Lehrer und Oberster der Propheten sein Amt verrichtet hatte und gestorben war (Deut. 34,5)!
IV,6,12
Wir wollen aber zusehen, wie trefflich die Papisten ihren Beweis führen. Petrus, sagen sie, hatte unter den Aposteln die führende Stellung, deshalb muß die Kirche, in der er seinen Sitz hatte, dieses Vorrecht haben. Wo hatte Petrus aber zuerst seinen Sitz? In Antiochia, sagen sie. Also erhebt die Kirche zu Antiochia mit Recht den Anspruch auf die Obergewalt für sich! Sie geben zu, daß sie einst die erste gewesen ist. Dann aber sei, so behaupten sie, Petrus von dort weggezogen, und er habe die Ehre, die er mit sich brachte, nach Rom überführt. Es ist unter dem Namen des Papstes Marcellus ein Schreiben an die Presbyter von Antiochia erhalten, in dem er sich folgendermaßen ausspricht: „Der Sitz des Petrus befand sich anfangs bei euch; nachher ist er auf Weisung des Herrn nach hier übertragen worden. So hat die Kirche zu Antiochia, die einst die erste war, dem römischen Stuhl den Platz geräumt“ (Decretum Gratiani II,24,1,15). Aber durch was für ein Offenbarungswort hat der gute Mann gewußt, daß der Herr es so geboten habe? Denn wenn diese Sache rechtmäßig entschieden werden soll, so müssen die Papisten antworten, ob dieses Vorrecht nach ihrem Willen persönlich, sachlich oder aber teils persönlich, teils sachlich (mixtum) ist. Denn eins von diesen dreien muß es notwendig sein. Wenn sie nun sagen, es sei ein persönliches Vorrecht, so hat es also mit dem Ort nichts zu tun. Sagen sie aber, es sei sachlicher Art, so kann es dem Orte, sobald es ihm einmal gegeben ist, wegen des Todes oder Wegzugs der Person nicht genommen werden. Es bleibt also übrig, daß sie behaupten, es sei teils persönlicher, teils sachlicher Art; in diesem Falle aber darf sich die Betrachtung nicht einfach dem Ort zuwenden, sofern mit diesem nicht zugleich die Person in Beziehung steht. Sie mögen sich auswählen, was sie wollen - ich werde jedenfalls gleich entgegnen und mit Leichtigkeit beweisen, daß sich Rom ohne jeglichen Grund die Obergewalt anmaßt.
IV,6,13
Es möge aber einmal so sein! Geben wir zu, die Obergewalt wäre, wie sie schwatzen, von Antiochia nach Rom übertragen worden. Weshalb hat dann aber Antiochia nicht den zweiten Platz behalten? Denn wenn Rom deshalb die erste Stelle einnimmt, weil Petrus dort bis zum Schluß seines Lebens seinen Sitz hatte, wem soll man dann eher die zweite geben als der Stadt, in der er seinen ersten
Sitz gehabt hatte? Wie ist es denn gekommen, daß Alexandria den Vorrang vor Antiochia gewann? Wie reimt sich das, daß die Kirche eines (gewöhnlichen) Jüngers (Markus) dem Sitz des Petrus vorangeht? Wenn jeder Kirche eine Ehre gemäß der Würde ihres Begründers zukommt, was sollen wir dann auch von den anderen Kirchen sagen? Paulus nennt drei Männer, die als Säulen angesehen wurden, nämlich Jakobus, Petrus und Johannes (Gal. 2,9). Wenn nun der römische Bischofssitz dem Petrus zu Ehren den ersten Platz zugewiesen bekommt, verdienen dann nicht die Bischofssitze von Ephesus und Jerusalem, wo Johannes und Jakobus wirkten, den zweiten und dritten? Tatsächlich aber hatte unter den Patriarchaten Jerusalem früher den letzten Platz, und Ephesus konnte sich nicht einmal in der äußersten Ecke festsetzen! Auch andere Kirchen sind übergangen worden: sowohl alle, die Paulus gegründet hatte, als auch solche, in denen andere Apostel als Vorsteher gewirkt hatten. Der Sitz des Markus aber (Alexandria), der nur einer von den Jüngern war, ist zu Ehren gekommen. Die Papisten müssen nun entweder zugeben, daß diese Ordnung unangebracht war, oder aber sie müssen uns zugestehen, daß es gar keine fortdauernde Regel ist, daß jeder einzelnen Kirche der Ehrenrang zukommt, den ihr Begründer besessen hat.
IV,6,14
Allerdings sehe ich nicht, wieweit das, was sie von dem Amtsaufenthalt des Petrus in der Kirche zu Rom berichten, Glauben finden muß. Auf jeden Fall läßt sich das, was bei Eusebius steht, nämlich Petrus habe die Kirche dort fünfundzwanzig Jahre lang geleitet, mit Leichtigkeit widerlegen. Denn wie sich aus dem ersten und zweiten Kapitel des Briefs an die Galater mit Sicherheit ergibt, ist Petrus noch etwa zwanzig Jahre nach Christi Tod in Jerusalem gewesen (Gal. 1,18; 2,1ff.); dann ist er nach Antiochia gekommen (Gal. 2,11), und wie lange er dort gewesen ist, ist ungewiß. Gregor zählt sieben Jahre, Eusebius aber fünfundzwanzig. Aber man wird finden, daß der Zeitraum zwischen Christi Tod und dem Ende der Regierung des Nero, unter dem Petrus, wie man berichtet, getötet worden ist, bloß siebenunddreißig Jahre beträgt. Das Leiden des Herrn nämlich fällt in die Regierung des Tiberius, und zwar in deren achtzehntes Jahr. Wenn man nun (von den erwähnten siebenunddreißig Jahren) zwanzig Jahre abzieht, die Petrus nach dem Zeugnis des Paulus in Jerusalem verbracht hat, so bleiben höchstens siebzehn übrig. Diese muß man nun auf jene zwiefache Wirksamkeit als Bischof (in Antiochia und in Rom) verteilen. Hat sich Petrus lange in Antiochia aufgehalten, so hat er in Rom nicht verweilen können, es sei denn für ganz kurze Zeit. Eben dies läßt sich noch klarer zeigen. Paulus hat den Brief an die Römer von einer Reise aus geschrieben, als er nach Jerusalem zog (Röm. 15,25); dort wurde er gefangengenommen und dann später nach Rom geführt. Es ist also wahrscheinlich, daß dieser Brief vier Jahre vor seiner Ankunft in Rom geschrieben worden ist. In diesem Brief findet sich noch keine Erwähnung des Petrus, und eine solche hätte nicht unterbleiben können, wenn Petrus diese Kirche (damals) geleitet hätte. Ja, selbst am Ende (des Briefes), wo Paulus eine lange Liste von Frommen aufzählt, die er zu grüßen gebietet, eine Liste nämlich, in der er alle ihm bekannten Leute zusammenfaßt (Röm. 16,3-16), schweigt er von Petrus noch vollständig. Bei Menschen mit einigermaßen gesundem Urteil bedarf es hier auch keines langen und scharfsinnigen Beweises; denn der Sachverhalt selbst und der ganze Inhalt des Briefes bezeugt laut, daß Paulus den Petrus nicht hätte übergehen dürfen, wenn dieser in Rom gewesen wäre.
IV,6,15
Dann wurde Paulus gefangen nach Rom gebracht (Apg. 28,16). Lukas berichtet, daß er von den Brüdern empfangen worden ist (Apg. 28,15f.). Von Petrus kein Wort! Paulus schreibt von Rom aus an viele Kirchen. In einigen Briefen schreibt er im Namen einiger Männer Grüße. Aber er läßt nicht mit einem einzigen Wort erkennen, daß Petrus damals in Rom gewesen sei. Wer, das möchte ich doch wissen,
sollte wohl glauben, Paulus hätte schweigen können, wenn Petrus dort gewesen wäre? Ja, im Brief an die Philipper sagt er zunächst, er habe niemanden, der das Werk des Herrn so treu besorge wie Timotheus, und dann klagt er: „Sie suchen alle das Ihre ...” (Phil. 2,19-21). Und in einem Brief an den nämlichen Timotheus ist die Klage noch schwerer: „In meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle“ (2. Tim. 4,16). Wo war nun damals Petrus? Denn wenn man sagt, er sei in Rom gewesen, was brennt ihm Paulus dann für einen schlimmen Makel auf, als ob er das Evangelium schmählich verlassen hätte? Denn er redet von Gläubigen, weil er ja zufügt: „Gott wolle es ihnen nicht zurechnen“ (2. Tim. 4,16; nicht Luthertext).
Wie lange hat also Petrus diesen Bischofssitz innegehabt und zu welcher Zeit? Ja, sagt man wohl, es ist doch die feste Überzeugung der Schriftsteller, daß er diese Kirche bis zu seinem Tode regiert hat! Aber unter den Schriftstellern selbst besteht keine Einhelligkeit darüber, wer sein Nachfolger gewesen sein soll: die einen nennen Linus, die anderen Clemens. Auch erzählen sie viele widersinnige Märlein über ein Streitgespräch, das zwischen Petrus und Simon, dem Zauberer, stattgefunden habe. Auch verhehlt Augustin bei einer Erörterung über abergläubische Anschauungen nicht, daß in Rom auf Grund einer unüberlegt aufgenommenen Ansicht die Sitte aufgekommen sei, an dem Tage, an dem Petrus über Simon, den Zauberer, die Siegespalme davongetragen habe, nicht zu fasten (Brief 36). Kurzum, die Geschehnisse der damaligen Zeit sind durch die Vielfältigkeit der Meinungen dermaßen verwickelt, daß wir, wo wir etwas geschrieben finden, nicht gleich alles unüberlegt glauben dürfen. Und doch bestreite ich wegen dieser Einstimmigkeit der Schriftsteller nicht, daß Petrus in Rom gestorben ist; daß er aber dort Bischof gewesen sei, vor allem gar lange Zeit hindurch, davon kann man mich nicht überzeugen. Ich kümmere mich auch nicht sehr darum, weil Paulus bezeugt, daß sich das Apostelamt des Petrus in besonderer Weise auf die Juden, seines aber auf uns (Heiden) bezieht. Damit also jene Bundesgenossenschaft, die sie (Petrus und Paulus Gal. 2,9) miteinander abgeschlossen haben, bei uns in Kraft steht, ja, damit die Anordnung des Heiligen Geistes unter uns als beständig gilt, gebührt es sich, daß wir mehr auf das Apostelamt des Paulus als auf das des Petrus schauen. Denn der Heilige Geist hat die Aufgaben unter sie dergestalt verteilt, daß er den Petrus für die Juden, den Paulus aber für uns bestimmte. Deshalb sollen sich nun die Römischen ihre Obergewalt anderswo suchen als im Worte Gottes; denn da kann man sie keineswegs begründet finden.
IV,5,16
Jetzt wollen wir zur Alten Kirche kommen, damit auch deutlich wird, daß unsere Widersacher mit ihrer Zustimmung nicht weniger unbegründet und fälschlich prahlen als mit dem Zeugnis des Wortes Gottes. Die Römischen rühmen nun ihren Grundartikel, nach welchem die Einheit der Kirche nur dann erhalten werden kann, wenn es auf Erden ein oberstes Haupt gibt, dem dann alle Glieder gehorchen sollen; eben deshalb hat, so behaupten sie weiter, der Herr dem Petrus und danach auch kraft des Rechtes der Aufeinanderfolge dem römischen Stuhl die Obergewalt gegeben, damit sie bei ihm bis zum Ende verbleibt. Und nun versichern sie, das sei von Anfang an stets so gehalten worden! Da sie nun aber viele Zeugnisse übel verdrehen, so will ich zunächst vorweg sagen: ich leugne nicht, daß die Alten der römischen Kirche allenthalben große Würde beilegen und in Ehrfurcht von ihr reden. Ich meine, daß dies vor allem aus drei Gründen geschieht.
(1) Jene Meinung, die auf wer weiß welche Weise zur Geltung gekommen ist, nämlich diese Kirche sei durch den Dienst des Petrus begründet und aufgerichtet worden, besaß in höchstem Maße die Kraft, ihr Gunst und Ansehen
zu verschaffen. Deshalb wurde die Kirche zu Rom im Westen auch zu ihrer Ehrung als „apostolischer Stuhl“ bezeichnet.
(2) Zweitens war ja Rom die Hauptstadt des Reiches, und aus diesem Grunde konnte man annehmen, daß dort Männer waren, die sich durch Gelehrsamkeit, Verstand, Erfahrung und Geübtheit in vielen Sachen mehr auszeichneten, als das irgendwo sonst der Fall war. Deshalb trug man dieser Tatsache verdientermaßen Rechnung, damit es nicht den Anschein hatte, als schätze man den hohen Rang der Stadt und auch andere, viel herrlichere Gaben Gottes gering.
(3) Dazu kam auch das dritte. Während die Kirchen des Ostens und Griechenlands, auch die afrikanische Kirche, in vielen Meinungsstreitigkeiten untereinander im Aufruhr waren, war die Kirche zu Rom friedlicher und weniger aufgewühlt gewesen. So kam es, daß fromme und heilige Bischöfe, die man von ihren Sitzen vertrieben hatte, nach Rom ihre Zuflucht nahmen, als ob es gleichsam eine Freistatt oder ein Hafen wäre. Denn die Menschen im Westen sind weniger scharfen und schnellen Geistes als die Asiaten und Afrikaner, und dementsprechend trachten sie auch weniger nach Neuerungen. Es trug also zur Stärkung des Ansehens der Kirche zu Rom sehr wesentlich bei, daß sie in jenen unklaren Zeiten nicht so ruhelos gewesen ist wie die übrigen, und daß sie an der einmal überlieferten Lehre zäher festgehalten hat als alle anderen. Das werden wir bald noch besser auseinandersetzen. Aus diesen drei Ursachen, sage ich, genoß die Kirche in Rom eine ungewöhnliche Ehre und wurde sie in vielen herrlichen Zeugnissen der Alten gepriesen.
IV,6,17
Wenn aber unsere Gegner auf Grund dieser Tatsachen der Kirche zu Rom die Obergewalt und die höchste Macht über die anderen Kirchen verschaffen wollen, dann handeln sie, wie ich bereits sagte, völlig verkehrt. Damit das klarer herauskommt, will ich zunächst kurz zeigen, was denn die Alten über die Einheit gedacht haben, auf die die Papisten solchen Nachdruck legen. Hieronymus zählt in einem Brief an Nepotian zunächst viele Beispiele solcher Einheit auf, und dann kommt er schließlich auf die kirchliche Hierarchie zu sprechen. Da sagt er: „Jeder einzelne Bischof einer Kirche, auch jeder Archipresbyter, jeder Archidiakon und überhaupt jeder kirchliche Rang stützt sich auf seine Regenten“ (Der Brief ist an Rusticus gerichtet, Brief 125). Hier redet ein Presbyter der Kirche zu Rom; er preist die Einheit im kirchlichen Stande - weshalb aber erwähnt er nicht, alle Kirchen seien untereinander durch das eine Haupt wie durch ein Band verbunden? Es gab doch nichts, was zu der eben von ihm behandelten Sache besser hätte dienen können! Auch läßt sich nicht sagen, diese Übergehung (des angeblichen menschlichen Oberhaupts der Kirche) sei aus Vergeßlichkeit geschehen; denn Hieronymus hätte nichts lieber getan (als dies) - wenn die Sache es gelitten hätte! Er sah also ohne jeden Zweifel, daß die wahre Art der Einheit die ist, die Cyprian so trefflich beschreibt, wenn er sagt: „Es ist ein Bischofsamt, von dem jeder einzelne (Bischof) ein Stück vollkömmlich innehat, und es ist eine Kirche, die sich mit wachsender Fruchtbarkeit in ihrer Vielheit zu größerer Weite ausbreitet. Die Strahlen der Sonne sind viele, und das Licht ist doch eins, viele Äste hat der Baum, aber einen einzigen Stamm, der auf fester Wurzel gegründet ist; von einer einzigen Quelle fließen sehr viele Bäche her, und mag auch bei dem Reichtum der überströmenden Wassermenge der Eindruck einer verstreuten Vielheit entstehen, so bleibt doch im Ursprung die Einheit erhalten. Genau so breitet auch die Kirche, von dem Lichte des Herrn durchflossen, ihre Strahlen über den ganzen Erdkreis aus, und doch ist es ein Licht, das sich da allenthalben ergießt, und die Einheit ihres Leibes wird nicht zerteilt; sie streckt ihre Äste über den ganzen Erdkreis hin, sie strömt überfließende Bäche aus, und doch ist es ein Haupt und ein Brunnquell ...” (Von der Einheit der katholischen Kirche 5). Und dann heißt es weiter: „Die Braut Christi kann man nicht zum Ehebruch verführen: sie kennt das eine Haus, und sie hütet die Heiligkeit der einen Kammer in
züchtiger Scham” (Von der Einheit der katholischen Kirche 6). Da sieht man, wie er allein Christi Bischofsamt für allgemeinwirksam erklärt, weil es die ganze Kirche unter sich erfaßt, und wie er es ausspricht, daß jeder einzelne, der unter diesem Haupte ein Bischofsamt ausrichtet, ein Stück davon vollkömmlich innehat. Wo bleibt die Obergewalt des römischen Stuhls, wenn bei Christus allein sein Bischofsamt unverkürzt verbleibt und jeder einzelne einen Teil davon vollkömmIich innehat?
Diese Ausführungen haben den Zweck, daß der Leser im Vorbeigehen einsieht: jener Hauptgrundsatz von der Einheit des irdischen Hauptes in der Hierarchie, den die Römischen für ausgemacht und unzweifelhaft ansehen, ist den Alten ganz und gar unbekannt gewesen.
Siebentes Kapitel
Vom Beginn und vom Wachstum des römischen Papsttums, bis es zu seiner heutigen Hoheit emporgestiegen ist, durch welche die Freiheit der Kirche unterdrückt und zugleich alles rechte Maß umgestürzt worden ist
IV,7,1
Was das Alter der Obergewalt des römischen Stuhls betrifft, so besitzt man zu seiner Bekräftigung nichts Älteres als jenen Beschluß des Konzils von Nicäa (325), kraft dessen dem Bischof von Rom der erste Platz unter den Patriarchen eingeräumt und ihm zugleich die Weisung erteilt wird, die in der Nachbarschaft der Stadt gelegenen Kirchen zu versorgen. Wenn nun das Konzil zwischen ihm und den anderen Patriarchen dergestalt teilt, daß es jedem sein Gebiet zuweist, so setzt es ihn wahrhaftig nicht zum Haupt über alle ein, sondern macht ihn zu einem der Vornehmsten. Bei dem Konzil waren im Namen des Julius, der dazumal die Kirche zu Rom regierte, Vitus und Vincentius zugegen; diesen hat man den vierten Platz zugewiesen. Ich möchte doch wissen, ob man die Abgesandten des Julius auf den vierten Platz verwiesen hätte, wenn er selbst damals als Haupt der Kirche anerkannt gewesen wäre! Hätte dann auch wohl Athanasius den Vorsitz bei dem Konzil geführt, wo doch gerade darin die Gestalt der hierarchischen Ordnung besonders leuchtend hervortreten soll?
Auf der Synode von Ephesus (431) hat Coelestinus, der damals römischer Bischof war, offenkundig einen versteckten Kunstgriff angewandt, um für die Würde seines Stuhles zu sorgen. Denn obwohl er seine Leute dorthin sandte, trug er dem Cyrill von Alexandria, der auch ohnedies den Vorsitz führen sollte, seine „Vertretung“ auf. Wozu sollte solch ein Auftrag anders dienen als dazu, daß auf irgendeine Weise sein Name an dem ersten Platz haften sollte? Denn seine Abgesandten hatten an untergeordneter Stelle ihren Sitz, man fragte sie um ihre Meinung wie andere auch, und sie unterschrieben nach ihrem eigenen Rang; unterdessen aber verband der Patriarch von Alexandria den Namen des römischen Bischofs mit seinem eigenen!
Was soll ich von dem zweiten Konzil zu Ephesus (449) sagen? Da waren zwar die Abgesandten Leos (I.) zugegen, aber trotzdem führte der Patriarch Dioskur von Alexandria gleichsam auf Grund seines eigenen Rechtes den Vorsitz. Die Papisten werden freilich einwenden, dies Konzil habe doch den heiligen Mann Flavian verdammt, den Eutyches dagegen freigesprochen und seine Unfrömmigkeit gebilligt, und deshalb sei es eben nicht rechtgläubig gewesen. Ja, aber als die Synode zusammentrat und als die Bischöfe die Sitze unter sich verteilten, da saßen jedenfalls die Abgesandten der Kirche von Rom unter den anderen, nicht anders als in einem heiligen und rechtmäßigen Konzil! Trotzdem stritten die römischen Gesandten nicht um den ersten Platz, sondern überließen ihn jemand anders, und das hätten sie nie und nimmer getan, wenn sie geglaubt hätten, dieser Platz käme ihnen mit Recht zu. Denn die Bischöfe von Rom haben sich nie geschämt, um ihrer Ehre willen die größten Streitigkeiten zu entfesseln und allein aus diesem Grunde die Kirche oftmals mit vielen und gefährlichen Kämpfen zu beunruhigen und zu verwirren. Nein, Leo sah eben ein, daß es ein allzu unverschämtes Verlangen sein würde, wenn er für seine Abgesandten den ersten Platz beanspruchte, und deshalb sah er davon ab.
IV,7,2
Dann folgte das Konzil zu Chalcedon (451). Auf diesem haben die Abgesandten der Kirche zu Rom mit Zustimmung des Kaisers den ersten Platz eingenommen. Aber Leo selbst gibt zu, daß dies ein außergewöhnliches Vorrecht war; denn als er es von dem Kaiser Marcian und der Kaiserin Pulcheria
erbittet, da behauptet er nicht, es komme ihm zu, sondern er braucht nur den Vorwand, die Bischöfe des Ostens, die auf dem Konzil zu Ephesus (449) den Vorsitz geführt hatten, hätten damals alles durcheinandergebracht und ihre Macht übel mißbraucht. Da es also eines ernstgesinnten Leiters bedurfte und da es nicht wahrscheinlich war, daß die, die einmal so leichtfertig und aufrührerisch gewesen waren, zu dieser Aufgabe geeignet sein würden, so bat Leo, man möge ihm wegen der Fehlerhaftigkeit und mangelnden Eignung der anderen die Aufgabe der Leitung übertragen. Wenn er das kraft eines besonderen Vorrechts und außerhalb der Ordnung erbittet, so beruht es jedenfalls nicht auf einem allgemeinen Gesetz. Wenn er nun den einen Vorwand braucht, es sei ein neuer Vorsitzender erforderlich, weil sich die vorigen übel verhalten hätten, so geht daraus klar hervor, daß es weder vorher so gemacht worden ist noch auf die Dauer so sein muß, sondern ausschließlich im Blick auf die gegenwärtige Gefahr geschieht. Der römische Bischof hat also auf dem Konzil zu Chalcedon den ersten Platz nicht etwa deshalb, weil dieser seinem Stuhl zukäme, sondern weil es der Synode an einem ernsten und geschickten Leiter fehlt, indem sich eben die, denen der Vorsitz gebührte, durch ihre Zügellosigkeit und Willkür von diesem Platz ausschließen.
Was ich sage, das hat dann ein Nachfolger Leos (I.) tatsächlich bestätigt. Denn als er zu der lange Zeit später abgehaltenen fünften Synode zu Konstantinopel (553) seine Abgesandten schickte, da stritt er nicht um den ersten Platz, sondern ließ es mit Leichtigkeit hingehen, daß der Patriarch Mennas von Konstantinopel den Vorsitz führte. Ebenso sehen wir auch, daß auf dem Konzil zu Karthago (418), an dem Augustin teilnahm, nicht die Abgesandten des römischen Stuhls den Vorsitz geführt haben, sondern der örtliche Erzbischof Aurelius, und das, obwohl der Streit gerade um die Autorität des römischen Oberpriesters ging. Ja, es ist sogar in Italien selbst ein allgemeines Konzil abgehalten worden, an dem der Bischof von Rom nicht teilgenommen hat, nämlich das Konzil zu Aquileja (381). Den Vorsitz führte dabei Ambrosius, der damals beim Kaiser in sehr hohem Ansehen stand. Der römische Bischof wurde dort gar nicht erwähnt. So ist es damals vermöge der Würde des Ambrosius dahin gekommen, daß der Bischofsstuhl von Mailand in höherem Glänze stand als der von Rom.
IV,7,3
Was nun den Titel „Obergewalt“ und andere hoffärtige Bezeichnungen anbelangt, deren sich der Papst heutzutage großmächtig rühmt, so ist nicht schwer ein Urteil darüber zu gewinnen, wann und auf welche Weise sie aufgekommen sind. Cyprian erwähnt oft den (Bischof) Cornelius (von Rom); aber er verwendet zu seiner Bezeichnung keine anderen Namen als „Bruder“, „ Mitbischof” oder „Amtsgenosse“. Wenn er aber an Stephanus, den Nachfolger des Cornelius, schreibt, so behandelt er ihn nicht nur als ihm selber und anderen gleichgestellt, sondern fährt auch recht scharf gegen ihn los und wirft ihm bald Anmaßung, bald Unwissenheit vor (Brief 72,3 und 75,3). Aus der Zeit nach Cyprian wissen wir, was hierüber die ganze afrikanische Kirche für eine Meinung hatte. Denn ein Konzil zu Karthago (397) verbot es, daß jemand als „Oberster der Priester“ oder als „erster Bischof“ bezeichnet wurde, und erlaubte nur die Benennung „Bischof des ersten Stuhls“. Wenn jemand ältere Urkunden durchblättert, so wird er finden, daß sich der Bischof von Rom damals mit der allgemeinen Anrede „Bruder“ zufriedengegeben hat. Auf jeden Fall waren, solange die wahre und reine Gestalt der Kirche dauerte, all jene hoffärtigen Namen, mit denen der römische Stuhl hernach übermütig zu werden begann, gänzlich unerhört; was „der oberste Bischof“ und das „einige Haupt der Kirche auf Erden“ sei, das wußte man nicht. Wenn der Bischof von Rom es gewagt hätte, sich dergleichen anzumaßen, so waren da immerhin beherzte Männer, um seine Torheit alsbald zurückzuweisen. Hieronymus war ein Presbyter der Kirche zu Rom, und er war deshalb nicht knauserig damit, die Würde seiner Kirche zu rühmen, soweit
es die Sache und die Zeitverhältnisse zuließen. Trotzdem sehen wir, wie er auch diese seine Kirche in die Ordnung hineinstellt. „Wenn man nach dem Ansehen fragt“, sagt er, „so ist der Erdkreis größer als eine Stadt. Was hältst du mir die Gewohnheit einer einzigen Stadt vor? Wozu berufst du dich auf eine geringe Zahl, von der die Hoffart ausgegangen ist, gegenüber den Gesetzen der Kirche? Wo auch immer ein Bischof gewesen ist, sei es zu Rom oder zu Eugubium, zu Konstantinopel oder zu Rhegium - er hat das gleiche Verdienst und das gleiche Priesteramt! Die Macht der Reichtümer oder auch die Niedrigkeit der Armut macht einen Bischof nicht höher und nicht geringer“ (Brief 146, an Euangelus bzw. Euagrius).
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Über den Titel „Allgemeiner Bischof“ (universalis episcopus) ist erst zur Zeit Gregors (I.) ein Streit entstanden. Den Anlaß dazu bot die Ehrsucht des Johannes von Konstantinopel. Denn dieser wollte sich, was niemand anders je vorher versucht hatte, zum Allgemeinbischof machen. In diesem Streit gibt nun Gregor nicht als Grund an, das Recht, das Johannes für sich begehrte, werde ihm damit entrissen; nein, er erhebt wacker Einspruch und erklärt, das sei eine unheilige, ja frevlerische Bezeichnung, ja, sie sei ein Vorbote des Antichrists. „Es fällt ja die ganze Kirche aus ihrem Stand heraus“, sagt er, „wenn der fällt, der sich Allgemeinbischof nennen läßt“ (Brief V,37). Und an anderer Stelle sagt er: „Es ist ein sehr trauriges Ding, wenn man geduldig ertragen soll, daß unser Bruder und Mitbischof unter Verachtung aller allein Bischof heißen soll. Aber was tritt in dieser seiner Hoffart anders zutage, als daß die Seiten des Antichrists bereits nahe sind? Denn er macht es doch dem nach, der die Gemeinschaft der Engel verachtete und versuchte, zum Gipfel der Alleinherrschaft emporzusteigen“ (Brief V,39). An anderer Stelle schreibt er an Eulogius von Alexandria und Anastasius von Antiochia: „Keiner meiner Vorgänger hat je diese unheilige Bezeichnung anwenden wollen; denn es ist doch so: wenn einer ‚allgemeiner Patriarch’ heißt, so wird den anderen damit der Name ‚Patriarch’ abgesprochen. Aber es sei ferne von einem christlichen Sinn, daß sich jemand etwas anmaßen wollte, wodurch er der Ehre seiner Brüder auch nur zum geringsten Teil Abbruch tun könnte“ (Brief V,41). (Oder anderwärts:) „In diesen verruchten Namen einzuwilligen, das heißt nichts anderes, als den Glauben zugrunde zu richten“ (Brief V,45). „Es ist etwas anderes“, sagt er, „was wir zu tun haben, um die Einheit des Glaubens zu wahren - und etwas anderes, was wir unternehmen sollen, um die Hoffart zu dämpfen. Ich sage aber frei heraus, daß jeder, der sich ‚allgemeiner Priester’ nennt oder begehrt, so genannt zu werden, in seiner Hoffart ein Vorläufer des Antichrists ist, weil er sich durch sein hochmütiges Verhalten über die anderen stellt“ (Brief VII,30). Ebenso schreibt er, wiederum an Anastasius von Alexandria: „Ich habe gesagt, daß er mit uns keinen Frieden haben kann, wofern er nicht die Hoffart jener abergläubischen und hochmütigen Bezeichnung fahrenläßt, die der erste Abtrünnige erfunden hat. Auch ist es doch - um von dem Unrecht zu schweigen, das damit eurer Ehre angetan wird - so: wenn einer ‚allgemeiner Bischof’ heißt, so bricht die gesamte Kirche zusammen, sobald dieser ‚Allgemeinbischof’ fällt“ (Brief VII,24).
Er schreibt dann auch, man habe diese Ehre auf dem Konzil zu Chalcedon dem Leo angetragen. Aber das hat keinen Schein von Wahrheit. Denn man liest in den Verhandlungen jener Synode nichts dergleichen. Auch bekämpft Leo selbst in vielen Briefen den dort zu Ehren des Stuhls von Konstantinopel gefaßten Beschluß, und er hätte dabei ohne Zweifel dies Beweisstück, das doch von allen das überzeugungskräftigste gewesen wäre, nicht ausgelassen, wenn es wahr gewesen wäre, daß er solche Würde angeboten bekommen und abgelehnt hätte. Auch war Leo doch im übrigen mehr als genug auf Ehre versessen, und er hätte deshalb nicht gerne etwas ausgelassen, das ihm zum Lobe gereicht hätte. Gregor war also im Irrtum, wenn er meinte, jener Titel sei dem römischen Stuhl von der Synode zu Chalcedon
angetragen worden (Brief V,37; V,41). Dabei will ich noch davon schweigen, daß es lächerlich ist, wenn er bezeugt, dieser Titel sei von der heiligen Synode ausgegangen, und wenn er doch zugleich von ihm sagt, er sei verbrecherisch, unheilig, ruchlos, hoffärtig und frevlerisch, ja, vom Teufel erdacht und von einem Herold des Antichrists an die Öffentlichkeit gebracht (Brief IX,156). Und doch fügt er an, sein Vorgänger Leo habe diesen Titel abgelehnt, damit nicht, indem einem etwas für sich allein gegeben werde, sämtliche Priester der ihnen gebührenden Ehre beraubt würden (Brief V,37). An anderer Stelle heißt es: „Niemand hat je mit einer solchen Bezeichnung angeredet werden wollen, niemand hat diesen unüberlegten Namen an sich gebracht, damit er sich nicht im biblischen Rang den Ruhm einer einzigartigen Sonderstellung aneignete und dadurch den Eindruck erweckte, als habe er diesen Ruhm allen seinen Brüdern entzogen“ (Brief V,44).
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Ich komme nun zu der Rechtsprechungsgewalt, die der römische Bischof ohne Widerspruch über alle Kirchen zu haben behauptet. Ich weiß, was für große Streitigkeiten darüber in alter Zeit stattgefunden haben; denn es hat nie eine Zeit gegeben, in der nicht der römische Stuhl die Herrschaft über die anderen Kirchen erstrebt hätte. Es wird auch an dieser Stelle nicht unangebracht sein, wenn wir untersuchen, auf welche Weise er damals allmählich zu einer gewissen Macht emporgestiegen ist. Ich rede noch nicht von der heutigen, unbegrenzten Herrschaft, die er sich vor noch nicht so sehr langer Zeit angeeignet hat; denn das wollen wir bis auf die dazu vorgesehene Stelle verschieben. Hier aber ist es vonnöten, daß ich mit wenigen Worten zeige, wie und auf welche Weise er sich einst erhoben hat, um sich einiges Recht über andere Kirchen herauszunehmen.
Als die Kirchen des Ostens unter den Kaisern Konstantius und Konstans, den Söhnen Konstantins des Großen, durch die arianischen Streitigkeiten zerspalten und verwirrt waren und Athanasius, der daselbst der vornehmste Verteidiger des orthodoxen Glaubens war, von seinem Bischofsstuhl vertrieben war, da sah sich Athanasius durch solche Not gezwungen, nach Rom zu kommen, um vermöge der Autorität des römischen Stuhles sowohl die Wut seiner Feinde einigermaßen zu dämpfen, als auch die im Kampfe stehenden Frommen zu stärken. Er wurde von dem damaligen Bischof Julius ehrenvoll empfangen und erreichte es, daß die Kirchen des Westens die Verteidigung seiner Sache in die Hand nahmen. Da also die Gläubigen fremder Hilfe sehr bedurften und da sie weiter sahen, daß in der Kirche von Rom für sie ein sehr guter Schutz lag, so übertrugen sie ihr gern soviel Autorität, wie sie nur konnten. Das war aber alles nichts anderes, als daß die Gemeinschaft mit der Kirche zu Rom hochgeschätzt wurde und es andererseits als schimpflich galt, von ihr mit dem Bann belegt zu werden.
Späterhin haben auch selbst die Bösen und Gottlosen dieser Autorität viel Zuwachs verschafft: um nämlich den rechtmäßigen Gerichten zu entgehen, begaben sie sich nach Rom als zu einem Freiplatz. Wenn also irgendein Presbyter von seinem Bischof oder irgendein Bischof von seiner Provinzialsynode verurteilt worden war, so beriefen sie sich sogleich auf Rom. Und die Bischöfe von Rom nahmen diese Berufungen begieriger an, als es billig war, und zwar, weil es eine Art außergewöhnlicher Macht zu sein schien, sich auf diese Weise weit und breit in die Dinge einzumischen. Als z.B. Eutyches durch Flavian von Konstantinopel verurteilt worden war, beklagte er sich bei Leo, es sei ihm Unrecht geschehen. Dieser zögerte keinen Augenblick und übernahm den Schutz dieser üblen Sache ebenso unüberlegt wie plötzlich; er fuhr gegen Flavian heftig los, als ob er ohne Untersuchung des Falles einen unschuldigen Menschen verurteilt hätte - und mit dieser seiner Ehrsucht brachte er es dahin, daß sich die Unfrömmigkeit des Eutyches eine Zeitlang verstärkte!
In Afrika ist das offenbar öfters vorgekommen; sobald nämlich irgendein Schwätzer im ordentlichen Gericht unterlegen war, begab er sich schleunigst nach Rom und belastete die Seinigen mit vielen Schmähungen; der römische Stuhl aber war
stets bereit, sich ins Mittel zu legen! Diese Unverschämtheit zwang die Bischöfe von Afrika zu dem Erlaß, es dürfe bei Strafe des Bannes keiner jenseits des Meeres (eben in Rom) eine Berufung vorbringen.
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Wie das aber nun auch gewesen sein mag - wir wollen untersuchen, was für ein Recht oder was für eine Macht der römische Stuhl dazumal besessen hat. Die Kirchengewalt besteht nun in vier Hauptstücken: sie umfaßt (1) die Ordination der Bischöfe, (3) die Ausschreibung von Konzilien, (4) das Anhören von Berufungen oder die „Jurisdiktion“ und (2) die Vermahnungen im Sinne der Kirchenzucht oder die „Zensuren“.
(1) Alle alten Synoden gebieten, die Bischöfe sollten von dem zuständigen Bischof der Hauptstadt (dem Metropoliten) ordiniert werden; eine Herbeirufung des Bischofs, von Rom ordnen sie nirgends an, außer in dessen eigenem Patriarchat. Allmählich aber kam die Sitte auf, daß sämtliche Bischöfe Italiens nach Rom kamen, um ihre Weihe nachzusuchen, mit Ausnahme der Metropoliten, die sich in diese Knechtschaft nicht hineinzwingen ließen. Sollte ein Metropolit ordiniert werden, so sandte der Bischof von Rom vielmehr einen von seinen Presbytern dorthin, der bloß zugegen sein, nicht aber die Leitung haben sollte. Ein Beispiel dafür haben wir bei Gregor (I.) in der Weihe des Konstantius von Mailand vor uns, nach dem Tode des Laurentius (Brief III,29). Ich glaube allerdings nicht, daß dies Verfahren sehr alt gewesen ist. Es war vielmehr so: im Anfang schickten sie hin und her Abgesandte, und zwar zur Ehrung und aus Wohlwollen: diese sollten Zeugen der Ordination sein, um die gegenseitige Gemeinschaft zu bekunden; später hat man dann begonnen, das, was freiwillig war, als notwendig anzusehen. Wie dem auch sein mag - es steht jedenfalls fest, daß der Bischof von Rom die Vollmacht zur Ordination einstmals allein im Gebiet seines Patriarchats besessen hat, das heißt in den der Stadt benachbarten Kirchen, wie die Satzung des Konzils von Nicäa sagt.
Mit der Ordination war die Aussendung des Synodalsendschreibens verbunden. Auch hierin hatte der Bischof von Rom keine höhere Stellung als die anderen. Die Patriarchen pflegten gleich nach ihrer Weihe in einem feierlichen Schreiben ihren Glauben zu verbürgen, um dadurch zu bezeugen, daß sie den (Beschlüssen der) heiligen und rechtgläubigen Synoden zustimmten. So sprachen sie sich, nachdem sie von ihrem Glauben Rechenschaft abgelegt hatten, gegenseitig ihre Anerkennung aus. Wenn nun der Bischof von Rom dieses Bekenntnis von den anderen empfangen, selbst aber nicht abgelegt hätte, dann wäre er damit als übergeordnet anerkannt worden. Aber tatsächlich mußte er es ebensogut abgeben, wie er es von den anderen erforderte, er mußte also dem gemeinsamen Gesetz unterworfen sein, und das war sicherlich ein Zeichen von Gemeinschaft, nicht aber von Herrschaft. Ein Beispiel dafür findet sich in dem Briefe Gregors an Anastasius (Brief I,25), in einem anderen an Cyriacus von Konstantinopel (VII,5) und anderwärts in einem Schreiben an alle Patriarchen zugleich (I,24).
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(2) Dann folgen die Vermahnungen oder „Zensuren“. Diese haben die Bischöfe von Rom einst gegen andere geübt, aber genau so auch ihrerseits erdulden müssen. So hat Irenäus den (Bischof) Viktor (von Rom) scharf zurechtgewiesen, weil er um einer völlig unbedeutenden Sache willen die Kirche unüberlegt mit gefährlicher Spaltung verwirrte. Und Viktor erhob keinen Widerspruch, sondern gehorchte! Bei den heiligen Bischöfen war dazumal die Freiheit gebräuchlich, daß sie gegenüber dem Bischof von Rom mit Ermahnen und Strafen das Bruderrecht übten, wenn er sich einmal versündigte. Dieser gemahnte dann wiederum auch seinerseits die anderen an ihre Amtspflicht, wenn die Sache es erforderte; und wenn ein Fehler vorlag, so
tadelte er ihn. So fordert Cyprian den Stephanus (von Rom) auf, er solle die Bischöfe von Gallien ermahnen; aber er entlehnt nun den Grund dazu nicht etwa dessen größerer Vollmacht, sondern dem allgemeinen Recht, das die Priester untereinander haben. Ich möchte doch wissen: hätte Cyprian, wenn Stephanus dazumal ein Führungsrecht über Gallien gehabt hätte, nicht sagen müssen: „Züchtige sie, denn es sind deine Leute“? Tatsächlich aber redet er ganz anders: „Diese brüderliche Gemeinschaft“, sagt er, „mit der wir untereinander verbunden sind, erfordert es, daß wir uns gegenseitig ermahnen“ (Brief 68). Und wir sehen auch, mit was für bitteren Worten dieser sonst so mildgesinnte Mann gegen Stephanus selber losfährt, wo er meint, daß dieser gar zu übermütig wird (Brief 74). So tritt also auch in diesem Stück noch nicht zutage, daß der Bischof von Rom irgendeine Rechtsprechungsgewalt gegen die besessen hätte, die nicht zu seinem Gebiet gehörten.
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(3) Was nun die Einberufung von Synoden betrifft, so hatte jeder Metropolit die Amtsaufgabe, zu festgesetzten Zeiten die Provinzialsynode zu versammeln. Darin hatte der Bischof von Rom keinerlei Recht. Ein allgemeines Konzil aber auszuschreiben, das vermochte allein der Kaiser. Wenn dies nämlich irgendeiner von den Bischöfen versucht hätte, so hätten nicht nur die, die außerhalb seines Bereiches waren, seinem Ruf den Gehorsam verweigert, sondern es wäre auch sofort ein Aufruhr entstanden. Deshalb ließ der Kaiser allen gleichermaßen die Botschaft zukommen, sie sollten anwesend sein. Zwar berichtet (der Kirchengeschichtsschreiber) Sokrates, (der Bischof) Julius (von Rom) habe sich bei den Bischöfen des Ostens beschwert, weil sie ihn nicht zu der Synode von Antiochia gerufen hätten, obwohl es doch nach den Kirchensatzungen verboten sei, ohne Mitwissen des Bischofs von Rom etwas zu beschließen (Historia tripartita IV,9). Aber wer sieht nicht, daß man hier an solche Beschlüsse denken muß, die die gesamte Kirche binden? Es ist nun aber keineswegs verwunderlich, wenn man dem Alter und der Bedeutung der Stadt wie auch der Würde ihres Bischofssitzes soviel Ehre antut, daß man in Abwesenheit des Bischofs von Rom keinen allgemeinen Beschluß über die Gottesverehrung faßt, vorausgesetzt daß er es nicht ablehnt, zugegen zu sein. Aber was hat das mit einer Herrschaft über die ganze Kirche zu tun? Denn wir leugnen ja gar nicht, daß der Bischof von Rom einer von den vornehmsten gewesen ist; wir wollen aber nicht annehmen, was die Römischen heutzutage behaupten, nämlich, daß er eine Herrschaft über alle innegehabt hätte.
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(4) Jetzt ist noch die vierte Art von (kirchenregimentlicher) Macht übrig, die in den Berufungen (bei kirchlichen Prozessen) besteht. Es steht fest, daß bei dem, auf dessen Richterstuhl man sich beruft, die oberste Herrschaft liegt, viele haben sich nun, und zwar oft, auf den Bischof von Rom berufen, auch hat er selber versucht, die Untersuchung der Fälle an sich zu ziehen; aber er wurde stets ausgelacht, wenn er seine Grenzen überschritt. Ich will nichts vom Osten oder von Griechenland sagen, nein, es steht fest, daß auch die Bischöfe von Gallien tapfer widerstanden haben, wenn es den Eindruck machte, als wollte er sich eine Herrschaft über sie anmaßen.
In Afrika ist über diese Sache lange Zeit hindurch gestritten worden. Als nämlich auf dem Konzil zu Mileve, an dem Augustin teilnahm, die Leute mit dem Bann belegt worden waren, die „jenseits des Meeres“ eine Berufung vorbrachten, da versuchte der Bischof von Rom zu erreichen, daß dieser Beschluß rückgängig gemacht würde. Er schickte Abgesandte, die darlegen sollten, daß ihm auf dem Konzil zu Nicäa dieses Vorrecht gegeben worden sei. Diese Abgesandten legten Akten des Konzils zu Nicäa vor, die sie aus dem Archiv ihrer Kirche entnommen hatten. Die Afrikaner leisteten Widerstand und erklärten, man dürfe dem Bischof von Rom in eigener Sache keinen Glauben schenken und sie würden deshalb Boten nach Konstantinopel und in andere Städte Griechenlands schicken, wo man weniger verdächtige Exemplare (dieser Konzilsakten) hätte. Dabei brachte man klar in Erfahrung, daß
darin nichts von der Art geschrieben stand, wie es die Römischen vorgeschoben hatten! So ist jener Beschluß, der dem Bischof von Rom das oberste Untersuchungsrecht abgesprochen hatte, in Geltung geblieben. In dieser Sache kam die schandbare Unverschämtheit des Bischofs von Rom selber zum Vorschein. Denn er hatte in betrügerischer Weise die (Beschlüsse der) Synode von Sardika (347) für die von Nicäa eingeschoben und wurde nun schimpflich bei offenem Betrug ertappt.
Aber noch größer und schamloser war die Nichtsnutzigkeit derer, die den Akten des Konzils einen gefälschten Brief zufügten, in dem ich weiß nicht was für ein Bischof von Karthago die Anmaßung seines Vorgängers Aurelius verdammt, weil dieser es gewagt habe, sich dem Gehorsam gegenüber dem apostolischen Stuhl zu entziehen, sich selbst und seine Kirche unterwirft und demütig um Verzeihung bittet! Das sind also die herrlichen Urkunden der alten Zeit, auf die die Majestät des römischen Stuhls gegründet ist; (sie kommen zustande,) indem sie unter dem Vorwande ganz alter Herkunft dermaßen kindisch lügen, daß es selbst Blinde tastend merken können! „Aurelius“, so sagt dieser „Bischof von Karthago“, „hat sich, von teuflischer Vermessenheit und Widerspenstigkeit übermütig gemacht, gegen Christus und den heiligen Petrus empört, und deshalb muß er mit dem Anathema verdammt werden.“ Was hat denn Augustin getan? Was haben denn die vielen Väter getan, die an dem Konzil von Mileve teilgenommen haben? Aber wozu ist es nötig, mit vielen Worten dieses törichte Schriftstück zu widerlegen, das nicht einmal die Römischen selbst ohne große Scham anschauen können, wenn sie noch einiges Ehrgefühl haben? Ebenso (wie die oben genannten Betrüger) macht es Gratian, ob nun aus Bosheit oder aus Unwissenheit, das weiß ich nicht: er berichtet zunächst von jenem Beschluß, nach dem alle, die „jenseits des Meeres“ Berufung einlegen, der kirchlichen Gemeinschaft verlustig gehen sollen - und dann fügt er die Ausnahme hinzu: „Sofern sie sich nicht etwa auf den römischen Stuhl berufen“ (Decretum Gratiani II,2,6,35)! Was soll man nun mit solchen wilden Tieren anfangen, denen der gesunde Menschenverstand dermaßen abgeht, daß sie von einem Gesetz eben gerade das eine ausnehmen, dessentwegen, wie jedermann weiß, dies Gesetz aufgestellt worden ist? Denn wenn das Konzil die Berufungen „jenseits des Meeres“ verurteilt, so richtet sich sein Verbot doch nur dagegen, daß sich jemand auf Rom beruft. Und hier nimmt der gute Ausleger gerade Rom von dem allgemeinen Gesetz aus!
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Aber - wir wollen diese Frage einmal zu Ende bringen -: wie die Rechtsprechungsgewalt des Bischofs von Rom einst geartet war, das wird eine Geschichte offen an den Tag bringen. Der Bischof Caecilian von Karthago war von Donatus von Casae Nigrae angeklagt worden. Der Angeklagte war ohne Verhör und Prozesse verurteilt worden. Denn er wußte, daß die Bischöfe gegen ihn eine Verschwörung gemacht hatten, und wollte deshalb nicht (vor ihrem Gericht) erscheinen. Daraufhin kam die Sache an den Kaiser Konstantin. Dieser wollte, daß die Angelegenheit durch ein kirchliches Urteil erledigt würde, und deshalb übertrug er die Untersuchung dem Bischof Melciades von Rom, dem er als Amtsgenossen einige Bischöfe aus Italien, Gallien und Spanien zur Seite stellte (Augustin, Brief 43 und 88 und Kleiner Bericht über eine Zusammenkunft mit den Donatisten,12). Wenn es nun zur gewöhnlichen Rechtsprechungsgewalt des römischen Stuhls gehörte, Berufungen in kirchlichen Rechtsfällen zu untersuchen - weshalb duldete es dann der Bischof von Rom, daß ihm nach der Entscheidung des Kaisers andere Bischöfe zur Seite gestellt wurden, ja, weshalb übernahm er das Urteil mehr auf Befehl des Kaisers als auf Grund seiner Amtsaufgabe? Aber wir wollen hören, was sich nachher zutrug. Caecilian siegte in diesem Verfahren, und Donatus von Casae Nigrae fiel mit seiner verleumderischen Anklage durch. Er legte Berufung ein. Da übertrug Konstantin das Berufungsurteil dem Bischof von Arles, und dieser nahm den Richterstuhl ein, um nach dem Bischof von Rom das ihm richtig erscheinende Urteil zu
fällen! Wenn nun der römische Stuhl die höchste (richterliche) Gewalt hat, so daß eine Berufung nicht weiter eintreten kann - weshalb duldet es dann Melciades, daß ihm eine so auffallende Schmach zugefügt wird, daß man ihm den Bischof von Arles vorzieht? Und wer ist der Kaiser, der das tut? Doch Konstantin, von dem die Römischen rühmen, er habe nicht nur all seinen Eifer, sondern beinahe alle Macht seines Reiches daran gewandt, die Würde ihres Stuhls zu vergrößern! Wir sehen also schon, wie weit damals der Bischof von Rom in jeder Hinsicht von jener obersten Herrschaft entfernt war, die ihm nach seiner Versicherung von Christus über alle Kirchen gegeben ist und von der er lügnerisch behauptet, er habe sie zu allen Zeiten mit Einwilligung der ganzen Welt innegehabt.
IV,7,11
Ich weiß wohl, wieviel Briefe, wieviel Reskripte und Edikte es gibt, in denen die Päpste dem römischen Stuhl alles nur Denkbare beilegen und es zuversichtlich für ihn in Anspruch nehmen. Aber alle, die auch nur den mindesten Verstand oder die geringsten Kenntnisse haben, wissen auch dies, daß die meisten von diesen Urkunden dermaßen abgeschmackt sind, daß man bei der ersten Kostprobe mit Leichtigkeit herausfinden kann, aus was für einer Werkstatt sie stammen. Denn welcher vernünftige und nüchterne Mensch wird meinen, daß jene berühmte Auslegung wirklich von Anaklet herrührt, die sich unter dem Namen des Anaklet bei Gratian findet, jene Auslegung nämlich, die besagt, „Kephas“ bedeute „Haupt“; (Decretum Gratiani I,22,2). Sehr viele törichte Dinge dieser Art, die Gratian ohne Urteil zusammengepackt hat, mißbrauchen die Römischen heutzutage gegen uns zur Verteidigung ihres Stuhls, und solch dummes Zeug, mit dem sie einst in der Finsternis unerfahrene Leute zu Narren gehalten haben, wollen sie noch heute bei solch hellem Licht an den Mann bringen! Aber ich will an die Widerlegung solcher Dinge, die sich wegen ihrer gar zu großen Abgeschmacktheit selber deutlich widerlegen, nicht viel Mühe verwenden.
Ich gebe zu, daß auch echte Briefe früherer Päpste vorliegen, in denen sie die Bedeutung ihres Stuhls mit großmächtigen Lobsprüchen anpreisen; von dieser Art sind einige Briefe Leos (I.). Denn so gebildet und redegewandt dieser Mann war, so sehr war er auch über die Maßen auf Ruhm und Herrschaft versessen; die Frage ist aber, ob damals, während er sich so erhob, die Kirchen seinem Zeugnis Glauben beigemessen haben. Es ist jedoch offenkundig, daß sich viele über seine Ehrsucht geärgert und auch seiner Begehrlichkeit Widerstand entgegengesetzt haben. An einer Stelle trägt er dem Bischof von Thessalonich seine Stellvertretung für Griechenland und andere, benachbarte Gebiete auf (Brief 14,1), an einer anderen dem Bischof von Arles oder irgend jemand anders für Gallien (Brief 10,9). Ebenso setzt er den Bischof Hormisdas von Hispalis zu seinem Statthalter für Spanien ein (Brief 15,17). Aber überall macht er die Einschränkung, er gebe derartige Aufträge nach der Ordnung, daß die althergebrachten Vorrechte des Metropoliten unverkürzt und uneingeschränkt bestehen blieben. Leo selber aber erklärt, eines von diesen Vorrechten bestehe darin, daß man bei jedem vorfallenden Zweifel über eine Sache an erster Stelle den Metropoliten zu befragen habe. Diese Statthalterschaften vollzogen sich also unter der Bedingung, daß kein Bischof in seiner ordentlichen Rechtsprechung, kein Metropolit in der Verhandlung der Berufungssachen und auch keine Provinzialsynode in der Ordnung der Kirchen behindert werden sollte. Was hieß das aber anders, als sich jeder Rechtsprechung zu enthalten und sich dagegen nur, soweit es das Gesetz und das Wesen der kirchlichen Gemeinschaft mit sich bringt, ins Mittel zu legen, um Mißhelligkeiten zu schlichten?
IV,7,12
Zur Zeit Gregors war dieser alte Zustand bereits wesentlich verändert. Denn das Reich war erschüttert und zerrissen, Gallien und Spanien hatten hintereinander viele Niederlagen erlitten und lagen am Boden, Illyrien war verwüstet, Italien war ge-
plagt und Afrika durch andauernde Nöte nahezu zugrunde gerichtet. Damit nun bei solcher Zerrüttung der bürgerlichen Verhältnisse wenigstens die Reinheit des Glaubens erhalten blieb oder jedenfalls nicht gänzlich unterging, schlossen sich von allen Seiten alle Bischöfe enger an den Bischof von Rom an. Dadurch ist es zustande gekommen, daß nicht allein die Würde, sondern auch die Macht dieses Stuhls gewaltig anwuchs. Allerdings bekümmere ich mich nicht so sehr darum, auf welche Art und Weise es dazu gekommen ist. Jedenfalls steht es fest, daß diese Macht damals größer gewesen ist als in den vorausgehenden Jahrhunderten. Und doch fehlte noch viel daran, daß es jene ungebundene Herrschaft gewesen wäre, so daß also einer nach seiner Willkür über die anderen hätte regieren können. Aber der römische Stuhl genoß eine solche Ehrerbietung, daß er die Bösen und Widerspenstigen, die von ihren Amtsgenossen nicht bei ihrer Pflicht gehalten werden konnten, mit seiner Autorität zu dämpfen und zurückzudrängen vermochte. Jedenfalls bezeugt Gregor wiederholt mit Nachdruck, er wahre den anderen ihre Rechte nicht minder getreulich, als er selbst seine Rechte von ihnen fordere (Brief III,29). „Niemandem“, sagt er, „nehme ich, von der Ehrsucht angestachelt, was sein Recht ist, sondern ich bin bestrebt, meine Brüder in jeder Hinsicht zu ehren“ (Brief II,52). In seinen Schriften findet sich kein Wort, in dem er die Bedeutung seiner Obergewalt mit mehr Hochmut rühmte, als folgendes: „Ich weiß nicht, welcher Bischof dem apostolischen Stuhl nicht unterworfen wäre, wofern er schuldig befunden wird.“ Trotzdem setzt er unmittelbar darauf hinzu: „Wo keine Schuld ist, die es (anders) erforderte, da sind alle nach der Art der Demut einander gleichgestellt“ (Brief IX,27). Er schreibt sich also das Recht zu, die zu strafen, die gefehlt haben; tun aber alle ihre Pflicht, so macht er sich den anderen gleich. Zudem sprach er sich zwar selbst dieses Recht zu, und die da wollten, willigten darin ein; andere aber, denen das nicht paßte, durften ungestraft Widerspruch erheben, und das haben bekanntermaßen auch manche getan. Außerdem spricht er ja an dieser Stelle von dem Oberbischof von Byzanz: dieser war von der Provinzialsynode verurteilt worden und hatte das ganze Urteil verworfen. Diese Widerspenstigkeit des Mannes hatten seine Amtsgenossen dem Kaiser gemeldet. Der Kaiser hatte den Willen, Gregor sollte in dieser Sache eine Entscheidung fällen. Wir sehen also, daß er nichts unternimmt, um die gewöhnliche Rechtsprechung zu verletzen, und daß er auch eben das, was er tut, um anderen behilflich zu sein, ausschließlich auf Geheiß des Kaisers tut.
IV,7,13
Die ganze Gewalt des Bischofs von Rom bestand also damals darin, sich widerspenstigen und ungezähmten Köpfen entgegenzustellen, wo irgendein außerordentliches Mittel erforderlich war, und das geschah, um den anderen Bischöfen zu helfen, nicht aber, um sie zu behindern. Daher nimmt sich Gregor den anderen gegenüber keineswegs mehr heraus, als er an anderer Stelle allen sich selbst gegenüber zugesteht, indem er bekennt, er sei bereit, sich von allen bestrafen, von allen bessern zu lassen (Brief II,50). So gibt er an anderer Stelle dem Bischof von Aquileja zwar die Weisung, nach Rom zu kommen, um sich wegen einer Glaubensstreitigkeit zu verantworten, die zwischen ihm und anderen entstanden war; aber er gibt diesen Befehl nicht auf Grund seiner eigenen Vollmacht, sondern weil es ihm der Kaiser aufgetragen hat. Auch kündigt er nicht an, daß er allein Richter sein werde, sondern er verspricht, die Synode zu versammeln, von der die ganze Angelegenheit beurteilt werden solle (Brief I,16). So bestand also noch ein solches Maßhalten, daß die Gewalt des römischen Stuhls ihre bestimmten Grenzen hatte, über die sie nicht hinausgehen durfte, und daß der Bischof von Rom selber nicht in höherem Maße über den anderen stand, als er ihnen zugleich unterstellt war.
Aber obgleich es so war, kommt doch deutlich zutage, wie sehr dieser Zustand dem Gregor mißfallen hat; denn er klagt zuweilen, daß er unter dem Schein des Bischofsamtes wieder zur Welt zurückgeführt worden sei, er klagt, er sei mehr in
irdische Sorgen verwickelt, als er je im Laienstande an sie geknechtet gewesen sei, er werde in seinem Ehrenrang von einem Gewirr weltlicher Geschäfte erdrückt (Brief I,5). An anderer Stelle sagt er: „Mich drücken derartige Lasten von Geschäften darnieder, daß mein Herz sich zu höheren Dingen gar nicht mehr erheben kann. Viele Sachen rütteln mich gleich Wogen, und nach jener (früheren) Muße der Ruhe werde ich dermaßen von den Stürmen eines wirren Lebens gequält, daß ich mit Recht sagen kann: ‚Ich bin gekommen in die Tiefe des Meeres, und der Sturm hat mich versinken lassen’„ (Jona 2,4; kein genaues Zitat; Brief I,7; I,25). Hieraus kann man entnehmen, was er wohl gesagt hätte, wenn er in unseren Zeiten gelebt hätte. Wenn er auch das Hirtenamt nicht voll erfüllte, so verrichtete er es doch. Der Führung einer bürgerlichen Herrschaft enthielt er sich, und er bekannte, daß er zusammen mit den anderen dem Kaiser Untertan sei. In die Sorge für andere Kirchen drängte er sich nicht ein, wofern ihn nicht die Not dazu zwang. Und doch hat er den Eindruck, in einem Irrgarten zu sein, weil er nicht einfach ganz für die Übung seiner Amtspflicht als Bischof frei sein kann.
IV,7,14
Zu dieser Zeit kämpfte der Bischof von Konstantinopel mit dem von Rom um die Obergewalt, wie bereits dargelegt wurde. Denn nachdem die Residenz des Reiches in Konstantinopel aufgerichtet war, schien es die Majestät des Kaiserreichs zu fordern, daß auch die Kirche daselbst den zweiten Ehrenplatz nach der von Rom innehätte. Und sicherlich hatte im Anfang nichts mehr Bedeutung für die Übertragung einer Obergewalt an Rom gehabt, als die Tatsache, daß sich dort eben damals das Haupt des Reiches befand. Bei Gratian ist ein Schreiben unter dem Namen des Papstes Lucius vorhanden, in dem dieser erklärt, die Städte, in denen Metropoliten und Oberbischöfe die Leitung haben sollten, seien ausschließlich nach der Art der bürgerlichen Regierung bestimmt, die dort zuvor bestanden hätte (Decretum Gratiani I,80,1). Auch findet sich ein anderes, ähnliches Schreiben unter dem Namen des Papstes Clemens, in dem dieser sagt, in den Städten, die einst die obersten Priester gehabt hätten, habe man auch die Patriarchen eingesetzt (Decretum Gratiani I,80,2). Obgleich das nun ohne eigentlichen Inhalt ist, so ist es doch dem wahren Tatbestand entnommen. Denn es steht fest, daß man die Gebiete, um möglichst wenig Veränderungen eintreten zu lassen, auf Grund des damals vorhandenen Standes der Dinge verteilt hat, und daß die Oberbischöfe und Metropoliten in den Städten ihren Sitz bekommen haben, die vor den übrigen an Ehren und Macht den Vorrang besaßen. Deshalb wurde auf dem Konzil zu Turin (401) der Beschluß gefaßt, die Städte, die in den einzelnen Provinzen in der bürgerlichen Regierung an erster Stelle stünden, sollten auch die ersten Bischofssitze sein; wenn es aber vorkäme, daß die Ehre der bürgerlichen Regierung von einer Stadt auf eine andere übertragen würde, so sollte auch das Recht einer (kirchlichen) Hauptstadt mit auf sie übergehen (Kap. 1). Als nun aber der Bischof Innozenz von Rom sah, wie die alte Würde der Stadt, seitdem der Sitz des Reiches nach Konstantinopel verlegt war, in Abgang kam, da fürchtete er für seinen Stuhl und erließ ein gegenteiliges Gesetz: in diesem erklärt er, es sei nicht notwendig, daß jeweils mit einer Änderung der kaiserlichen Hauptstädte auch die kirchlichen gewechselt würden. Aber die Autorität der Synode ist verdientermaßen der Ansicht eines einzigen Mannes vorzuziehen. Außerdem muß uns Innozenz selbst verdächtig sein (denn er spricht) in eigener Sache. Wie das nun aber auch sein mag: er zeigt trotz allem durch seine Vorsichtsmaßregel, daß es von Anfang an so eingerichtet gewesen ist, daß die (kirchlichen) Hauptstädte nach der äußeren Ordnung des Reiches eingerichtet wurden.
IV,7,15
Auf Grund dieses alten Brauchs hat man auf der ersten Synode zu Konstantinopel (381) festgesetzt, der Bischof dieser Stadt solle hinsichtlich seiner Ehrenvorrechte gleich auf den Bischof von Rom folgen, und zwar weil Konstantinopel das neue Rom sei (Socrates, Kirchengeschichte V, 8, Historia tripartita IX,13, Decretum
Gratiani I,22,3). Lange Zeit später jedoch, als man in Chalcedon einen ähnlichen Beschluß gefaßt hatte, erhob Leo heftigen Widerspruch. Und er erlaubte es sich nicht nur, das, was sechshundert Bischöfe oder mehr beschlossen hatten, für nichts zu achten, sondern er griff sie auch mit heftigen Vorwürfen an, weil sie die Ehre, die sie der Kirche zu Konstantinopel beizulegen gewagt hätten, anderen Bischofssitzen entzogen hätten. Ich möchte nun wissen: was anders konnte diesen Mann dazu reizen, den Erdkreis wegen einer so unerheblichen Angelegenheit in Erschütterung zu versetzen, als reine Ehrsucht? Er erklärte: was die Synode von Nicäa einmal festgesetzt habe, das müsse auch unverletzt bleiben. Als ob der christliche Glaube aufs Spiel gesetzt würde, wenn eine Kirche der anderen vorgezogen wird! Oder als ob man in Nicäa die Patriarchate zu einem anderen Zweck festgelegt hätte als um der äußeren Ordnung willen! Wir wissen aber, daß die äußere Ordnung je mit wechselnder Zeit vielfältige Veränderungen durchmacht, ja erfordert. Es war daher ein nichtiger Vorwand, wenn Leo erklärte, man dürfe die Ehre, die kraft der Autorität des Konzils von Nicäa dem Bischofssitz von Alexandria gegeben worden sei, nicht auf den von Konstantinopel übertragen. Denn der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß dieser Beschluß von solcher Art war, daß er je nach den Erfordernissen der Zeit auch wieder aufgehoben werden konnte. Wie kommt es auch, daß von Bischöfen des Ostens niemand Widerspruch erhob, obwohl diese doch der Fall am meisten anging? Es war doch jedenfalls Proterius anwesend, den man an Stelle des Dioskur zum Patriarchen von Alexandria gemacht hatte, auch andere Patriarchen waren zugegen, deren Ehre (durch solchen Beschluß) gemindert wurde. Diese hätten die Aufgabe gehabt, Einspruch zu erheben, nicht aber Leo, der an seinem Platz ohne jede Einbuße blieb! Während diese aber alle schweigen, ja zustimmen, widersetzt sich allein der Bischof von Rom. Hier ist auch das Urteil, was ihn denn dazu bewogen haben mag, schnell bei der Hand: er sah eben voraus, was dann auch nicht lange nachher eintrat, nämlich daß sich mit dem Abnehmen der Ehre des alten Rom Konstantinopel mit dem zweiten Platz nicht zufriedengeben und mit Rom um die Obergewalt kämpfen würde. Trotzdem hat es Leo mit seinem Einspruch nicht zuwege gebracht, daß der Beschluß des Konzils etwa nicht in Geltung gekommen wäre. Deshalb haben seine Nachfolger, da sie einsahen, daß sie machtlos waren, von jener Halsstarrigkeit friedlich Abstand genommen; sie haben es nämlich geduldet, daß der Bischof von Konstantinopel als zweiter Patriarch galt.
IV,7,16
Kurze Zeit nachher jedoch ist Johannes, der zur Zeit Gregors (I.) die Kirche zu Konstantinopel regierte, soweit gegangen, daß er sich als Patriarchen für die ganze Kirche (universalis Patriarchus) bezeichnete. Dagegen hat sich Gregor, um in so ausgezeichneter Sache nicht die Verteidigung seines Stuhls zu unterlassen, standhaft gewehrt. Und sicherlich war auch die Hoffart wie die Unsinnigkeit des Johannes, der die Grenzen seines Bistums den Grenzen des Reiches gleich machen wollte, untragbar. Trotzdem macht Gregor auf das, was er dem anderen verweigert, nicht etwa selber Anspruch, sondern er verabscheut diesen Namen („Gesamtpatriarch“) als frevlerisch, gottlos und ruchlos - von wem er schließlich auch gebraucht werden möge. Ja, er fährt gar an einer Stelle gegen den Bischof Eulogius von Alexandria los, der ihn mit einem derartigen Titel geehrt hatte. „Seht“, sagt er, „Ihr habt in der Vorrede des Briefes, den Ihr an mich gerichtet habt, trotz meines Verbots ein Wort schreiben lassen, das eine hoffärtige Bezeichnung bedeutet: Ihr habt mich nämlich „Papst der Gesamtkirche” (Papa universalis) genannt. Dies, bitte ich, möge Eure Heiligkeit in Zukunft nicht mehr tun; denn Euch wird entzogen, was einem anderen über das begründete Maß hinaus gegeben wird. Ich betrachte das, von dem ich sehe, daß dadurch die Ehre meiner Brüder gemindert wird, nicht als Ehre. Denn meine Ehre ist die Ehre der gesamten Kirche und der ungeschmälerte Rechtsstand meiner Brüder. Wenn mich aber Eure Heiligkeit den
‚Papst der Gesamtkirche’ nennt, so erklärt sie damit, sie sei das, was ich nach ihrem Geständnis für die Gesamtheit sei, ihrerseits nicht“ (Brief VIII,29).
Die Sache Gregors war zwar gut und ehrenhaft, aber Johannes, dem die Gunst des Kaisers Mauritius zu Hilfe kam, konnte von seinem Vorhaben nicht abgebracht werden. Auch sein Nachfolger Cyriacus hat sich in dieser Sache niemals erweichen lassen.
IV,7,17
Dann trat Phocas nach Ermordung des Mauritius an dessen Stelle. Er war den Römern freundlicher gesinnt - ich weiß nicht, aus was für einem Grunde, ja doch: weil er in Rom ohne Streit gekrönt worden war. Dieser Phocas hat dann endlich Bonifatius dem Dritten zugestanden, was Gregor keineswegs verlangt hatte, nämlich daß Rom das Haupt aller Kirchen sein sollte. Auf diese Weise wurde der Streit geschlichtet.
Trotzdem hätte auch diese Gunstbezeigung des Kaisers dem römischen Stuhl nicht so sehr viel genützt, wenn nicht noch anderes hinzugekommen wäre. Denn Griechenland und ganz Asien sind kurz nachher von der Gemeinschaft mit ihm losgerissen worden. Und Frankreich erwies dem Papst seine Ehrerbietung dergestalt, daß es nur soweit Gehorsam leistete, als es ihm paßte. Es ist in der Tat erst zur Knechtschaft (unter Rom) gebracht worden, als Pipin die Königsgewalt an sich gerissen hatte. Denn der römische Bischof Zacharias hatte ihm zu Treulosigkeit und Räuberei Beihilfe geleistet, so daß er nach Vertreibung des rechtmäßigen Königs das Reich an sich riß, als ob es zur Plünderung preisgegeben wäre. Dafür erhielt Zacharias die Belohnung, daß der römische Stuhl über die französischen Kirchen die Rechtsprechungsgewalt haben sollte. Wie Räuber die gemeinsame Beute untereinander aufzuteilen pflegen, so machten auch diese guten Leute miteinander einen Vergleich: die irdische, bürgerliche Herrschaft sollte nach Beraubung des wahren Königs an Pipin fallen, Zacharias aber sollte das Haupt aller Bischöfe werden und die geistliche Gewalt haben!
Diese war nun im Anfang ungefestigt, wie es mit neuen Sachen so zuzugehen pflegt; darauf aber wurde sie durch die Autorität Karls gestärkt - und zwar aus fast gleicher Ursache. Denn auch Karl war dem römischen Papst verpflichtet, weil er durch seine Bemühungen zur Kaiserwürde gelangt war.
Obgleich nun anzunehmen ist, daß die Kirchen allenthalben schon zuvor sehr verunstaltet waren, steht es doch fest, daß erst damals die alte Gestalt der Kirche in Frankreich und Deutschland gänzlich in Vergessenheit geraten ist. In den Archiven des obersten Gerichtshofs zu Paris sind noch kurze Aufzeichnungen aus jenen Zeiten vorhanden, die, wo es sich um kirchliche Dinge handelt, Verträge in Erwähnung bringen, die Pipin oder auch Karl mit dem römischen Papst abgeschlossen haben. Aus diesen ergibt sich der Schluß, daß damals die Änderung des alten Zustandes erfolgt ist.
IV,7,18
Von dieser Zeit an, als die Verhältnisse allenthalben tagtäglich schlechter wurden, ist dann auch die Tyrannei des römischen Stuhls allmählich zu Kraft und zu größerem Umfang gekommen, und zwar teils durch die Unwissenheit, teils durch die Lässigkeit der Bischöfe. Denn während sich ein einziger alles herausnahm und ohne Maß mehr und mehr fortfuhr, sich gegen Recht und Billigkeit zu erheben, haben sich die Bischöfe nicht mit dem schuldigen Eifer angestrengt, seine Willkür in Schranken zu halten, und wenn sie auch nicht ohne den Willen dazu gewesen wären, so hätte es ihnen dennoch an rechter Unterweisung und Erfahrung gefehlt, so daß sie keineswegs geeignet waren, eine so wichtige Sache anzufassen. So sehen wir, von welcher Art und von was für einer Scheußlichkeit zur Zeit Bernhards (von Clairvaux) die Entweihung alles Heiligen und die Zerstörung der gesamten kirchlichen Ordnung zu Rom gewesen ist. Er klagt, aus der ganzen Welt strömten ehrgierige, habsüchtige
Leute, Menschen, die Simonie, Tempelschändung, Hurerei, Blutschande trieben, und andere Ungeheuer dieser Art nach Rom zusammen, um dort durch apostolische Autorität kirchliche Ehren zu erlangen oder zu behalten; Betrug, Hintergehung und Gewalttaten, klagt er, hätten überhandgenommen (Von der Betrachtung an Papst Eugen III.,I,4f.). Er erklärt, die damals übliche Art der Rechtsprechung sei abscheulich und sie sei nicht nur für die Kirche, sondern auch für das (weltliche) Gericht unziemlich (Ebenda I,10,13). Er ruft aus, die Kirche sei voll ehrgieriger Leute, und es sei keiner da, der vor der Begehung von Schandtaten mehr Abscheu hätte als Räuber in ihrer Höhle, wenn sie die den Reisenden abgenommene Beute verteilten (Ebenda). „Wenige“, sagt er, „schauen auf den Mund des Gesetzgebers; alle aber sehen auf seine Hände. Das geschieht aber auch nicht ohne Grund. Denn alle päpstlichen Geschäfte geschehen eben durch die Hände“ (Ebenda IV,2,4). „Was soll das heißen“ (schreibt er an den Papst), „daß die Leute, die zu dir sagen: ‚Prachtvoll, herrlich!’ - durch Raubgut erkauft werden, das man den Kirchen abnimmt? Der Lebensunterhalt der Armen wird auf den Gassen der Reichen ausgestreut. Das Silber glänzt im Schmutz. Man eilt von allen Seiten herzu - aber nicht der Ärmere, sondern der Stärkere nimmt es auf oder auch der, der gerade am schnellsten vorausläuft! Doch kommt diese Festsetzung oder besser: diese tödliche Zersetzung (mos iste, vel potius mors ista) nicht von dir her - ach, möchte sie bei dir enden! Mitten in alledem schreitest du als ‚Hirte’ einher, mit vielem und kostbarem Zierat umgeben. Wenn ich es zu sagen wagen dürfte - das ist doch eher eine Weide für Teufel als für Schafe. So hat denn wohl auch Petrus getan, so auch Paulus Spott getrieben?“ (Ebenda IV,2,5). „Dein Hof ist gewohnt, mehr gute Leute in sich aufzunehmen - als Leute gut zu machen. Denn die Bösen werden an ihm nicht besser, die Guten aber schlechter!“ (Ebenda IV,4,11). Die Mißbräuche bei den Berufungsverfahren, die er dann berichtet, wird kein frommer Mensch ohne großen Abscheu lesen können (Ebenda III,2,6ff.). Endlich redet er von jener zügellosen Begehrlichkeit des römischen Stuhls in der Anmaßung der Rechtsprechungsgewalt und kommt dabei zu dem Schluß: „Ich spreche das Murren und die gemeinsame Klage der Kirchen aus. Sie rufen laut, daß sie verstümmelt und ihrer Gliedmaßen beraubt werden. Und es gibt gar keine mehr oder nur noch wenige, die diesen Schlag nicht schmerzlich empfinden oder nicht (wenigstens) fürchten. Fragst du, was für einen Schlag? Daß man die Äbte ihren Bischöfen (hinsichtlich der Gerichtsgewalt und anderer Rechte) entzieht und die Bischöfe den Erzbischöfen ...! Es wäre ein Wunder, wenn man das entschuldigen könnte. Indem ihr so handelt, beweist ihr zwar, daß ihr volle Macht habt - aber nicht volle Gerechtigkeit. Ihr tut es, weil ihr es könnt; aber ob ihr es auch dürft, das ist die Frage. Ihr seid doch dazu gesetzt, jedem seine Ehre und seinen Rang zu erhalten, nicht aber, sie ihm zu mißgönnen“ (Ebenda III,4,14). Dies wenige wollte ich doch aus vielem heraus berichten, und zwar, damit die Leser einerseits sehen, was für einen schweren Fall die Kirche damals getan hatte, und auch andererseits erkennen, wie sehr diese Not alle Frommen in Trauer und Seufzen versetzt hat.
IV,7,19
Wenn wir nun aber dem Bischof von Rom heutzutage auch die hervorragende Stellung und die große Macht in der Rechtsprechung zugeben würden, die dieser Stuhl in den mittleren Zeiten (der Entwicklung), wie z.B. zu Zeiten Leos oder Gregors besessen hat - was würde das dem gegenwärtigen Papsttum nützen? Ich rede noch nicht von der irdischen Herrschaft, auch nicht von der bürgerlichen Gewalt; darüber werden wir nachher noch an geeigneter Stelle unsere Betrachtungen anstellen. Nein, was hat das geistliche Regiment selbst, das sie rühmen, mit den Verhältnissen jener Zeiten Ähnliches? Denn den Papst beschreibt man nicht anders als so: er ist das oberste Haupt der Kirche auf Erden und der Allgemeinbischof des ganzen Erdkreises. Wenn aber die Päpste selbst über ihre Autorität sprechen, so erklären sie in großer Hoffart, bei ihnen liege die Vollmacht zum Befehlen, für die
anderen bestehe die Notwendigkeit zu gehorchen; auf diese Weise seien alle ihre Anordnungen so anzusehen, als wenn sie gleichsam durch die göttliche Stimme des Petrus bekräftigt seien. Die Provinzialsynoden - so heißt es weiter - hätten, da sie ohne Gegenwart des Papstes stattfänden, keine Kraft. Die Päpste erklären weiter, sie könnten für jede beliebige Kirche Kleriker ordinieren und die, welche anderswo ordiniert wären, vor ihren Stuhl rufen. Zahllose Aussagen dieser Art finden sich in dem Sammelwerk des Gratian; ich zähle sie nicht auf, um dem Leser nicht gar zu beschwerlich zu fallen. Der Hauptinhalt läuft aber darauf hinaus: bei dem Bischof von Rom allein liegt die oberste Entscheidung über alle kirchlichen Angelegenheiten, ob es nun darum geht, Lehren zu beurteilen und festzustellen, Gesetze zu erlassen, die Zucht zu regeln oder die Rechtsprechung zu üben. Langwierig und überflüssig wäre es auch, die Vorrechte aufzuzählen, die sie sich mit den von ihnen so genannten „Reservationen“ (dem Papste vorbehaltene Rechte) herausnehmen. Das unerträglichste von allem ist aber dies: sie lassen auf Erden kein Gericht bestehen, das ihre Willkür in Schranken halten oder zügeln könnte, wenn sie eine derart unermeßliche Gewalt mißbrauchen. „Niemandem“, sagen sie, „soll es gestattet sein, sich dem Urteil dieses Stuhles zu widersetzen, und zwar um der Obergewalt der Kirche zu Rom willen“ (Decretum Gratiani II,17,4,30). Oder ebenso: „Dieser Richter (der Papst) soll weder vom Kaiser noch von den Königen, noch von irgendwelchem Klerus, noch vom Volke gerichtet werden“ (Decretum Gratiani II,9,3,13). Es ist schon mehr als herrisch genug, wenn sich ein einziger Mensch als Richter über alle einsetzt, dagegen nicht bereit ist, sich dem Urteil eines anderen zu fügen. Aber was soll man erst sagen, wenn er seine Tyrannei gegen das Volk Gottes ausübt, wenn er Christi Reich zerstreut und verwüstet, wenn er die ganze Kirche in Verwirrung bringt, wenn er das Hirtenamt in Räuberei verwandelt? Ja, selbst für den Fall, daß der Papst der verruchteste unter allen Menschen wäre, bestreitet er, daß er gezwungen sei, Rechenschaft zu geben! Denn es sind Aussprüche von Päpsten, wenn es heißt: „Die Angelegenheiten anderer Menschen hat Gott durch Menschen erledigen lassen wollen, den Bischof dieses Stuhls aber hat Gott ohne richterliche Untersuchung (durch Menschen) seinem eigenen Urteil vorbehalten“ (Decretum Gratiani II,9,3,14). Oder ebenso: „Die Taten unserer Untertanen werden von uns gerichtet, die unseren aber von Gott allein“ (Decretum Gratiani II,9,3,15).
IV,7,20
Damit nun dergleichen Verordnungen mehr Gewicht haben, so hat man fälschlicherweise die Namen alter Bischöfe (von Rom) untergeschoben, als ob die Dinge bereits von Anfang an so geregelt gewesen wären. Und dabei ist es doch mehr als gewiß, daß alles, was man dem Bischof von Rom mehr zumißt, als ihm nach unserem Bericht die alten Konzilien gegeben haben, neu und erst vor kurzer Zeit zusammengezimmert ist. Ja, man ist in seiner Unverschämtheit so weit gegangen, daß man ein Schreiben unter dem Namen des Patriarchen Anastasius von Konstantinopel herausgebracht hat, worin dieser bezeugt, es sei durch die alten Regeln festgelegt worden, daß auch in den entferntesten Provinzen nichts geschehen dürfte, das nicht zuvor an den römischen Stuhl berichtet worden sei (Decretum Gratiani II,9,3,12). Abgesehen davon, daß dies nun ganz sicher völlig erlogen ist, möchte ich doch fragen: wer wollte es glaubhaft finden, daß ein derartiger Lobpreis des römischen Stuhls ausgerechnet von dem ausgegangen wäre, der sein Widersacher war und mit ihm eifersüchtig um Ehre und Würde kämpfte? Aber diese Antichristen mußten eben notwendig zu einer derartigen Unsinnigkeit und Verblendung fortgerissen werden, daß ihre Nichtsnutzigkeit allen Menschen mit gesundem Verstand offenkundig ist, die nur ihre Augen aufmachen wollen. Die Verordnungsschreiben, die Gregor IX. gesammelt hat, dazu auch die „Clementinen“ und die „Extravagantes Martini“ lassen noch deutlicher und mit volleren Backen diese furchtbare Unbändigkeit und diese
geradezu zu barbarischen Königen passende Tyrannei allenthalben an den Tag treten. Aber das sind die Offenbarungsworte, nach denen die Römischen ihr Papsttum beurteilt wissen wollen! Daraus sind dann auch die herrlichen Grundsätze entstanden, die heutzutage im Papsttum allenthalben die Geltung von Offenbarungsworten haben, so etwa: der Papst könne nicht irren, der Papst sei den Konzilien übergeordnet, der Papst sei der allgemeine Bischof aller Kirchen und das oberste Haupt der Kirche auf Erden. Ich schweige von noch widersinnigeren Ungereimtheiten, die törichte Kirchenrechtsgelehrte in ihren Schulen ausplaudern - und doch stimmen diesen die römischen Theologen nicht nur zu, sondern sie bezeugen ihren Beifall, um ihrem Abgott zu schmeicheln!
VI,7,21
Ich will nicht nach schärfstem Recht mit ihnen umgehen. Gegen eine derart große Überheblichkeit könnte irgendein anderer einen Ausspruch des Cyprian setzen, den dieser gegenüber den Bischöfen anwandte, deren Konzil er leitete: „Niemand unter uns nennt sich einen ‚Bischof der Bischöfe’ oder zwingt seine Amtsgenossen mit tyrannischem Druck in die Notwendigkeit hinein, ihm Gehorsam zu leisten.“ Er (jener „andere“) könnte auch einwerfen, was man einige Zeit danach in Karthago beschlossen hat: niemand solle sich als Obersten der Priester oder als Ersten Bischof bezeichnen. Er könnte aus den Geschichtsbüchern viele Zeugnisse, aus den (Akten der) Synoden Kirchensatzungen und aus den Büchern der Alten viele Aussagen sammeln, in denen der Bischof von Rom zur Ordnung gezwungen wird.
Ich aber sehe davon ab, um nicht den Eindruck zu erwecken, als setzte ich ihnen gar zu scharf zu. Es sollen mir aber die besten Beschützer des römischen Stuhls antworten, wie sie die Stirn haben wollen, die Verteidigung des Titels „Allgemeinbischof” (Bischof der Gesamtkirche) zu wagen, wo sie doch sehen, daß dieser Titel von Gregor (I.) so oft mit feierlichem Fluch verdammt wird. Wenn das Zeugnis Gregors in Kraft sein soll, so erklären sie damit, daß sie ihren Bischof zum „Allgemeinbischof“ machen, zugleich, daß er der Antichrist ist!
Auch der Name „Haupt“ (der Kirche) war keineswegs gebräuchlicher. Denn Gregor sagt an einer Stelle so: „Petrus war das vornehmste Glied am Leibe (Christi); Johannes, Andreas und Jakobus waren die Häupter besonderer Gemeinden. Alle aber sind unter dem einen Haupte Glieder der Kirche; ja, die Heiligen vor der Zeit des Gesetzes, die Heiligen unter dem Gesetz, die Heiligen in der Gnade - sie alle machen den Leib des Herrn vollständig und sind in die Reihe der Glieder gestellt, und keiner von ihnen hat je gewollt, daß man ihn als ‚allgemein’ bezeichnete“ (Brief V,44).
Daß sich aber der Bischof von Rom die Macht zum Befehlen anmaßt, das ist gar wenig in Übereinstimmung mit einer Aussage, die Gregor an anderer Stelle macht. Als nämlich der Bischof Eulogius von Alexandria erklärte, er habe von Gregor einen „Befehl“ empfangen, da antwortete dieser in folgender Weise: „Dieses Wort ‚Befehl’, bitte ich, laßt mir nicht zu Gehör kommen; denn ich weiß, wer ich bin und wer ihr seid: ihr seid nach eurer Stellung meine Brüder, nach eurem Wandel meine Väter; ich habe also nicht befohlen, sondern ich habe mich bemüht zu zeigen, was mir nützlich erschienen ist“ (Brief VIII,29).
Daß der Papst seine Rechtsprechungsgewalt so grenzenlos ausdehnt, darin tut er nicht nur den übrigen Bischöfen, sondern auch jeder einzelnen Kirche schweres, fürchterliches Unrecht an; denn er reißt die Kirchen dermaßen auseinander und verstümmelt sie so, daß er aus ihren Bruchstücken seinen Stuhl erbaut.
Daß er sich ferner jedem Urteil entzieht und in tyrannischer Art dergestalt herrschen will, daß er die Willkür, die er selbst allein übt, als Gesetz ansieht, das ist jedenfalls zu unwürdig und von der kirchlichen Handlungsweise zu verschieden, als daß man es irgendwie ertragen könnte. Denn es steht nicht nur zum Empfinden der Frömmigkeit, sondern auch zu dem der Menschlichkeit in klaffendem Widerspruch.
IV,7,22
Um aber nicht genötigt zu sein, das einzelne durchzugehen und zu untersuchen, so wende ich mich abermals an die, die heutzutage als die besten und getreuesten Anwälte des römischen Stuhls gelten wollen, und frage sie, ob sie sich denn nicht schämen, den gegenwärtigen Zustand des Papsttums zu verteidigen; denn es steht fest, daß er hundertmal verderbter ist, als er es in den Zeiten Gregors oder Bernhards war, und doch hat selbst jener Zustand damals diesen heiligen Männern so sehr mißfallen. Gregor klagt immer wieder, er werde durch fremde Geschäfte über die Maßen hin und hergezerrt, unter dem Schein des Bischofsamtes sei er zur Welt zurückgeführt worden, und er müsse jetzt in seinem Amt so vielen Erdensorgen dienstbar sein, daß er sich nicht erinnern könne, in seinem früheren Laienstande je unter so viele geknechtet gewesen zu sein, er werde vom Gewirr weltlicher Geschäfte dermaßen erdrückt, daß sein Herz sich nicht zu den himmlischen zu erheben vermöchte, die vielen Wellen der Rechtssachen zerrütteten ihn, und die ungestümen Stürme des Lebens brächten ihn in Anfechtung, so daß er mit Recht sagen könnte: „Ich bin gekommen in die Tiefe des Meeres ...” (Brief I,5; 1,7; 1,25; 1,24). Sicherlich konnte er mitten in solch irdischen Geschäften das Volk in Predigten unterweisen, ja, insonderheit ermahnen, sicherlich konnte er die, bei denen es sein mußte, noch strafen, die Kirche ordnen, den Amtsgenossen einen Rat geben und sie an ihre Pflicht mahnen; überdies blieb ihm auch noch einige Zeit zum Schreiben - und trotzdem beklagt er seine Not, weil er in die tiefste Tiefe des Meeres versunken sei. Wenn die Verwaltungsarbeit zu jener Zeit ein „Meer“ war, was wird man dann von dem gegenwärtigen Papsttum sagen müssen? Denn was haben sie noch Ähnliches miteinander? Hier gibt es keine Predigten, kein Sorgen für die Zucht, keinen Eifer um die Kirchen, keine geistliche Amtsaufgabe - kurz, hier ist nichts als die Welt. Und trotzdem preist man diesen Irrgarten, als ob sich nichts Geordneteres und Wohlbestellteres finden ließe!
Was für Klagen aber schüttet Bernhard aus, was für Seufzer läßt er vernehmen, indem er die Gebrechen seiner Zeit anschaut! Was würde er tun, wenn er unser Zeitalter ansähe, das da „eisern“ ist oder allenfalls gar noch schlimmer als Eisen? Was ist es da für eine Unverschämtheit, wenn man das, was alle Heiligen jederzeit einstimmig verworfen haben, halsstarrig als etwas Heiliges und Göttliches verteidigt, ja, nicht nur dies, sondern gar noch ihr Zeugnis zur Verteidigung eines Papsttums mißbraucht, das ihnen doch unzweifelhaft gänzlich unbekannt gewesen ist! Allerdings gebe ich bezüglich der Zeit Bernhards zu, daß damals die Verderbnis aller Dinge so groß gewesen ist, daß diese Zeit von der unseren nicht sehr verschieden war. Aller Scham aber entbehren solche Leute, die aus jener mittleren Zeit, nämlich der des Leo, des Gregor und ähnlicher Männer, irgendeinen Vorwand nehmen wollen. Denn diese Leute machen es genau so, wie wenn jemand zur Bestätigung der Alleinherrschaft der (römischen) Kaiser den alten Zustand des römischen Reiches loben wollte, das heißt: den Lobpreis der Freiheit dazu entlehnte, die Tyrannei zu zieren.
IV,7,23
Zum Schluß: selbst wenn man den Römischen alles dies schenken mag, so entsteht für sie doch abermals ein ganz neuer Streit, wenn wir leugnen, daß sich in Rom eine Kirche befinde, bei der solche Wohltaten ihren Platz haben könnten, und wenn wir ferner leugnen, daß es (dort) einen Bischof gibt, der solche Würdenvorrechte besäße. Nehmen wir einmal an, alle jene (vorigen) Behauptungen wären wahr - wir haben sie ihnen allerdings bereits aus der Hand geschlagen! -, nehmen wir also an, Petrus sei wirklich durch Christi Wort zum Haupt der gesamten Kirche eingesetzt worden, er habe die ihm übertragene Ehre dem römischen Stuhl übergeben, dies sei durch die Autorität der Alten Kirche festgelegt und durch lange Übung bestätigt, dem Bischof von Rom sei die oberste Gewalt alle Zeit einmütig von allen zuerkannt worden, er sei Richter über alle Rechtssachen wie auch über alle
Menschen, selbst dagegen dem Gericht keines Menschen unterworfen gewesen. Ja, die Römischen können noch mehr haben, wenn sie wollen - ich antworte jedenfalls mit dem einen Wort, daß all dies keinen Wert hat, wenn es in Rom keine Kirche und keinen Bischof gibt. Das müssen sie mir doch notwendig zugeben, daß etwas, das selbst keine Kirche ist, nicht die Mutter der Kirchen sein kann, und daß einer, der selbst kein Bischof ist, nicht der Oberste der Bischöfe sein kann. Wollen sie nun zu Rom den „apostolischen“ Stuhl haben? Dann müssen sie mir (dort auch) das wahre, rechtmäßige Apostelamt vorweisen! Wollen sie dort den obersten Bischof haben? Dann müssen sie mir auch einen Bischof vorweisen! Wie aber nun? Wo werden sie uns irgendeine erkennbare Gestalt der Kirche zeigen? Dem Namen nach tun sie das freilich, und sie führen die Kirche stets im Munde. Nun wird aber die Kirche sicherlich an ihren bestimmten Merkzeichen erkannt, und „Bistum“ ist der Name eines Amtes. Ich rede hier nicht vom Volke, sondern von dem Kirchenregiment selbst, das in der Kirche beständig zu sehen sein soll. Wo ist nun zu Rom das Amt nach der Art, wie es Christi Stiftung erfordert? Wir wollen uns an das erinnern, was oben von der Amtspflicht der Presbyter und Bischöfe gesagt wurde. Wenn wir das Amt der Kardinäle nach dieser Richtschnur messen, so müssen wir zugeben, daß sie nichts weniger sind als Presbyter. Und was der Bischof selber irgendwie Bischöfliches an sich haben soll, das möchte ich wohl wissen. Das erste Hauptstück beim Bischofsamt besteht darin, das Volk mit Gottes Wort zu unterweisen, das zweite, das diesem unmittelbar folgt, die Sakramente zu verwalten, und das dritte besteht darin, zu ermahnen und zu ermuntern, dazu auch die zu strafen, die sich vergehen, und das Volk in heiliger Zucht zu halten. Was von alledem tut der Bischof zu Rom? Ja, was gibt er wenigstens vor zu tun? Man soll mir also sagen, in welchem Sinne man einen Menschen für einen Bischof gehalten wissen will, der kein Stück seiner Amtspflicht auch nur mit dem kleinsten Finger, wenn auch gar nur zum Schein anrührt.
IV,7,24
Mit einem Bischof verhält es sich nicht so wie mit einem König; denn wenn dieser auch das, was eigentlich zu einem König gehört, nicht ausübt, so behält er trotzdem die Ehre und den Titel bei. Bei der Beurteilung eines Bischofs dagegen schaut man auf Christi Auftrag, der in der Kirche stets in Kraft bleiben muß. Die Römischen sollen mir also diesen Knoten auflösen. lch erkläre, daß ihr Bischof eben deshalb nicht der Oberste der Bischöfe ist, weil er kein Bischof ist! Sie müssen nun notwendig zunächst beweisen, daß die letztere Behauptung verkehrt ist, wenn sie bezüglich der ersteren obsiegen wollen. Was wollen sie aber sagen, wo ihr Bischof nicht nur nichts von dem hat, was die Eigenart eines Bischofs ausmacht, sondern vielmehr lauter Eigenschaften, die ihr zuwiderlaufen? Aber, o Gott, wo soll ich da den Anfang machen? Bei der Lehre oder etwa bei dem Lebenswandel? Was soll ich sagen oder - was soll ich verschweigen? Und wo soll ich aufhören? Das sage ich: wenn die Welt heutzutage so voll ist von soviel verkehrten und gottlosen Lehren, wenn sie erfüllt ist mit so vielartigem Aberglauben, wenn sie von soviel Irrtümern geblendet und in soviel Abgötterei versunken ist, so ist nirgendwo etwas von alledem, das nicht von Rom seinen Ursprung genommen oder wenigstens seine Billigung empfangen hätte. Und wenn die Päpste mit solcher Wut gegen die wieder aufkommende Lehre des Evangeliums vorgehen, wenn sie alle ihre Kräfte anspannen, um sie zu unterdrücken, wenn sie alle Könige und Fürsten zu grausamem Wüten anfeuern, so geschieht das aus keiner anderen Ursache, als weil sie sehen, daß ihre ganze Herrschaft ineinanderfällt und zusammenbricht, sobald einmal das Evangelium von Christus Geltung erlangt hat. Leo (X.) ist grausam gewesen, Clemens (VII.) blutdürstig, und Paul (III.) ist grimmig. Aber es war nicht so sehr ihre Natur, die sie zur Bestreitung der Wahr-
heit antrieb, als vielmehr die Tatsache, daß dies die einzige Art und Weise war, ihre Macht aufrechtzuerhalten. Da sie also nur dann bestehen bleiben können, wenn Christus niedergeschlagen ist, so mühen sie sich in dieser Sache nicht anders, als wenn sie für Haus und Herd und für ihr eigenes Leben kämpften! Wie nun, soll etwa da, wo wir nichts sehen als furchtbare Abtrünnigkeit, für uns der „apostolische Stuhl“ sein? Soll das der „Statthalter Christi“ sein, der in verbissenen Anlaufen das Evangelium verfolgt und dadurch offen zutage treten läßt, daß er der Antichrist ist? Soll das der „Nachfolger des Petrus“ sein, der mit Feuer und Schwert wütet, um alles niederzureißen, was Petrus aufgebaut hat? Soll der „das Haupt der Kirche sein, der die Kirche von Christus, ihrem einigen Haupte, wegreißt und abschneidet und sie dann in sich selbst zerstückelt und auseinanderreißt? Mag Rom wohl vorzeiten die Mutter aller Kirchen gewesen sein, so hat es jedenfalls, seitdem es begonnen hat, der Sitz des Antichrists zu werden, aufgehört, das zu sein, was es war.
IV,7,25
Einige haben den Eindruck, wir trieben gar zu große Lästerung und gar zu tollen Mutwillen, wenn wir den Papst zu Rom als Antichrist bezeichnen. Aber die das meinen, die merken nicht, daß sie damit Paulus der Maßlosigkeit beschuldigen, dem wir uns mit solcher Redeweise anschließen, ja, dessen eigene Worte wir nachsprechen. Damit uns nun niemand den Einwurf macht, als bezögen wir die Worte des Paulus, die an sich einen anderen Sinn hätten, in fälschlicher Verdrehung auf den Bischof von Rom, so will ich kurz zeigen, daß man diese Worte nicht anders verstehen kann, als daß sie das Papsttum betreffen. Paulus schreibt, der Antichrist werde im Tempel Gottes seinen Sitz nehmen (2. Thess. 2,4). Auch an anderer Stelle zeichnet uns der Heilige Geist ein Bild des Antichrists, und zwar in der Person des Antiochus, und da zeigt er, daß seine Herrschaft in Großsprecherei und Gotteslästerungen bestehen werden (Dan. 7,25). Daraus ziehen wir die Folgerung, daß dies Reich des Antichrists eine Tyrannei ist, die sich mehr gegen die Seelen als gegen die Leiber richtet, eine Tyrannei, die sich wider Christi geistliches Reich erhebt. Ferner ergibt sich, daß dies Reich von der Art ist, daß es weder Christi noch der Kirche Namen abschafft, sondern vielmehr Christus als Vorwand mißbraucht und sich unter dem Namen „Kirche“ wie hinter einer Maske versteckt. Freilich gehören alle Ketzereien und Sekten, die seit Anbeginn bestanden haben, zum Reiche des Antichrists. Wenn jedoch Paulus vorhersagt, es werde ein Abfall kommen (2. Thess. 2,3), so gibt er mit dieser Beschreibung zu erkennen, daß jener Sitz der Abscheulichkeit dann aufgerichtet werden wird, wenn gewissermaßen ein allgemeiner Abfall die Kirche ergriffen hat, mögen auch hin und her viele Glieder der Kirche in der wahren Einheit des Glaubens verharren. Wenn Paulus aber dann zusetzt, schon zu seiner Zeit beginne der Antichrist insgeheim das Werk der Bosheit zu wirken, das er dann hernach öffentlich ausrichten werde (2. Thess. 2,7), so erfahren wir daraus, daß diese Not weder durch einen einzigen Menschen aufgebracht werden noch auch in einem einzigen Menschen zu Ende kommen sollte. Wenn er dann weiter den Antichrist mit dem Merkmal bezeichnet, daß er Gott seine Ehre wegreißen und sie sich selber anmaßen werde (2. Thess. 2,4), so ist dies das wichtigste Zeichen, dem wir folgen müssen, wenn wir den Antichrist suchen wollen, vor allem, wo solcher Hochmut bis zur öffentlichen Zerstreuung der Kirche fortschreitet. Nun steht es aber fest, daß der Papst zu Rom das, was Gott allein und Christus in höchstem Maße, eigen war, unverschämt auf sich übertragen hat, und deshalb ist nicht daran zu zweifeln, daß er der Oberste und Anführer dieses gottlosen und abscheulichen Reiches ist.
IV,7,26
Nun mögen die Römischen hingehen und uns die alte Zeit entgegenhalten. Als ob angesichts einer solchen Verkehrung aller Dinge die Ehre eines (bischöflichen) Stuhls bestehen bleiben könnte, wo gar kein Bischofsstuhl ist! Eusebius berichtet,
Gott habe, damit seiner Rache Raum geschafft würde, die Kirche, die zu Jerusalem war, nach Pella überführt (Kirchengeschichte III,5,3). Was nach dem, das wir hier vernehmen, einmal geschehen ist, das könnte auch öfters eintreten. Deshalb aber ist es doch gar zu lächerlich und ungereimt, wenn man die Ehre der Obergewalt derartig an einen Ort bindet, daß einer, der in Wirklichkeit der verbissenste Feind Christi, der vornehmste Widersacher des Evangeliums, der größte Verwüster und Zerstörer der Kirche und der grausamste Schlächter und Henker aller Heiligen ist, trotzdem als „Statthalter Christi“, als „Nachfolger des Petrus“ und als „erster Vorsteher der Kirche“ angesehen wird, und zwar einzig darum, weil er einen Sitz innehat, der vorzeiten einmal der erste von allen war! Ich schweige noch davon, was für ein großer Unterschied zwischen der Kanzlei des Papstes und einer recht eingerichteten Ordnung der Kirche besteht. Und das tue ich, obwohl diese eine Tatsache jeden Zweifel über diese Frage ausgezeichnet zu beheben vermag. Denn kein Mensch, der bei gesundem Verstand ist, wird das Bischofsamt in Blei und Bullen einschließen, noch viel weniger aber in solch eine Meisterschaft in allen Betrügereien und Übervorteilungen - denn das sind die Dinge, an denen man das „geistliche Regiment“ des Papstes erkennen kann. Sehr trefflich ist es daher, wenn einmal einer sagte, jene römische Kirche, deren man sich rühme, sei bereits seit längerer Zeit in einen Hof verwandelt worden, und diesen allein bekäme man jetzt in Rom zu sehen. Ich klage nun hier nicht die Gebrechen von Menschen an, sondern ich weise nach, daß das Papsttum selbst dem kirchlichen Wesen schlechterdings zuwider ist.
27
Wollen wir nun aber auf die Menschen zu sprechen kommen, so weiß man ja genugsam, was für „Statthalter Christi“ wir da finden werden: da werden nämlich Julius (II.) und Leo (X.) und Clemens (VII.) und Paul (III.) die „Pfeiler des christlichen Glaubens“ und die „obersten Lehrer der Religion“ sein - Leute, die von Christus nichts anderes wissen, als was sie in der Schule des (Spötters) Lucian gelernt haben! Aber wozu zähle ich hier drei oder vier Päpste auf? Als ob es zweifelhaft wäre, was für eine Art Religion die Päpste samt dem ganzen Kardinalskollegium bereits seit langem bekannt haben und auch heutzutage bekennen! Denn das erste Hauptstück der verborgenen Theologie, die unter ihnen das Regiment führt, ist dies: Es gibt keinen Gott. Und das zweite heißt: Alles, was von Christus geschrieben steht und gelehrt wird, das ist Lüge und Betrug. Und das dritte: Die Lehre vom künftigen Leben und von der letzten Auferstehung - das sind lauter Fabeln! Nicht alle denken so, und nur wenige sprechen sich so aus, das gebe ich zu. Aber trotzdem hat das schon lange angefangen, die gewöhnliche Religion der Päpste zu sein, und obwohl es allen, die Rom kennengelernt haben, völlig bekannt ist, so hören doch die römischen Theologen nicht auf zu rühmen, durch ein von Christus gegebenes Vorrecht sei Vorsorge dagegen getroffen, daß der Papst irren könne - denn zu Petrus sei gesagt: „Ich ... habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre“ (Luk. 22,32). Ich möchte doch wissen: was werden sie mit diesem schamlosen Gespött anders erreichen, als daß die ganze Welt einsieht, wie sie dermaßen den höchsten Gipfel der Ruchlosigkeit erreicht haben, daß sie weder Gott fürchten noch sich vor den Menschen scheuen?
IV,7,28
Aber nehmen wir an, die Gottlosigkeit der genannten Päpste bliebe verborgen, weil sie sie weder in Predigten noch in Schriften an die Öffentlichkeit gebracht, sondern bloß bei Tisch, in der Kammer oder wenigstens zwischen ihren Wänden von sich gegeben haben. Wenn sie jedoch wollen, daß jenes Vorrecht, das sie vorwenden, seine Geltung hat, so müssen sie (auf jeden Fall) Johann XXII. aus der Zahl der Päpste ausstreichen, der offen behauptet hat, die Seelen seien sterblich und gingen mit den Leibern zusammen bis zum Tage der Auferstehung zugrunde. Damit man nun aber sieht, daß damals der ganze (päpstliche) Stuhl mitsamt seinen vornehmsten Stützen ganz und gar zusammengefallen ist, (so sei auf folgende Tatsache
hingewiesen): von den Kardinälen hat sich keiner solch einem großen Wahnwitz widersetzt, sondern die Schule von Paris hat den König von Frankreich dazu gebracht, daß er den Mann zum Widerruf zwang! Der König hat die (kirchliche) Gemeinschaft mit ihm untersagt, wofern er nicht baldigst Buße täte; und das hat er auch nach gewohnter Sitte durch einen Herold bekanntmachen lassen. Unter diesem Zwang hat der Papst dann seinen Irrtum abgeschworen. Dafür ist Johannes Gerson Zeuge, der damals lebte. Dieses Beispiel hat die Wirkung, daß ich mit unseren Widersachern nicht mehr weiter über ihre Aussage streiten muß, der römische Stuhl und seine Päpste könnten im Glauben nicht fallen, weil zu Petrus gesagt worden sei: „Ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre ...” (Luk. 22,32). Sicherlich ist jener Johann XXII. in einer so scheußlichen Art von Abfall vom rechten Glauben abgeirrt, um den Nachfahren einen ausgezeichneten Beweis dafür zu bieten, daß nicht alle, die dem Petrus im Bischofsamt nachfolgen, auch Petrusse sind! Allerdings ist jene Behauptung auch an sich zu kindisch, als daß sie einer Antwort bedürfte. Denn wenn sie alles, was zu Petrus gesagt worden ist, auf seine Nachfolger beziehen wollen, so ergibt sich auch, daß alle Päpste Satane sind - denn der Herr hat zu Petrus doch auch gesagt: „Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich“ (Matth. 16,23). Es wird nämlich für uns ebenso leicht sein, das letztere gegen sie zu kehren, wie es für sie sein mag, uns das erste vorzuhalten!
IV,7,29
Aber ich habe keine Lust, meinen Streit mit Albernheiten zu führen - ich will also zu dem zurückkommen, von dem ich abgeschweift war. Wenn man Christus, den Heiligen Geist und die Kirche dergestalt an einen Ort bindet, daß nun jeder, der da die Leitung hat, selbst wenn er der Teufel ist, trotzdem als Christi Statthalter und als Haupt der Kirche gilt, weil dort einst der Sitz des Petrus war, so behaupte ich, ist das nicht nur gottlos und eine Schmähung Christi, sondern auch gar zu widersinnig und dem gesunden Menschenverstand zuwider. Schon seit langer Zeit sind die römischen Päpste entweder gänzlich ohne Religion oder aber gar die ärgsten Feinde der Religion. Sie werden also um des Stuhles willen, den sie einnehmen, ebensowenig zu „Christi Statthaltern“, wie etwa ein Abgott, wenn er in Gottes Tempel aufgestellt wird, für Gott zu halten ist (2. Thess. 2,4). Will man aber über ihren Lebenswandel urteilen, so mögen die Päpste selber für sich die Antwort geben, was das denn überhaupt sein soll, an dem sie als Bischöfe erkannt werden könnten. Zunächst: daß man zu Rom so lebt, wie man es tut, und daß sie dabei nicht allein durch die Finger sehen und schweigen, sondern es gleichsam mit stummer Zustimmung billigen, das ist eines Bischofs ganz und gar unwürdig; denn ein Bischof hat doch die Pflicht, die Ausgelassenheit des Volkes durch die Strenge der Zucht in Schranken zu halten. Aber ich will nicht so rücksichtslos gegen sie sein, daß ich sie mit fremden Missetaten belaste. Daß sie aber selbst samt ihrer Hausgenossenschaft, samt beinahe dem ganzen Kardinalskollegium, samt dem ganzen Haufen ihres Klerus aller Schlechtigkeit, Unsittlichkeit und Unreinheit, jeder Art von Lastern und Schandtaten dermaßen ergeben sind, daß sie eher Ungeheuern gleichen als Menschen - darin legen sie nun sicherlich an den Tag, daß sie nichts weniger sind als Bischöfe. Sie brauchen trotzdem nun nicht zu fürchten, daß ich ihre Schande weiterhin aufdeckte. Denn es verdrießt mich, mit solchem stinkenden Schlamm umzugehen, zudem muß ich auf schamhafte Ohren Rücksicht nehmen - und dann habe ich auch den Eindruck, als ob ich das, was ich zeigen wollte, bereits mehr als zur Genüge dargetan hätte. Das war nämlich dies: selbst wenn Rom einst das Haupt der Kirchen gewesen sein mag, so ist es doch heute nicht wert, zu ihren kleinsten Zehen gerechnet zu werden.
IV,7,30
Was nun die von ihnen so genannten Kardinäle anbetrifft, so weiß ich nichts was eigentlich geschehen ist, daß sie so plötzlich zu solcher Bedeutung emporgestiegen sind. Zu Gregors Zeiten kam dieser Titel allein den Bischöfen zu. Denn jedesmal,
wenn er Kardinäle erwähnt, so schreibt er sie nicht der Kirche zu Rom, sondern irgendwelchen anderen zu, so daß also kurzum ein „Kardinalpriester” nichts anderes ist als ein Bischof (Brief I,15; I,77; I,79; II,12; II,37; III,13). Bei den Schriftstellern der früheren Zeit finde ich den Titel nicht. Ich sehe aber, daß die Kardinäle damals den Bischöfen nachgeordnet waren, während sie ihnen heute wesentlich übergeordnet sind. Bekannt ist ein Wort des Augustin: „Obgleich nach dem in der Kirche gebräuchlich gewordenen Ehrennamen das Bischofsamt höher steht als das des Presbyters, so ist doch (der Bischof) Augustin in vielen Dingen geringer als (der Presbyter) Hieronymus“ (Brief 82). Hier macht er unzweifelhaft zwischen einem Presbyter der Kirche zu Rom und anderen Presbytern keinen Unterschied, sondern er ordnet sie alle gleichermaßen den Bischöfen nach. Das wurde so weitgehend beobachtet, daß auf dem Konzil zu Karthago, als zwei Abgesandte des römischen Stuhls zugegen waren, der eine ein Bischof, der andere ein Presbyter, der letztere an den untersten Platz zurückgedrängt wurde. Aber um nicht gar zu alte Dinge durchzugehen: es gibt ein Konzil, das zu Rom unter Gregor gehalten wurde; da haben nun die Presbyter ihren Sitz auf dem untersten Platz, und sie unterschreiben auch für sich, die Diakonen aber haben bei der Unterschrift gar keinen Platz (Gregor, Brief V,57a). Und ohne Zweifel hatten sie (die heutigen Kardinäle) damals keine andere Amtspflicht, als dem Bischof bei der Verwaltung der Lehre und der Sakramente zur Seite - und nach zustehen. Heutzutage aber hat sich ihr Los derart gewendet, daß sie zu Verwandten von Königen und Kaisern geworden sind. Es ist auch außer Zweifel, daß sie zusammen mit ihrem Oberhaupt allmählich gewachsen sind, bis sie zu dem heutigen Gipfel der Würde emporstiegen.
Ich habe aber auch dies mit wenigen Worten, gleichsam im Vorübergehen, berühren wollen, damit der Leser besser sieht, daß sich der römische Stuhl, wie er heute beschaffen ist, sehr wesentlich von jenem alten unterscheidet, den er stets als Vorwand benutzt, um sich zu schützen und zu verteidigen. Aber die Kardinäle mögen früher gewesen sein, wie sie wollen, so haben sie doch in der Kirche keinerlei wahres und rechtmäßiges Amt und deshalb bloß einen Schein und eine eitle Maske inne. Ja, weil alles, was sie haben, dem kirchlichen Amte gänzlich zuwider ist, so ist ihnen notwendig zugestoßen, was Gregor so oft schreibt: „Weinend sage ich es und seufzend tue ich es kund: da der priesterstand innerlich zerfallen ist, so wird er auch äußerlich keinen Bestand haben können“ (Brief V,58; V,62; VI,7; V,63). Ja, es mußte sich vielmehr an ihnen erfüllen, was Maleachi von solchen Leuten sagt: „Ihr seid von dem Wege abgetreten und ärgert viele im Gesetz und habt den Bund Levis gebrochen, spricht der Herr. Darum habe ich auch euch gemacht, daß ihr verachtet und unwert seid vor dem ganzen Volk ...” (Mal. 2,8f.). Nun überlasse ich es allen Frommen, darüber nachzudenken, von welcher Art der höchste Gipfel der römischen Hierarchie ist, dem die Papisten in gottloser Unverschämtheit ungescheut selbst das Wort Gottes unterwerfen, das doch für Himmel und Erde, für Engel und Menschen hätte verehrungswürdig und heilig sein sollen.
Achtes Kapitel
Von der Macht der Kirche im Bezug auf die Glaubenssätze, und mit was für einer zügellosen Willkür diese im Papsttum zur Verfälschung aller Reinheit der Lehre benutzt worden ist
IV,8,1
Nun folgt das dritte Hauptstück: von der Vollmacht der Kirche. Diese tritt teils bei den einzelnen Bischöfen in Erscheinung, teils bei den Konzilien, und zwar sowohl bei den Provinzialkonzilien als auch bei den allgemeinen. Dabei rede ich ausschließlich von der geistlichen Vollmacht, die der Kirche eigen ist. Diese besteht nun in der Lehre, in der Rechtsprechung oder in der Gesetzgebung. Das Lehrstück von der Lehre hat zwei Teile: es handelt von der Autorität, Glaubenssätze aufzustellen, und von der Auslegung der Glaubenssätze.
Bevor wir nun anfangen, die einzelnen Stücke besonders zu erörtern, möchten wir den frommen Leser auffordern, daß er daran denke, alles, was über die Vollmacht der Kirche gelehrt wird, auf das Ziel zu beziehen, zu dem diese nach dem Zeugnis des Paulus gegeben ist; dies Ziel aber ist Erbauung und nicht Niederreißung (2. Kor. 10,8; 13,10), und die, welche diese Vollmacht rechtmäßig ausüben, sind nicht der Meinung, daß sie mehr seien als Diener Christi und zugleich Diener des Volkes (d.h. der Gemeinde) in Christus. Die Erbauung der Kirche geschieht nun aber nur auf eine einzige Art und Weise, nämlich dann, wenn die Diener selbst sich befleißigen, Christus die ihm gebührende Autorität zu erhalten; diese aber kann nur dann unverkürzt bleiben, wenn ihm gelassen wird, was er vom Vater empfangen hat, nämlich daß er der einzige Lehrmeister seiner Kirche ist. Denn nicht von irgendwem anders, sondern von ihm allein steht geschrieben: „Den sollt ihr hören“ (Matth. 17,5).
So soll also die kirchliche Vollmacht wohl ohne Kleinlichkeit ihre Zier bekommen, aber doch in bestimmte Grenzen eingeschlossen werden, damit sie nicht nach der Willkür der Menschen hierhin und dorthin gezerrt werde. Hierzu wird es in höchstem Maße dienlich sein, wenn wir unser Augenmerk darauf richten, in welcher Weise sie von den Propheten und Aposteln beschrieben wird. Denn wenn wir es den Menschen einfach überlassen, die Macht an sich zu nehmen, die ihnen gefällt, dann sieht jeder sofort ein, wie leicht es ist, in eine Tyrannei zu verfallen, die von der Kirche Christi weit entfernt bleiben muß.
IV,8,2
Deshalb müssen wir hier bedenken, daß alles, was der Heilige Geist in der Schrift den Priestern oder auch den Propheten oder den Aposteln oder den Nachfolgern der Apostel an Autorität und Würde überträgt, voll und ganz nicht eigentlich den Menschen selbst beigelegt wird, sondern dem Amte, dem sie vorstehen, oder, um deutlicher zu reden, dem Worte, dessen Dienst ihnen anvertraut ist. Wenn wir sie nämlich alle der Reihe nach durchgehen, so werden wir nicht finden, daß sie mit irgendeiner Autorität ausgestattet waren, zu lehren oder einen Spruch zu tun, als allein im Namen des Herrn und auf Grund seines Wortes. Denn wenn sie zu ihrem Amt berufen werden, so wird ihnen jedesmal zugleich die Verpflichtung auferlegt, nichts aus sich selbst heraus vorzubringen, sondern aus dem Mund des Herrn heraus zu reden. Auch läßt er sie nicht eher in der Öffentlichkeit auftreten, um vom Volke gehört zu werden, als bis er ihnen aufgetragen hat, was sie reden sollen - damit sie nichts reden außer seinem Wort.
Mose war doch der Oberste aller Propheten, und ihn mußte man vor anderen hören; aber auch er wurde zuvor mit bestimmten Aufträgen versehen, damit er durchaus nichts verkündigen konnte als das, was von dem Herrn kam (Ex. 3,4ff.). Als daher das Volk seine Lehre angenommen hatte, da hieß es von ihm, es habe an Gott und an seinen Knecht Mose geglaubt (Ex. 14,31).
Auch die Autorität der Priester wurde mit schwersten Strafandrohungen gesichert, damit sie nicht in Verachtung geriet (Deut. 17, 9-13). Zugleich aber gibt der Herr zu erkennen, unter welcher Bedingung sie gehört werden sollten, indem er nämlich sagt, er habe mit Levi seinen Bund gemacht, damit „das Gesetz der Wahrheit ... in seinem Munde“ sei (Mal. 2,4.6). Und kurz nachher fügt er noch zu: „Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche; denn er ist ein Bote des Herrn der Heerscharen“ (Mal. 2,7; nicht ganz Luthertext). Will also der Priester gehört werden, so muß er sich als ein Bote Gottes erweisen, das heißt: er muß die Weisungen, die er von seinem Auftraggeber empfangen hat, getreulich weitergeben. Und wo davon die Rede ist, daß die Priester gehört werden sollen, da wird ausdrücklich festgesetzt, daß sie ihren Spruch „nach dem Gesetz“ Gottes tun sollen (Deut. ,7,10.11).
IV,8,3
Wie es um die Vollmacht der Propheten allgemein bestellt war, das wird bei Ezechiel trefflich beschrieben: „Du Menschenkind, spricht der Herr, ich habe dich zum Wächter gesetzt über das Haus Israel, du sollst also aus meinem Munde das Wort hören und ihnen von mir aus Botschaft geben“ (Ez. 3,17; nicht durchweg Luthertext). Wenn er da die Weisung erhält, (das Wort) „aus dem Munde des Herrn“ zu hören - wird ihm damit nicht untersagt, aus sich selbst heraus etwas zu ersinnen? Und wenn es dann heißt, er solle „von dem Herrn aus Botschaft geben“ - was bedeutet das anders, als so zu reden, daß er zuversichtlich zu rühmen wagt, daß es nicht sein, sondern des Herrn Wort ist, was er vorbringt? Das nämliche steht mit anderen Worten bei Jeremia: „Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort, das da wahr ist“ (Jer. 23,28; Schluß nicht Luthertext). Damit gibt er unzweifelhaft allen Propheten ein Gesetz. Und dies Gesetz ist von der Art, daß er es nicht duldet, daß einer mehr lehrt, als ihm befohlen ist. Und alles, was nicht von ihm allein ausgegangen ist, das nennt er nachher „Stroh“ (Jer. 23,28b). Deshalb hat auch von den Propheten keiner den Mund aufgetan, wofern nicht der Herr die Worte vorsagte. Deshalb begegnen uns bei ihnen so oft solche Wendungen wie „das Wort des Herrn“, „die Last des Herrn“, „So spricht der Herr“ oder „Der Mund des Herrn hat’s geredet“. Und das mit Recht: denn Jesaja rief doch aus, er habe befleckte Lippen (Jes. 6,5), und Jeremia bekannte, er vermöge nicht zu reden, weil er noch ein Knabe sei (Jer. 1,6). Was hätte aus des einen beflecktem, des anderen einfältigem Munde anders hervorgehen können als Unreines und Törichtes, wenn sie ihr eigenes Wort geredet hätten? Heilige und reine Lippen aber hatten sie, als diese anfingen, die Werkzeuge des Heiligen Geistes zu sein. Sobald die Propheten an die heilige Verpflichtung gebunden sind, nichts von sich zu geben, als was sie empfangen haben, da werden sie mit herrlicher Vollmacht und mit glänzenden Titeln ausgezeichnet. Denn wenn der Herr bezeugt, daß er sie „über Völker und Königreiche“ gesetzt hat, damit sie „ausreißen, zerbrechen, zerstören und verderben ... und bauen und pflanzen“ (Jer. 1,10), so fügt er gleich auch die Ursache bei: all dies geschieht, weil er „seine Worte in ihren Mund gelegt“ hat (Jer. 1,9).
IV,8,4
Und wenn man nun seinen Blick auf die Apostel richtet, so werden diese allerdings mit vielen und herrlichen Bezeichnungen gepriesen: es heißt von ihnen, daß sie „das Licht der Welt“ und „das Salz der Erde“ sind (Matth. 5,13,14), daß man sie an Christi Statt hören soll (Luk. 10,16), daß alles, was sie auf Erden gebunden oder gelöst haben, auch im Himmel gebunden und gelöst sein soll (Joh. 20,23; Matth. 18,18). Aber (schon) durch ihren Namen (Apostel, Abgesandte) legen sie an den Tag, wieviel ihnen in ihrem Amte zugestanden ist: nämlich wenn sie „Apostel“ sind, so sollen sie eben nicht schwatzen, was ihnen gefällt, sondern vielmehr getreulich die Aufträge dessen vorbringen, von dem sie „gesandt“ sind! Deutlich genug sind
auch Christi Worte, mit denen er ihre Sendung umgrenzt hat: er trug ihnen doch auf, sie sollten hingehen und alle Völker lehren, was er ihnen geboten hatte (Matth. 28,19f.). Ja, damit es niemand verstattet sei, sich diesem Gesetz zu entziehen, so hat er es selbst auf sich genommen und sich selbst auferlegt. „Meine Lehre“, spricht er, „ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat, des Vaters“ (Joh. 7,16; Schluß ist Zusatz). Er ist doch allezeit der einige, wahre Ratgeber des Vaters gewesen, und der Vater hat ihn als Herrn und Meister über alle eingesetzt - trotzdem gibt er, weil er das Amt der Lehrunterweisung ausübt, durch sein eigenes Beispiel allen Dienern die Weisung, welcher Regel sie bei ihrem Lehren folgen sollen. Die Vollmacht der Kirche ist also nicht unbegrenzt, sondern sie ist dem Worte des Herrn unterworfen und gleichsam darin eingeschlossen.
IV,8,5
Obgleich nun aber in der Kirche seit Anbeginn der Grundsatz in Geltung war und es auch heute noch sein muß, daß die Knechte Gottes nichts lehren sollen, was sie nicht von ihm selbst gelernt hätten, so haben sie doch solch Lernen je nach der Verschiedenheit der Zeiten auf verschiedene Art und Weise geübt. Die Art aber, wie es heute geschieht, unterscheidet sich sehr wesentlich von derjenigen früherer Zeiten.
Zunächst gilt doch das Wort Christi, daß niemand den Vater gesehen hat außer dem Sohne und dem, dem es der Sohn hat offenbaren wollen (Matth. 11,27). Ist das aber wahr, so haben alle, die zur Erkenntnis Gottes gelangen wollten, unzweifelhaft allezeit von jener ewigen Weisheit geleitet werden müssen. Denn wie hätten sie anders die Geheimnisse Gottes innerlich erfassen oder aussprechen sollen, als unter der Unterweisung dessen, dem allein die Verborgenheiten des Vaters offenstehen? So haben also die heiligen Menschen von jeher Gott nicht anders erkannt, als indem sie ihn im Sohne wie in einem Spiegel anschauten. Wenn ich das sage, so verstehe ich es so: Gott hat sich den Menschen niemals anders offenbart als durch den Sohn, das heißt durch seine einige Weisheit, sein einiges Licht und seine einige Wahrheit. Aus diesem Brunnquell haben Adam, Noah, Abraham, Isaak, Jakob und andere alles geschöpft, was sie an himmlischer Lehre besaßen. Aus derselben Quelle haben auch alle Propheten entnommen, was sie an himmlischen Offenbarungsworten von sich gegeben haben.
Jedoch hat sich diese Weisheit nicht allezeit auf eine und dieselbe Weise offenbart.
Bei den Erzvätern hat sie geheime Offenbarungen benutzt, zugleich aber zu deren Bestätigung Zeichen von solcher Art angewandt, daß es für jene Männer durchaus keinem Zweifel mehr unterliegen konnte, daß es Gott war, der da redete. Was die Erzväter empfangen hatten, das haben sie dann von Hand zu Hand an ihre Nachkommen überliefert; denn Gott hatte es ihnen mit der Bestimmung anvertraut, daß sie es in dieser Weise fortpflanzten. Die Söhne aber und Enkel wußten durch Gottes innerliche Eingebung (Deo intus dictante), daß das, was sie vernahmen, vom Himmel und nicht von der Erde stammte.
IV,8,6
Als es aber Gott gefiel, eine deutlicher sichtbare Gestalt der Kirche aufzurichten, da hatte er den Willen, daß sein Wort schriftlich niedergelegt und versiegelt wurde, damit die Priester daraus entnähmen, was sie dem Volke vorbringen sollten, und damit jegliche Lehre, die vorgetragen werden sollte, nach dieser Richtschnur geprüft würde. Wenn den Priestern also nach der öffentlichen Kundmachung des Gesetzes die Weisung erteilt wird, sie sollten „aus dem Munde“ des Herrn lehren (Mal. 2,7), so ist der Sinn folgender: sie sollen nichts lehren, was außerhalb der Art der Unterweisung liegt, die Gott im Gesetz beschlossen hat, oder was dieser fremd ist. Vollends war es ihnen nicht erlaubt, etwas hinzuzufügen oder davonzutun (Deut. 4,2; 13,1).
Dann folgten die Propheten. Durch sie hat Gott zwar neue Offenbarungsworte kundgemacht, die zum Gesetz hinzugetan werden sollten; aber diese waren doch nicht so neu, daß sie etwa nicht aus dem Gesetz herrührten und darauf gerichtet wären. Bezüglich der Lehre waren die Propheten nämlich bloß Ausleger des Gesetzes, und sie haben ihm nichts zugefügt als Weissagungen über zukünftige Dinge. Mit Ausnahme dieser Weissagungen haben sie nichts vorgebracht als die reine Auslegung des Gesetzes. Es war aber des Herrn Wohlgefallen, daß die Lehre deutlicher und weitläufiger ans Licht trat, damit den schwachen Gewissen um so besser Genüge geschähe, und deshalb gebot er, daß auch die Prophetien schriftlich niedergelegt wurden und als Teil seines Wortes galten.
Dazu sind dann zugleich auch die Geschichtsbücher gekommen, die ebenfalls Arbeiten von Propheten sind, aber unter der Eingebung des Heiligen Geistes zusammengestellt.
Die Psalmen rechne ich zu den Propheten, weil ja das, was wir diesen zuschreiben, auch ihnen gemein ist.
Dieses ganze Schriftengefüge, das aus dem Gesetz, den Prophetenbüchern, den Psalmen und den Geschichtsbüchern gebildet war, war also für das Volk des Alten Bundes das Wort Gottes, nach dessen Regel die Priester und Lehrer bis zum Kommen Christi ihre Unterweisung ausrichten sollten, und es war ihnen nicht erlaubt, davon abzuweichen, „weder zur Rechten noch zur Linken“ (Deut. 5,29); denn ihr ganzes Amt war von der Begrenzung umschlossen, daß sie aus Gottes Mund zum Volke sprechen sollten. Das geht aus der wichtigen Stelle bei Maleachi hervor, an der er ihnen die Weisung gibt, des Gesetzes zu gedenken und darauf achtzuhaben - bis zur Verkündigung des Evangeliums (Mal. 3,22 = 4,4)! Denn auf diese Weise hält er sie von allen fremden Lehren ab und erlaubt ihnen nicht, das geringste Stücklein von dem Wege abzuweichen, den ihnen Mose getreulich gewiesen hatte. Und das ist auch der Grund, weshalb David die Herrlichkeit des Gesetzes so prachtvoll verkündigt und so viele Lobpreise desselben aufführt: die Juden sollten eben nichts außerhalb des Gesetzes begehren, weil ja alle Vollkommenheit in ihm beschlossen lag!
IV,8,7
Als aber endlich Gottes Weisheit im Fleische geoffenbart wurde, da hat sie uns alles, was mit dem menschlichen Verstande über den himmlischen Vater begriffen werden kann und gedacht werden soll, mit offenem Munde dargelegt. Daher haben wir jetzt, seitdem Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, leuchtend aufgegangen ist, den vollen Glanz der göttlichen Wahrheit, so wie die Klarheit am Mittag zu sein pflegt, wenn auch das Licht zuvor einigermaßen verdüstert war. Denn der Apostel wollte wahrhaftig nichts Gewöhnliches verkündigen, als er schrieb: „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und mancherleiweise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns zu reden begonnen durch seinen geliebten Sohn ...” (Hebr. 1,1f.; Schluß ungenau). Er gibt hier nämlich zu verstehen, ja, er erklärt offen, daß Gott fortan nicht mehr, wie zuvor, bald durch den einen, bald wieder durch den anderen reden, auch nicht mehr eine Prophetie an die andere, eine Offenbarung an die andere fügen wird, sondern vielmehr im Sohne jedwede Unterweisung dergestalt vollendet hat, daß dies für das letzte und ewige Zeugnis von ihm zu gelten hat. Aus diesem Grunde wird die ganze Zeit des Neuen Bundes, von da an, da uns Christus mit der Predigt seines Evangeliums erschienen ist, bis zum Tage des Gerichtes, mit solchen Ausdrücken bezeichnet wie „die letzte Stunde“ (1. Joh. 2,18), „die letzten Zeiten“ (1. Tim. 4,1; 1. Petr. 1,20) oder „die letzten Tage“ (Apg. 2,17; 2. Tim. 3,1; 2. Petr. 3,3). Das geschieht, damit wir uns mit der Vollkommenheit der Lehre Christi zufriedengeben und es lernen, uns darüber hinaus keine neue zu ersinnen und auch keine neue anzunehmen, die sich etwa andere erdacht haben.
Deshalb hat uns der Vater nicht ohne Ursache den Sohn mit einem einzigartigen Vorrecht als Lehrer verordnet, indem er gebietet, daß er, nicht irgendeiner von den Menschen, gehört werden soll. Es sind zwar bloß wenige Worte, mit denen er uns die Lehrmeisterschaft des Sohnes ans Herz gelegt hat, indem er spricht: „Den sollt ihr hören“ (Matth. 17,5). Aber in diesen wenigen Worten liegt mehr Gewicht und Kraft, als man gemeiniglich glaubt; es ist nämlich so, als wenn er uns von allen Lehren der Menschen wegführte, uns allein vor diesen Einen stellte und uns geböte, von ihm allein alle Lehre des Heils zu begehren, an ihm allein zu hängen, in ihm allein zu bleiben, kurzum - wie die Worte lauten - auf seine Stimme allein zu horchen! Und wahrlich, was sollte man noch von einem Menschen erwarten und begehren, wo sich uns doch das Wort des Lebens selber vertraut und gegenwärtig kundgegeben hat? Ja, aller Menschen Mund muß füglich geschlossen sein, nachdem einmal der geredet hat, in dem nach dem Willen des himmlischen Vaters „verborgen liegen“ sollen „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3), und zwar dergestalt geredet hat, wie es der Weisheit Gottes geziemte, die in keinem Stück fehlgeht, und dem Messias, von dem man die Offenbarung aller Dinge erhoffte (Joh. 4,25), das heißt so, daß er anderen nach sich selbst nichts mehr zu sagen übrigließ.
IV,8,8
Daher soll es als unerschütterlicher Grundsatz gelten: für Gottes Wort, dem man in der Kirche Raum geben soll, darf nichts anderes gehalten werden, als was zunächst in Gesetz und Propheten und alsdann in den apostolischen Schriften verfaßt ist, und es gibt in der Kirche auch keine andere Art, rechtmäßig zu lehren, als nach der Vorschrift und Richtschnur dieses Wortes.
Daraus schließen wir auch, daß den Aposteln nichts anderes zugestanden war, als was vordem die Propheten besessen hatten: sie sollten nämlich die überkommene Schrift auslegen und nachweisen, daß das, was darin gelehrt wird, in Christus seine Erfüllung gefunden hat; jedoch sollten sie dies allein vom Herrn her tun, das heißt: indem Christi Geist ihnen Weisung gab und ihnen die Worte gewissermaßen in den Mund legte. Denn das war das Gesetz, mit dem Christus selbst ihre Sendung bestimmte, indem er ihnen gebot, sie sollten hingehen und lehren - nicht, was sie sich selber zufällig erdacht hatten, sondern was er ihnen aufgetragen hatte (Matth. 28,19f.). Es hätte auch nichts deutlicher gesprochen werden können, als was er an anderer Stelle sagt: „Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus“ (Matth. 23,8). Damit dies dann noch tiefer in ihren Herzen haftete, so wiederholte er es an derselben Stelle noch zweimal (Matth. 23,9f.). Und weil sie in ihrer Unkundigkeit das, was sie aus dem Munde des Meisters gehört und gelernt hatten, nicht zu fassen vermochten, so verhieß er ihnen den „Geist der Wahrheit“, von dem sie zum wahren Begreifen aller Dinge geleitet werden sollten (Joh. 14,26; 16,13). Denn man muß gründlich auf die Begrenzung achten, die darin liegt, daß Christus dem Heiligen Geiste die Aufgabe zuerteilte, den Jüngern einzugeben, was er sie zuvor mit seinem Munde gelehrt hatte.
IV,8,9
Deshalb läßt Petrus, der doch von seinem Meister sehr wohl darüber belehrt war, wie weit seine Vollmacht ging, sich selber wie auch anderen nichts weiter übrig, als daß sie die Lehre austeilten, die ihnen von Gott gegeben war. „So jemand redet“, sagt er, „daß er’s rede als Gottes Wort“ (1. Petr. 4,11) - das heißt: nicht unter Zweifeln, wie ja Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, zu zagen pflegen, sondern vielmehr mit hoher Zuversicht, wie sie einem Knechte Gottes geziemt, der mit festen Aufträgen versehen ist. Was heißt das aber anders, als alle Erfindungen des menschlichen Verstandes, aus welchem Haupte sie auch schließlich entsprungen sein mögen, fernzuhalten, damit Gottes reines Wort in der Kirche der Gläubigen gelehrt und gelernt werde? Was heißt es anders, als die Meinungen oder vielmehr die Erdich-
tungen aller Menschen, welchen Rang sie auch innehaben mögen, aus dem Wege zu räumen, damit Gottes Ratschlüsse allein in Geltung bleiben? Das sind jene geistlichen „Waffen“, die da „mächtig vor Gott“ sind, „zu zerstören Befestigungen“, jene Waffen, mit denen Gottes treue Knechte „zerstören ... die Anschläge und alle Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes“, und mit denen sie „gefangennehmen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi“ (2. Kor. 10,4f.). Sieh da, das ist jene gewaltige Macht, mit der die Hirten der Kirche, was für einen Namen sie auch tragen mögen, ausgerüstet sein müssen, damit sie nämlich auf Grund des Wortes Gottes zuversichtlich alles wagen, seiner Majestät alle Kraft und Herrlichkeit, alle Weisheit und Hoheit dieser Welt zu weichen und Gehorsam zu leisten zwingen, damit sie ferner, auf seine Macht gestützt, allen Menschen, vom höchsten bis zum geringsten gebieten, Christi Haus bauen und das des Satans umstürzen, die Schafe weiden und die Wölfe überwältigen, die Gelehrigen unterweisen und ermahnen, die Widerspenstigen und Halsstarrigen aber strafen, schelten und unterwerfen, und damit sie binden und lösen und schließlich auch Wetterstrahl und Donnerschlag ausgehen lassen, wenn es nötig ist, aber alles mit dem Worte Gottes!
Allerdings besteht, wie ich bereits sagte, zwischen den Aposteln und ihren Nachfolgern der Unterschied, daß jene sichere und beglaubigte Schreiber (amanuenses) des Heiligen Geistes waren und ihre Schriften deshalb als Offenbarungsworte Gottes zu gelten haben, diese dagegen keine andere Aufgabe haben als zu lehren, was in der Heiligen Schrift überliefert und versiegelt ist. Wir stellen also fest, daß es den treuen Dienern (der Kirche) nicht mehr freisteht, einen neuen Glaubenssatz zu schmieden, sondern daß sie einfach bei der Lehre bleiben müssen, der Gott alle ohne Ausnahme unterworfen hat.
Wenn ich das sage, so will ich nicht allein zeigen, was einzelnen Menschen, sondern auch, was der gesamten Kirche erlaubt ist.
Was die einzelnen Menschen betrifft, so war Paulus den Korinthern doch sicherlich vom Herrn als Apostel verordnet, und doch erklärt er, daß er über ihren Glauben nicht Herr sei (2. Kor. 1,24). Wer will es nun wagen, sich ein Herrenrecht anzumaßen, das dem Paulus nach seinem Zeugnis nicht zukam? Hätte Paulus jene willkürliche Freiheit im Lehren anerkannt, nach der ein Hirte (Pastor) von Rechts wegen verlangen könnte, daß ihm in allem, was er auch vorbrächte, fester Glaube beigemessen würde, so hätte er sicherlich den nämlichen Korinthern nicht die Ordnung gegeben, daß, wenn zwei oder drei Propheten redeten, die anderen (ihre Worte) beurteilen sollten, und daß, wenn einem, der dasäße, etwas offenbart wäre, der erste zu schweigen hätte (1. Kor. 14,29). Denn niemandem hat er solche Schonung gewährt, daß er seine Autorität etwa nicht dem Urteil des Wortes Gottes unterworfen hätte!
Ja, wird vielleicht jemand sagen, aber mit der gesamten Kirche ist es doch anders bestellt. Ich antworte, daß Paulus an anderer Stelle auch diesem Zweifel entgegentritt, indem er sagt, der Glaube komme aus dem Hören, das Hören aber aus dem Worte Gottes (Röm. 10,17). Wenn der Glaube nämlich allein am Worte Gottes hängt, wenn er allein nach ihm schaut und auf ihm ruht - was für ein Raum bleibt dann für das Wort der ganzen Welt? Hier kann auch niemand zweifeln, der recht erkannt hat, was Glaube ist; denn dieser muß sich doch auf einen so festen Grund stützen, daß er dadurch gegen den Satan und alle Listen der Hölle und gegen die ganze Welt unüberwindlich und unerschrocken standhält. Diesen festen Grund aber werden wir einzig und allein in Gottes Wort finden. Zudem besteht noch eine allgemeine Ursache, auf die man hier achten muß: wenn Gott dem Menschen die Fähigkeit nimmt, ein neues Dogma vorzubringen, so geschieht das dazu, daß er allein in der geistlichen Unterweisung unser Mei-
ster sei, wie ja er allein auch der Wahrhaftige ist (Röm. 3,4), der nicht lügen noch trügen kann. Diese Ursache hat ihre Geltung nicht weniger für die ganze Kirche als für jeden einzelnen unter den Gläubigen.
IV,8,10
Wenn man nun aber die jetzt beschriebene Vollmacht der Kirche mit derjenigen vergleicht, deren sich schon einige Jahrhunderte lang die geistlichen Tyrannen, die sich „Bischöfe“ und „Vorsteher in der Religion“ nannten, im Volke Gottes gerühmt haben, dann werden diese beiden keineswegs besser zueinander stimmen als Christus und Belial. Ich habe hier nicht die Absicht auseinanderzusetzen, wie und auf wie empörende Weise sie ihre Tyrannei ausgeübt haben; nein, ich will nur ihre Lehre wiedergeben, die sie zunächst in ihren Schriften, dann aber auch heutzutage mit Feuer und Schwert verteidigen.
Sie nehmen es zunächst als ausgemacht an, daß ein allgemeines Konzil die wahre Darstellung (d.h. Repräsentation) der Kirche sei. Nachdem sie diesen Grundsatz einmal angenommen haben, stellen sie dann gleichzeitig als über jeden Zweifel erhaben den Satz auf, dergleichen Konzilien würden unmittelbar durch den Heiligen Geist regiert und könnten deshalb nicht irren. Da sie nun aber selbst die Konzilien regieren, ja, sie (in ihre Gewalt) einsetzen, so machen sie auf das, was nach ihrer Behauptung den Konzilien zukommt, tatsächlich selber Anspruch. Sie wollen also, daß unser Glaube nach ihrem Gutdünken steht und fällt, so daß also alles, was sie nach der einen oder anderen Richtung festgesetzt haben, für unsere Herzen fest und endgültig beschlossen sein soll: wenn sie also etwas gutgeheißen haben, so soll das gleiche auch von uns ohne jegliches Bedenken gebilligt werden, und wenn sie etwas verdammt haben, so soll es auch für uns als verdammt gelten. Unterdessen schmieden sie nach ihrer Willkür und unter Verachtung des Wortes Gottes Glaubenssätze zusammen und erheben dann die Forderung, man solle diesen auf Grund der obigen Ursache Glauben beimessen. Denn es sei, so behaupten sie, nur der ein Christ, der alle ihre Glaubenssätze, die behauptenden wie die verneinenden, mit Gewißheit annähme, und zwar wenn nicht mit „entwickeltem“, so doch mit „unentwickeltem“ Glauben - denn es liege eben bei der Kirche, neue Glaubensartikel zu machen.
IV,8,11
Wir wollen nun zunächst hören, mit welchen Beweisgründen sie es bekräftigen, daß der Kirche eine solche Autorität gegeben sei; dann wollen wir zusehen, wieviel ihnen das, was sie bezüglich der Kirche anführen, helfen kann.
Die Kirche, so sagen sie, besitzt herrliche Verheißungen, daß sie von Christus, ihrem Bräutigam, niemals verlassen werden, sondern von seinem Geiste „in alle Wahrheit geleitet“ werden wird (vgl. Joh. 16,13).
Aber nun sind von den Verheißungen, die sie anzuführen pflegen, viele ebensowohl jedem einzelnen Gläubigen wie der gesamten Kirche gegeben. Denn wenn der Herr sprach: „Siehe, ich bin bei euch ... bis an der Welt Ende“ (Matth. 28,20), oder ebenso: „Ich will den Vater bitten, und er soll euch einen anderen Tröster geben ..., den Geist der Wahrheit“ (Joh. 14,16f.), so richtete er diese Worte zwar an die zwölf Apostel, aber er gab diese Verheißung nicht nur der Zwölfzahl, sondern auch jedem einzelnen von ihnen insonderheit, ja, in gleicher Weise auch anderen Jüngern, die er bereits angenommen hatte oder die später noch hinzukommen sollten. Wenn die Römischen also derartige Verheißungen, die so voll herrlichen Trostes sind, dergestalt auslegen, als ob sie keinem unter den Christenmenschen (für sich allein) gegeben wären, sondern der gesamten Kirche insgemein - was tun sie dann anders, als daß sie allen Christen die Zuversicht nehmen, die aus diesen Verheißungen zu ihrer Ermutigung hätte kommen sollen? Ich bestreite nun hier nicht,
daß die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die doch mit einer vielfachen Mannigfaltigkeit von Gaben ausgerüstet ist, einen viel reicheren und völligeren Schatz himmlischer Weisheit zum Geschenk erhalten hat als jeder einzelne für sich allein; auch bin ich nicht der Meinung, daß jene Zusage allen Gläubigen miteinander in dem Sinne gegeben sei, als ob sie alle gleichermaßen mit jenem Geist des Verstehens und der Unterweisung begabt wären; nein, ich sage das nur, weil man den Widersachern Christi nicht erlauben darf, daß sie die Schrift zur Verteidigung einer bösen Sache in einem ihr fremden Sinn verdrehen.
Aber ich lasse das beiseite und bekenne schlicht, wie es sich auch tatsächlich verhält, daß der Herr immerfort den Seinen gegenwärtig ist und sie mit seinem Geist regiert. Dieser ist nun, so bekenne ich weiter, nicht ein Geist des Irrtums, der Unwissenheit, der Lüge oder der Finsternis, sondern ein Geist gewisser Offenbarung, ein Geist der Weisheit, der Wahrheit und des Lichtes, von dem die Gläubigen ohne Trug lernen, was ihnen geschenkt ist (1. Kor. 2,12), das heißt: „welche da sei die Hoffnung ihrer Berufung, und welcher sei der Reichtum seines herrlichen Erbes bei seinen Heiligen“ (Eph. 1,18). Aber da die Gläubigen in diesem Fleische bloß die „Erstlinge“ und einen gewissen Geschmack dieses Geistes empfangen - auch die, welche vor anderen mit hervorragenderen Gnadengaben beschenkt sind -, so bleibt ihnen nichts Besseres übrig, als daß sie sich, ihrer Schwachheit wohl bewußt, sorglich innerhalb der Grenzen des Wortes Gottes halten, damit sie nicht, wenn sie nach ihrem eigenen Sinn allzu weit ausschweifen, alsbald vom rechten Wege abirren, sofern sie nämlich jenes Geistes, durch dessen Unterweisung allein Wahrheit und Lüge unterschieden werden, noch ledig sind. Denn alle bekennen mit Paulus, daß sie das Endziel noch nicht erreicht haben (Phil. 3,12). Und deshalb streben sie mehr nach dem täglichen Fortschreiten, als daß sie sich etwa der Vollkommenheit rühmten!
IV,8,12
Unsere Widersacher werden jedoch den Einwand machen, es komme doch das, was stückweise jedem einzelnen unter den Heiligen zugesprochen wird, gänzlich und vollkommen der Kirche selber zu. Obwohl dies nun einigermaßen den Schein der Wahrheit hat, so behaupte ich doch, daß es nicht wahr ist. Zwar hat Gott die Gaben seines Geistes an jedes einzelne Glied „nach dem Maß“ (Eph. 4,7) dergestalt ausgeteilt, daß, wofern die Gaben selbst dem allgemeinen Nutzen zugewandt werden, dem gesamten Leibe nichts Notwendiges abgeht. Aber die Reichtümer der Kirche sind allezeit von der Art, daß noch sehr viel zu jener höchsten Vollkommenheit fehlt, die unsere Widersacher rühmen. Und doch hat die Kirche deswegen in keinem Stück solchen Mangel, daß sie etwa nicht allezeit soviel hätte, wie notwendig ist; denn der Herr weiß, was ihre Notdurft erfordert. Aber um sie in der Demut und in frommer Bescheidenheit zu halten, reicht er ihr nicht mehr dar, als ihr, wie er weiß, nützlich ist.
Ich weiß, was sie auch hier gewöhnlich für einen Einwand machen: sie sagen nämlich, die Kirche sei doch „gereinigt durch das Wasserbad im Wort“ des Lebens, auf daß sie „nicht habe einen Flecken oder Runzel“ (Eph. 5,26f.), und deshalb werde sie an anderer Stelle „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“ genannt (1. Tim. 3,15).
Aber an der ersteren Stelle wird mehr dargelegt, was Christus Tag für Tag an seiner Kirche wirkt, als was er bereits vollendet hat. Denn wenn er all die Seinen von Tag zu Tag heiligt, reinigt, glättet und von ihren Flecken säubert, so steht jedenfalls fest, daß sie noch mit allerlei Flecken und Runzeln bedeckt sind und daß an ihrer Heiligung noch manches fehlt. Wie töricht und unglaubwürdig ist es dann aber, die Kirche bereits durch und durch und in jeder Hinsicht für heilig und unbefleckt zu halten, wo doch alle ihre Glieder noch befleckt und einigermaßen unrein sind! Es ist also wahr, daß die Kirche durch Christus geheiligt ist;
aber hier tritt bloß der Anfang dieser Heiligung in die Erscheinung, ihr Ende dagegen und ihre vollkommene Erfüllung wird dann vorhanden sein, wenn sie Christus, der Heilige der Heiligen, wahrhaft und vollkommen mit seiner Heiligkeit erfüllen wird. Wahr ist auch, daß ihre Flecken und Runzeln getilgt sind, aber doch so, daß sie noch Tag für Tag getilgt werden, bis Christus durch sein Kommen alles gänzlich wegnimmt, was noch übrig ist. Denn wenn wir das nicht annehmen, so müssen wir notwendig mit den Pelagianern behaupten, die Gerechtigkeit der Gläubigen sei schon in diesem Leben vollkommen, oder wir müssen mit den Katharern und Donatisten dazu kommen, keinerlei Schwachheit in der Kirche zu ertragen.
Die andere Stelle (1. Tim. 3,15) hat, wie wir anderwärts gesehen haben (vgl. Kap. 2, Sektion 1), einen völlig anderen Sinn, als sie ihr geben wollen. Paulus hat da nämlich zuvor den Timotheus belehrt und zum rechten Amt eines Bischofs unterwiesen, und jetzt (1. Tim. 3,14f.) sagt er, er habe das zu dem Zweck getan, daß Timotheus nun wüßte, wie er in der Kirche „wandeln“ sollte. Und damit sich nun Timotheus mit um so größerer Ehrfurcht und um so größerem Eifer dafür einsetzt, fügt Paulus hinzu, die Kirche selbst sei „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“. Was sollen nun aber diese Worte anders bedeuten, als daß in der Kirche die Wahrheit Gottes gewahrt wird, nämlich durch das Predigtamt? So lehrt er auch an anderer Stelle, Christus habe Apostel, Hirten und Lehrer gegeben, damit wir uns nicht mehr von jeglichem „Wind der Lehre“ umtreiben oder von den Menschen zu Narren halten lassen, sondern vielmehr, von der wahren Erkenntnis des Sohnes Gottes erleuchtet, alle miteinander zur Einheit des Glaubens herzueilen (Eph. 4,1-11). Daß also die Wahrheit in der Welt nicht ausgelöscht wird, sondern unversehrt erhalten bleibt, das kommt daher, daß sie zu ihrer getreuen Hüterin die Kirche hat, durch deren Arbeit und Dienst sie getragen wird. Wenn aber diese Wacht im prophetischen und apostolischen Amte gelegen ist, dann ergibt sich, daß sie voll und ganz davon abhängt, ob das Wort des Herrn treu bewahrt wird und seine Reinheit behält.
IV,8,13
Damit nun die Leser besser begreifen, um welchen Angelpunkt sich diese Frage vor allem dreht, so will ich mit wenigen Worten auseinandersetzen, was unsere Widersacher verlangen und in was wir uns ihnen widersetzen. Wenn sie behaupten, die Kirche könne nicht irren, so geht das auf folgendes hinaus, und sie legen es folgendermaßen aus: da die Kirche durch den Geist Gottes geleitet wird, so kann sie mit Sicherheit ohne das Wort ihren Weg gehen; wohin sie auch gehen mag, so kann sie nichts denken oder reden als die Wahrheit; wenn sie also außerhalb des Wortes Gottes oder über dasselbe hinaus etwas festsetzt, so ist das für nichts anderes anzusehen als für einen untrüglichen Offenbarungsspruch Gottes.
Wenn wir ihnen nun jenen ersten Satz zugeben, nämlich daß die Kirche in solchen Dingen, die zum Heil notwendig sind, nicht irren kann, so ist unsere Meinung die, daß dies darum gilt, weil sie aller eigenen Weisheit den Abschied gibt und sich vom Heiligen Geist durch das Wort Gottes unterweisen läßt. Der Unterschied besteht also in folgendem: unsere Widersacher stellen die Autorität der Kirche außerhalb des Wortes Gottes, wir dagegen wollen, daß sie an das Wort gebunden sei, und wir dulden es nicht, daß sie von ihm getrennt wird.
Was soll auch Verwunderliches daran sein, wenn die Braut und Schülerin Christi ihrem Bräutigam und Meister unterstellt wird, um beständig und fleißig an seinem Munde zu hängen? Denn in einem wohleingerichteten Hause ist es so bestellt, daß die Frau dem Gebot ihres Mannes gehorcht, und in einer wohlgeordneten Schule herrscht die Regel, daß darin allein die Unterweisung des Meisters gehört werde. Darum soll die Kirche nicht aus sich selbst heraus weise sein, nicht aus sich heraus
etwas denken, sondern sie soll ihrer Weisheit eine Grenze setzen, wo er seinem Reden ein Ende gesetzt hat.
Auf diese Weise wird sie auch allen Fündlein ihrer eigenen Vernunft mit Mißtrauen begegnen, in den Dingen aber, in denen sie sich auf Gottes Wort stützt, wird sie sich von keinem Mangel an Vertrauen und keinem Zagen ins Wanken bringen lassen, sondern sie wird sich mit großer Gewißheit und fester Beständigkeit darauf verlassen. So wird sie auch auf die Größe der Verheißungen, die sie besitzt, vertrauen und sie wird darin Anlaß finden, um ihren Glauben herrlich zu erhalten, so daß sie nicht im geringsten zweifelt, daß ihr der Heilige Geist, der beste Führer auf dem rechten Wege, allezeit zur Seite stehen wird. Aber sie wird zugleich im Gedächtnis behalten, welchen Nutzen wir nach Gottes Willen von seinem Geiste empfangen sollen. „Der Geist“, spricht der Herr, „den ich vom Vater senden werde, der soll euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh. 16,7.13; Anfang ungenau). Aber wie wird er das machen? „Denn er wird euch“, so sagt er, „erinnern alles des, das ich euch gesagt habe“ (Joh. 14,26). Er tut uns also kund, daß wir von seinem Geiste nichts mehr erwarten sollen, als daß er unseren Verstand erleuchte, damit wir die Wahrheit seiner Lehre erfassen. Es ist daher sehr trefflich geredet, wenn Chrysostomus sagt: „Viele rühmen sich des Heiligen Geistes, aber die ihre eigenen Dinge reden, die berufen sich fälschlich auf ihn. Wie Christus nach seinem Zeugnis nicht aus sich selbst heraus redete, weil er eben aus dem Gesetz und aus den Propheten heraus redete, so sollen wir auch nicht glauben, wenn man uns etwas außerhalb des Evangeliums unter Berufung auf den Geist aufdrängen will. Denn wie Christus die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten ist, so ist der Geist die Erfüllung des Evangeliums“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt über den Heiligen Geist,10; vgl. Joh. 12,49f.; 14,10; Röm. 10,4). Soweit Chrysostomus.
Jetzt läßt sich ohne weiteres entnehmen, wie verkehrt unsere Widersacher handeln, die sich des Heiligen Geistes allein zu dem Zweck rühmen, um unter seinem Namen solche Lehren anzupreisen, die dem Worte Gottes fremd sind und außer ihm stehen, während der Heilige Geist doch selber ein unzertrennliches Band mit dem Worte Gottes verbunden sein will und Christus dies von ihm bezeugt, als er ihn seiner Kirche verheißt. Ja, so verhält es sich. Die maßvolle Nüchternheit, die der Herr seiner Kirche einmal zur Vorschrift gemacht hat, will er auch fort und fort gewahrt wissen. Er hat aber verboten, daß sie seinem Wort etwas zufügt oder etwas von ihm wegnimmt. Das ist Gottes und des Heiligen Geistes unverletzlicher Beschluß - und den versuchen unsere Widersacher umzustoßen, indem sie so tun, als ob die Kirche ohne das Wort vom Heiligen Geiste regiert würde.
IV,8,14
Hier erheben sie nun abermals murrenden Einspruch: die Kirche habe den Schriften der Apostel manches hinzufügen müssen oder die Apostel selbst seien genötigt gewesen, hernach mündlich zu vervollständigen, was sie (in schriftlicher Form) weniger deutlich überliefert hätten; denn Christus habe doch zu ihnen gesagt: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnet es jetzt nicht tragen“ (Joh. 16,12); eben dies aber seien die Lehrsatzungen, die ohne die Heilige Schrift, allein durch den Gebrauch und die Gewöhnung zur Annahme gekommen seien. Aber was ist das nun für eine Unverschämtheit! Ich gebe allerdings zu: als die Jünger jenes Wort zu hören bekamen, da waren sie noch unkundig und fast ungelehrig. Aber waren sie auch noch zu der Zeit, als sie ihre Lehre schriftlich niederlegten, mit solcher Schwerfälligkeit behaftet, daß sie es hernach notwendig hatten, mündlich zu vervollständigen, was sie in ihren Schriften aus Unwissenheit ausgelassen hatten? Wenn sie aber bereits von dem Geiste der Wahrheit geleitet waren, als sie ihre Schriften ausgaben - was stand dann im Wege, daß sie etwa nicht eine vollkommene Erkenntnis der Lehre
des Evangeliums in jenen Schriften zusammengefaßt und dann versiegelt hinterlassen hätten? Aber wohlan, wir wollen ihnen zugeben, was sie begehren - sie sollen nur die Dinge aufweisen, die ohne schriftliche Niederlegung offenbart werden mußten! Wenn sie nun das zu unternehmen wagen, dann will ich ihnen mit den Worten Augustins begegnen, der da sagt: „Wo der Herr geschwiegen hat - wer von uns will da sagen: das oder das ist es? Oder wenn er es wagt, das zu sagen - woher will er es beweisen?“ (Predigten zum Johannesevangelium 96,2). Aber was streite ich hier um eine überflüssige Sache? Denn es weiß doch selbst ein Kind, daß uns in den apostolischen Schriften, die jene Leute gewissermaßen verstümmelt und halbiert sein lassen wollen, die Frucht jener Offenbarung entgegentritt, die der Herr damals (Joh. 16,12) seinen Jüngern verheißen hat.
IV,8,15
Wieso, sagen sie - hat denn Christus nicht alles, was die Kirche lehrt und entscheidet, jeder Erörterung entzogen, indem er die Weisung gibt, man solle den, der (ihr) zu widersprechen wagte, für einen „Heiden und Zöllner“ halten (Matth. 18,17)? Zunächst: an dieser Stelle ist keine Rede von der Lehre, sondern es empfängt nur die (kirchliche) Zuchtübung die Sicherung ihrer Autorität zwecks Bestrafung von Vergehen, und das geschieht, damit die, die ermahnt oder getadelt worden sind, sich nicht etwa ihrem Urteil widersetzen. Aber lassen wir das beiseite - es ist doch sehr verwunderlich, daß diese Schwätzer so gar keine Scham haben, so daß sie sich nicht scheuen, selbst diese Stelle zu ihrem Übermut zu benutzen. Denn was können sie damit schließlich beweisen, als daß man die einhellige Überzeugung der Kirche nicht verachten soll, der Kirche, die doch allein auf die Wahrheit des Wortes Gottes hin zusammenstimmt? Man muß die Kirche hören, so sagen sie. Wer leugnet das denn? Denn die Kirche tut keinen Ausspruch als allein aus des Herrn Wort heraus! Verlangen unsere Widersacher irgend etwas mehr, dann müssen sie wissen, daß ihnen diese Worte Christi dabei keinen Beistand tun.
Ich darf auch nicht streitsüchtig scheinen, weil ich mit solcher Schärfe darauf bestehe, daß es der Kirche nicht erlaubt ist, irgendeine neue Lehre zu begründen, das heißt: mehr zu lehren und als Offenbarungswort zu überliefern, als was der Herr in seinem Wort geoffenbart hat. Denn verständige Menschen sehen wohl, was für eine große Gefahr entsteht, wenn man den Menschen einmal soviel Recht zugestanden hat. Sie sehen auch, was für ein großes Fenster dem Gespött und den Sticheleien der Gottlosen aufgetan wird, wenn wir behaupten, es sei das, was Menschen für richtig gehalten haben, unter den Christen für ein Offenbarungswort zu halten.
Zudem muß man beachten, daß Christus, nach dem Brauch seiner Zeit redend, (an der obigen Stelle, Matth. 18,17) diesen Namen („Kirche“ oder „Gemeinde“) dem (damaligen, örtlichen) Synedrium beilegt, damit seine Jünger es lernten, hernach die heiligen Zusammenkünfte der Kirche zu ehren. So würde es denn (wenn die Widersacher mit ihrer Beziehung dieser Stelle auf die Lehre recht hätten) dazu kommen, daß jede Stadt und jedes Dorf die gleiche Freiheit hätte, Lehrsatzungen aufzustellen!
IV,8,16
Die Beispiele, die unsere Widersacher gebrauchen, helfen ihnen nichts. So sagen sie, die Kindertaufe sei nicht so sehr aus einer offenen Weisung der Schrift als aus einem Beschluß der Kirche hervorgegangen. Aber es wäre eine höchst jämmerliche Zuflucht, wenn wir genötigt würden, uns zur Verteidigung der Kindertaufe auf die bloße Autorität der Kirche zurückzuziehen; es wird jedoch an anderer Stelle genugsam deutlich werden, daß es sich weit anders verhält (vgl. Kap. 16). Ebenso steht es mit ihrem Einwand: was man in der Synode von Nicäa ausge-
sprochen habe, nämlich daß der Sohn gleichen Wesens mit dem Vater ist, das stehe nirgendwo in der Schrift. Damit sprechen sie gegen die Väter eine schwere Beleidigung aus, als ob sie den Arius ohne Grund verdammt hätten, weil er nicht auf ihre Worte hätte schwören wollen, während er doch die ganze Lehre bekannt hätte, die in den prophetischen und apostolischen Schriften beschlossen ist. Ich gebe zwar zu, daß sich dieser Ausdruck („gleichen Wesens mit dem Vater“) in der Schrift nicht findet. Aber es wird doch so oft in der Schrift ausgesprochen, daß ein Gott ist, und wiederum wird Christus so oft wahrer und ewiger Gott genannt, eins mit dem Vater; wenn nun die Väter von Nicäa erklären, Christus sei eines Wesens mit dem Vater, was tun sie dann anders, als daß sie den ursprünglichen Sinn der Schrift schlicht auslegen? Und dazu berichtet Theodoret, daß Konstantin in ihrer Versammlung folgende Vorrede gehalten habe: „In Erörterungen über göttliche Dinge hat man die Lehre des Heiligen Geistes als bindende Vorschrift; die evangelischen und apostolischen Bücher samt den Offenbarungsworten der Propheten zeigen uns völlig klar den Sinn der Gottheit. Deshalb wollen wir die Zwietracht ablegen und aus den Worten des Geistes die Klärung unserer Fragen entnehmen“ (Theodoret Kirchengeschichte I,7). Es war damals niemand da, der sich diesen heiligen Ermahnungen widersetzt hätte. Niemand machte den Einwand, die Kirche könne aus dem Ihrigen heraus etwas zufügen, der Heilige Geist habe den Aposteln nicht alles geoffenbart oder wenigstens nicht alles auf ihre Nachfolger kommen lassen, oder sonst dergleichen. Wenn das wahr ist, was unsere Widersacher wollen, dann hat erstens Konstantin verkehrt gehandelt, daß er die Kirche ihrer Macht beraubt hat, zweitens war, da sich damals keiner von den Bischöfen erhob, um die Macht der Kirche dagegen zu verteidigen, dieses Stillschweigen ein Zeichen von Treulosigkeit, und so waren also die Bischöfe Verräter des kirchlichen Rechtes! Da aber Theodoret berichtet, daß sie das, was der Kaiser sagte, gern angenommen haben, so steht fest, daß dieses neue Dogma damals ganz und gar unbekannt gewesen ist.
Neuntes Kapitel
Von den Konzilien und ihrer Autorität
IV,9,1
Selbst wenn ich nun den Römischen bezüglich der Kirche alles zugäbe, so hätten sie auch damit für ihren Zweck noch nicht viel erreicht. Denn alles, was man von der Kirche sagt, das übertragen sie alsbald auf die Konzilien, die nach ihrer Meinung die Kirchen vergegenwärtigen (repraesentare). Ja, daß sie so hartnäckig um die Vollmacht der Kirche streiten, das tun sie aus keiner anderen Absicht, als um alles und jedes, was sie dabei errungen haben, dem römischen Papst und seinem Trabantenschwarm zu eigen zu geben.
Bevor ich aber diese Frage zu erörtern beginne, muß ich einleitend zweierlei kurz aussprechen.
(1) Wenn ich hier recht scharf sein werde, so geschieht das nicht etwa, weil ich die alten Konzilien geringer einschätze, als es sich gebührt. Denn ich verehre sie von Herzen, und ich wünsche, daß sie bei allen Menschen die ihnen zukommende Ehre empfangen. Aber es besteht hier ein Maß, nämlich dies, daß Christus nichts benommen werden darf. Christi Recht ist nun aber dies, daß er in allen Konzilien die Leitung und in solcher Würde keinen Menschen zum Mitgenossen habe. Er hat aber, so behaupte ich, nur dann die Leitung, wenn er die ganze Versammlung mit seinem Wort und seinem Geist regiert.
(2) Und dann: daß ich den Konzilien weniger Rechte zuerkenne, als unsere Widersacher verlangen, das tue ich nicht aus dem Grunde, daß ich etwa vor den Konzilien Angst hätte, als ob sie der Sache unserer Widersacher Beistand gewährten, der unseren aber entgegenstünden. Denn wie wir zum vollen Beweis für unsere Lehre und zum Umsturz des ganzen Papsttums mehr als genug mit dem Worte des Herrn ausgerüstet sind, so daß es nicht besonders darauf ankommt, darüber hinaus etwas zu suchen, so geben uns doch, wenn es die Sache erfordert, die alten Konzilien weitgehend Stoff an die Hand, der zu beidem genug ist.
IV,9,2
Nun wollen wir über die Sache selbst reden. Wenn man aus der Schrift erfahren will, welche Autorität die Konzilien besitzen, so gibt es keine herrlichere Verheißung, als sie uns in dem Wort Christi begegnet: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). Freilich, das bezieht sich ebensosehr auf irgendeine besondere (d.h. örtliche) Versammlung als auf ein allgemeines Konzil. Doch liegt der Knoten der Frage nicht darin, sondern vielmehr in der zugefügten Bedingung, nach der Christus nur dann inmitten des Konzils sein wird, wenn es in seinem Namen versammelt ist. Wenn sich also unsere Widersacher auch tausendmal auf ihre Bischofskonzilien berufen, so werden sie damit wenig vorankommen, und sie werden es erst dann zuwege bringen, daß wir ihnen glauben, was sie behaupten, nämlich daß diese Konzilien vom Heiligen Geist regiert würden, - wenn sie uns bewiesen haben, daß diese auch in Christi Namen versammelt werden. Denn es kann ebensogut sein, daß sich gottlose und böse Bischöfe gegen Christus zusammenrotten, wie daß sich gute und rechtschaffene in seinem Namen versammeln. Dafür dienen uns sehr viele Beschlüsse, die von solchen Konzilien ausgegangen sind, zum klaren Beweis. Aber das werden wir später noch sehen. Jetzt gebe ich nur mit einem einzigen Wort die Antwort, daß Christus nur denen etwas verheißt, die sich in seinem Namen versammeln. Wir wollen also feststellen, was das heißt. Ich bestreite, daß sich die in Christi Namen versammeln, die Gottes Gebot verwerfen, in dem er untersagt, daß man zu seinem Worte irgend etwas zufüge oder etwas davontue (Deut. 4,2; Apk. 22,18f.), die dann nach ihrem eigenen Gutdünken das eine oder andere festsetzen, die sich mit den Offen-
barungsworten der Schrift, das heißt mit der einigen Richtschnur vollkommener Weisheit, nicht zufriedengeben und sich aus ihrem eigenen Kopf heraus irgend etwas Neues ersinnen. Da Christus nicht verheißen hat, bei allen möglichen Konzilien gegenwärtig zu sein, sondern vielmehr ein besonderes Kennzeichen zugefügt hat, um die wahren und rechtmäßigen Konzilien von den anderen zu unterscheiden, so gebührt es sich jedenfalls, daß wir diese Unterscheidung durchaus nicht vernachlässigen. Der Bund, den Gott vorzeiten mit den levitischen Priestern geschlossen hat, bestand doch darin, daß sie ihre Unterweisung aus seinem Munde heraus geben sollten (Mal. 2,7). Eben dies hat er allezeit von den Propheten verlangt, und wir sehen, daß dieses Gesetz auch den Aposteln auferlegt worden ist. Die diesen Bund verletzen, die würdigt Gott weder der Ehre des Priesteramtes noch irgendwelcher Autorität. Diesen Knoten sollen mir die Widersacher auflösen, wenn sie meinen Glauben an Menschenmeinungen knechten wollen, die außerhalb des Wortes Gottes stehen!
IV,9,3
Wenn nämlich unsere Widersacher der Meinung sind, die Wahrheit könne nicht in der Kirche verbleiben, wofern sie nicht unter den Hirten ihren festen Bestand hätte, und die Kirche selbst könne nicht bestehen, wenn sie nicht in allgemeinen Konzilien ans Licht träte, so ist das bei weitem nicht allezeit wahr gewesen, wenn anders uns die Propheten wahrheitsgemäße Zeugnisse über ihre Zeiten hinterlassen haben. Zur Zeit des Jesaja war in Jerusalem noch Kirche, die Gott noch nicht verlassen hatte. Trotzdem redet er über die Hirten wie folgt: „Alle ihre Wächter sind blind, sie wissen alle nichts; stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können, sind faul, liegen und schlafen gerne ... Sie, die Hirten, wissen noch verstehen nichts; ein jeglicher sieht auf seinen Weg ...” (Jes. 56,10f.; nicht ganz Luthertext). In derselben Weise sagt Hosea: „Der Wächter Israels mit Gott, er ist der Strick eines Vogelstellers und ein Greuel im Hause Gottes“ (Hos. 9,8; nicht Luthertext). Hier vergleicht der Prophet die „Wächter“ ironisch mit Gott und lehrt dadurch, daß ihr Vorwand, Priester zu sein, eitel ist. Auch bis in die Zeit des Jeremia hinein währte die Kirche. Hören wir, was er von den Hirten sagt: „Beide, Propheten und Priester gehen allesamt mit Lügen um“ (Jer. 6,13). Ebenso: „Die Propheten weissagen Lüge in meinem Namen; ich habe sie nicht gesandt und ihnen nichts befohlen“ (Jer. 14,14; nicht ganz Luthertext). Und damit wir uns mit der Aufzählung seiner Worte nicht gar zu sehr ins Weite verlieren, lese man doch, was er im ganzen dreiundzwanzigsten und vierzigsten Kapitel geschrieben hat. Zur gleichen Zeit fuhr Ezechiel von der anderen Seite keineswegs milder gegen die nämlichen Leute los. „Die Propheten“, sagt er, „so darin sind, haben sich gerottet, ... wie ein brüllender Löwe, wenn er raubt ... Ihre Priester verkehren mein Gesetz freventlich und entheiligen mein Heiligtum; sie halten unter dem Heiligen und Unheiligen keinen Unterschied ...“ (Ez. 22,25f.). Dazu kommt dann das Weitere, das er in dem gleichen Sinne folgen läßt. Ähnliche Klagen begegnen uns bei den Propheten immer wieder, so daß uns da nichts häufiger entgegentritt.
IV,9,4
Aber - so könnte jemand sagen - das mag wohl unter den Juden gegolten haben, unsere Zeit aber ist doch von solch einem großen Übel frei. Ja, wollte Gott, es wäre so! Der Heilige Geist aber hat angekündigt, daß es anders sein soll. Denn die Worte des Petrus sind klar; „wie in dem alten Volke falsche Propheten gewesen sind“, sagt er, „so werden auch unter euch falsche Lehrer sein, die verderbliche Sekten neben einführen“ (2. Petr. 2,1). Sieht man, wie nach seiner Predigt die Gefahr nicht von den gewöhnlichen Leuten droht, sondern von solchen, die sich des Titels von Lehrern und Hirten rühmen werden? Sieht man außerdem, wie oft Christus und seine Apostel vorausgesagt haben, daß der Kirche die höchsten Gefahren von seiten ihrer Hirten drohten (Matth. 24,11.24)? Ja, Paulus zeigt offen, daß der Antichrist seinen Sitz nirgendwo anders als im Tempel Gottes haben wird (2. Thess. 2,4)! Damit gibt er zu erkennen, daß jene entsetzliche Not, von der er an dieser
Stelle redet, nirgendwo anders herkommen wird als von solchen, die als Hirten in der Kirche ihren Sitz haben werden. Und an anderer Stelle weist er nach, daß der Beginn dieses großen Übels bereits (zu seiner Zeit) nahe bevorsteht. Denn in seiner Ansprache an die Bischöfe von Ephesus sagt er: „Das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen greuliche Wölfe, die der Herde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen Männer, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen“ (Apg. 20,29f.). Wieviel Verderbnis konnte unter den Hirten die lange Reihe der Jahre mit sich bringen, wenn sie bereits in einem so geringen Zeitraum dermaßen entarten konnten! Und um nicht viele Blätter mit Aufzählungen vollzuschreiben - wir werden durch Beispiele aus fast allen Jahrhunderten daran gemahnt, daß die Wahrheit nicht allezeit im Busen der Hirten genährt wird und daß der unversehrte Bestand der Kirche auch nicht von dem Zustande der Hirten abhängig ist. Sie sollten zwar die Verteidiger und Hüter des kirchlichen Friedens und Heiles sein, zu deren Wahrung sie ja bestimmt sind - aber Leisten, was man soll, und Sollen, was man nicht leistet, das sind zweierlei Dinge!
IV,9,5
Jedoch soll niemand diese unsere Worte in dem Sinne verstehen, als ob ich die Autorität der Hirten ohne Ausnahme, ohne Überlegung und ohne jeglichen Unterschied ins Wanken bringen wollte. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß man zwischen ihnen einen Unterschied zur Geltung bringen muß, und zwar, damit wir die, die da Hirten heißen, nicht auch gleich für solche halten! Wenn nun der Papst samt der ganzen Herde der Bischöfe Gottes Wort von sich schütteln und nach ihrer Willkür alles umstürzen und verkehren, so handeln sie aus keiner anderen Ursache heraus, als eben weil sie als Hirten bezeichnet werden; unterdessen aber bemühen sie sich noch, uns zu überzeugen, daß sie des Lichtes der Wahrheit nicht verlustig gehen könnten, daß der Geist Gottes unablässig unter ihnen wohne und daß die Kirche in ihnen ihren Bestand habe und mit ihnen sterbe! Als ob der Herr keine Gerichte mehr hätte, um heutzutage mit der gleichen Art von Strafe gegen die Welt vorzugehen, mit der er einst die Undankbarkeit des alten Volkes gerächt hat, nämlich die Hirten mit Blindheit und Verstumpfung zu schlagen (Sach. 11,17)! Auch begreifen diese Menschen in ihrer furchtbaren Torheit nicht, daß sie das gleiche Liedlein singen, das einst die im Munde geführt haben, die mit dem Worte Gottes Krieg führten. Denn als sich die Feinde Jeremias gegen die Wahrheit rüsteten, da taten sie es mit den Worten: „Kommt, lasset uns wider Jeremia ratschlagen; denn dem Priester kann das Gesetz nicht entfallen noch der Rat dem Weisen, noch das Wort dem Propheten“ (Jer. 18,18; nicht Luthertext).
IV,9,6
Von hier aus läßt sich auch auf den anderen Punkt, der die allgemeinen Konzilien betrifft, leicht eine Antwort geben. Daß die Juden unter den Propheten wahre Kirche gehabt haben, das läßt sich nicht leugnen. Was für eine Gestalt der Kirche aber wäre in die Erscheinung getreten, wenn man damals aus den Priestern ein allgemeines Konzil versammelt hätte? Wir hören doch, was Gott nicht einem oder zweien von ihnen, sondern dem gesamten Stande ansagt. So: „Die Priester werden bestürzt und die Propheten erschrocken sein“ (Jer. 4,9). Oder ebenso: „Es wird weder Gesetz bei den Priestern noch Rat bei den Alten mehr sein“ (Ez. 7,26). Oder endlich: „Darum soll euer Gesicht zur Nacht und euer Wahrsagen zur Finsternis werden. Die Sonne soll über den Propheten untergehen und der Tag über ihnen finster werden“ (Micha 3,6). Nun, was für ein Geist hätte wohl in ihrer Versammlung die Leitung gehabt, wenn sie zu jener Zeit alle an einem Ort zusammengekommen wären? Dafür haben wir ein ausgezeichnetes Beispiel an jenem Konzil, das Ahab (1. Kön. 22) zusammenberief. Da waren vierhundert Propheten zugegen. Aber weil sie mit keinem anderen Willen zusammengekommen waren als allein, um dem gottlosen König zu schmeicheln, so wurde von dem Herrn der Satan ausgesandt, damit er
ein Geist der Lüge sei in ihrer aller Munde (1. Kön. 22,22). Da wurde denn die Wahrheit mit den Stimmen aller verdammt, und Micha wurde als Ketzer verurteilt, geschlagen und in das Gefängnis geworfen. Ebenso ist es dem Jeremia widerfahren, ebenso auch anderen Propheten.
IV,9,7
Aber ein Beispiel, das denkwürdiger ist als die anderen, mag statt aller anderen genug sein. Was sollte man an dem Konzil, das die Hohenpriester und Pharisäer in Jerusalem gegen Christus zusammenberiefen (Joh. 11,47), noch zu wünschen übrig finden - wenigstens was die äußere Erscheinung anbetrifft? Denn wenn damals in Jerusalem keine Kirche gewesen wäre, so hätte Christus nie und nimmer an den Opfern und anderen Zeremonien teilgenommen. Es fand eine feierliche Einberufung statt, der Hohepriester hatte die Leitung, der gesamte Priesterstand saß dabei - und doch wurde Christus da verurteilt und seine Lehre aus dem Wege geräumt! Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, daß die Kirche keineswegs in dieses Konzil eingeschlossen gewesen ist. Aber, so könnte jemand einwenden, es besteht doch keine Gefahr, daß uns etwas Derartiges widerfährt! Wer hat uns das bewiesen? Denn wenn man in so wichtiger Sache allzu sorglos ist, so macht man sich immerhin der Fahrlässigkeit schuldig. Ja, der Heilige Geist weissagt doch durch den Mund des Paulus mit ausdrücklichen Worten, daß ein Abfall kommen wird (2. Thess. 2,3), und solcher Abfall kann nicht kommen, wofern nicht die Hirten Gott zuerst verlassen. Wenn es so steht, weshalb sind wir denn hier zu unserem eigenen Verderben mit Willen blind?
Es ist also unter keinen Umständen zuzugeben, daß die Kirche auf der Versammlung der Hirten beruhe; denn der Herr hat nirgendwo verheißen, daß diese allezeit gut sein werden, wohl aber angekündigt, daß sie zu Zeiten böse sein sollen. Wo er uns aber auf eine Gefahr aufmerksam macht, da tut er es, um uns vorsichtiger zu machen.
IV,9,8
Wieso nun, wird man sagen, sollen denn die Konzilien bei ihren Beschlußfassungen gar keine Autorität haben? Aber gewiß doch! Denn es geht mir hier nicht darum, daß alle Konzilien verdammt, alle ihre Verhandlungsergebnisse umgestoßen und, wie man sagt, mit einem Federstrich ungültig gemacht werden sollten. Aber, so wird man sagen, du setzest ihnen doch allen sehr enge Schranken, so daß es nun jeder frei in der Hand hat, das, was die Konzilien beschlossen haben, anzunehmen oder zu verwerfen. Durchaus nicht! Aber sooft man den Beschluß irgendeines Konzils vorbringt, möchte ich, daß man zunächst gründlich erwägt, zu welcher Zeit es gehalten worden ist, aus welchem Grunde und mit welcher Absicht man es gehalten hat und was für Leute dabei waren. Alsdann soll man, das möchte ich weiter, den Gegenstand, um den es sich handelt, nach dem Richtmaß der Schrift prüfen, und das soll in der Weise vor sich gehen, daß die Entscheidung des Konzils ihr Gewicht hat und als vorläufiges Urteil (plaeiudicium) gilt, aber doch die Prüfung, von der ich sprach, nicht hindert.
Wenn doch alle das Verfahren beobachteten, das Augustin im dritten Buche (seiner Schrift) gegen Maximinus vorzeichnet! Er will nämlich diesen Ketzer, der über die Beschlüsse der Synoden Streit führt, kurz zum Schweigen bringen, und deshalb sagt er: „Weder darf ich dir die Synode von Nicäa, noch darfst du mir die Synode von Ariminum (359) vorhalten, um etwa damit ein Vorurteil zu fällen. Ich bin nicht durch die Autorität der letzteren, du nicht durch die der ersteren gebunden. Nein, es soll Sache gegen Sache, Angelegenheit gegen Angelegenheit, Begründung gegen Begründung streiten, und zwar auf Grund der mit Autorität ausgerüsteten Aussagen der Schrift, die also nicht der einzelne für sich allein hat, sondern die uns beiden gemeinsam sind“ (Gegen Maximinus, Buch II,14,3).
Wenn man es so machte, dann würde es dazu kommen, daß die Konzilien die ihnen gebührende Majestät erhielten, die Schrift aber unterdessen an einem höheren Platz stünde und den Vorrang hätte, so daß es nichts gäbe, das ihrer Richtschnur nicht unterworfen würde. So nehmen wir die alten Synoden, wie die zu Nicäa, zu Konstantinopel, die erste Synode zu Ephesus, die Synode von Chalcedon und ähnliche, die zur Widerlegung von Irrtümern gehalten worden sind, gern an, wir verehren sie als heilig, soweit es die Glaubenssätze betrifft; denn sie enthalten nichts als eine reine und ursprüngliche Auslegung der Schrift, die die heiligen Väter in geistlicher Weisheit dazu angewendet haben, die Feinde der Religion, die sich damals erhoben hatten, zu überwinden. Auch in manchen späteren Synoden sehen wir wahren Eifer der Frömmigkeit aufleuchten, dazu auch unverkennbare Zeichen von Verstand, Gelehrsamkeit und Weisheit. Aber wie die Dinge im allgemeinen schlimmer zu werden und in Verfall zu geraten pflegen, so kann man auch aus den späteren Konzilien ersehen, wie sehr die Kirche allgemach von der Lauterkeit jenes goldenen Zeitalters abgekommen ist.
Ich zweifle nun nicht daran, daß die Konzilien auch in diesen verdorbeneren Zeiten ihre besser gearteten Bischöfe gehabt haben. Aber mit diesen Konzilien ist eben das vorgegangen, wovon in den römischen Senatsbeschlüssen die Senatoren selbst klagen, daß es nicht recht geschehe. Denn da man die Stimmen zählt und nicht wägt, so ist notwendig häufiger der bessere Teil von dem größeren überstimmt worden. Auf jeden Fall haben diese Konzilien viele gottlose Meinungen vorgebracht. Es ist auch hier nicht nötig, Beispiele zu sammeln; denn das würde viel zu weit führen, und andere haben es auch so gründlich besorgt, daß man nicht mehr viel zufügen kann.
IV,9,9
Was soll ich weiter aufzählen, wie Konzilien mit Konzilien im Streite gelegen haben? Es besteht auch kein Grund, daß mir jemand murrend den Einwurf macht, von diesen Konzilien, die miteinander im Widerspruch stehen, sei eben das eine oder das andere nicht rechtmäßig. Denn woher sollen wir darüber eine Meinung gewinnen? Doch daher, wenn ich mich nicht täusche, daß wir auf Grund der Schrift zu dem Urteil kommen, daß die Beschlüsse des betreffenden Konzils nicht rechtgläubig sind. Denn das ist das einzige sichere Gesetz für eine solche Unterscheidung.
Es ist jetzt ungefähr neunhundert Jahre her, daß die Synode zu Konstantinopel (754), die unter dem Kaiser Leo zusammenberufen worden war, den Beschluß faßte, es sollten die in den Kirchengebäuden aufgestellten Bilder umgeworfen und zerbrochen werden. Kurz nachher beschloß das Konzil zu Nicäa (787), das Irene jenem ersten Konzil zum Trotz einberufen hatte, die Bilder sollten wiederhergestellt werden. Welches von den beiden sollen wir nun als rechtmäßig anerkennen? Im allgemeinen hat sich das letztere durchgesetzt, das den Bildern in den Kirchengebäuden einen Platz gegeben hat. Augustin dagegen erklärt, daß dies nicht geschehen kann ohne die unmittelbarste Gefahr der Abgötterei! Und Epiphanius, der zu noch früherer Zeit lebte, redet noch viel schärfer: er lehrt nämlich, es sei frevlerisch und ein Greuel, daß man in der Kirche von Christen Bilder anschauen sollte. Wenn nun diese Männer, die so geredet haben, heute noch lebten - würden die wohl jenes Konzil anerkennen? Wenn nun die Geschichtsschreiber die Wahrheit berichten und wenn man den niedergelegten Verhandlungsergebnissen selber Glauben schenkt, so hat man auf dieser Synode nicht nur die Bilder selbst, sondern auch ihre Verehrung anerkannt. Es liegt aber auf der Hand, daß ein solcher Beschluß vom Satan stammt! Was sollen wir aber dazu sagen, daß diese Männer durch ihre Verkehrung und Zerreißung der ganzen Schrift offen zu erkennen geben, daß sie sich über sie lustig machen? Eben dies aber habe ich oben (vgl. Buch I, Kap. 11) mehr als zureichend deutlich gemacht. Wie dem auch sei, wir werden zwischen den einander widersprechenden und verschieden lehrenden Synoden, deren es viele gegeben
hat, nur dann unterscheiden können, wenn wir sie alle mit jener Waage der Menschen und Engel nachprüfen, von der ich gesprochen habe, nämlich mit dem Wort des Herrn. So nehmen wir die Synode zu Chalcedon an und verwerfen die zweite Synode zu Ephesus, weil in dieser die Gottlosigkeit des Eutyches bestätigt wurde, die jene andere (die Synode zu Chalcedon) verdammt hat. Das Urteil über diese Sache haben die heiligen Männer ausschließlich auf Grund der Schrift gefällt, und wir folgen ihnen in unserem Urteilen dergestalt, daß Gottes Wort, das ihnen vorangeleuchtet hat, auch uns nun voranleuchtet. Nun sollen die Römischen hingehen und nach ihrer Gewohnheit den Anspruch erheben, an ihre Konzilien sei der Heilige Geist geheftet und festgebunden!
IV,9,10
Allerdings bleibt auch bei jenen alten, reineren Konzilien noch manches mit Recht auszusetzen, sei es, weil die sonst gelehrten und verständigen Männer, die damals dabei waren, infolge ihrer vielseitigen Inanspruchnahme durch die gegenwärtigen Angelegenheiten vieles andere nicht vorhersahen, sei es, weil sie bei ihrer Beschäftigung mit schwereren und ernsteren Dingen manche Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung beiseiteließen, sei es, weil sie einfach als Menschen durch Unkundigkeit getäuscht werden konnten, oder sei es auch, weil sie sich aus allzu großer innerer Bewegung heraus dann und wann zu vorschnellem Handeln hinreißen ließen. Das letztere scheint das schwerste von allem zu sein, und dafür gibt es ein hervorragendes Beispiel bei der Synode zu Nicäa (325), deren Würde, wie sie es verdiente, einhellig mit höchster Ehrerbietung anerkannt worden ist. Da war doch der wichtigste Artikel unseres Glaubens in Gefahr, da war Arius, der Feind, zum Kampfe gerüstet zugegen, und man mußte mit ihm handgemein werden; in solcher Lage aber kam es in höchstem Maße auf die Eintracht derer an, die in der Bereitschaft gekommen waren, den Irrtum des Arius zu bekämpfen; aber obwohl es so stand, so vergaßen diese doch sorglos diese großen Gefahren, ja, sie ließen geradezu allen Ernst, alle Bescheidenheit und alle Menschlichkeit fahren, sie schlugen sich den Kampf, den sie unmittelbar zu führen hatten - gerade als ob sie mit der festen Absicht hergekommen wären, dem Arius zu Gefallen zu sein! -, aus dem Kopf und begannen, sich über inneren Streitigkeiten zu entzweien und die Feder, die sie gegen Arius hätten zücken sollen, wider sich selbst zu richten; schändliche Beschuldigungen gab es zu hören, Anklageschriften flogen daher, und die Streitereien hätten wohl kein Ende gefunden, ehe sich diese Männer gegenseitig durch Verwundungen niedergestreckt hätten, wenn sich nicht der Kaiser Konstantin ins Mittel gelegt hätte, der erklärte, die Untersuchung über ihren Lebenswandel sei eine Sache, die über seine Zuständigkeit hinausginge, und solche Ungezügeltheit mehr mit Lobworten als mit Tadel züchtigte. In wievieler Hinsicht sind aller Wahrscheinlichkeit nach auch die anderen Konzilien, die später gefolgt sind, ausgeglitten! Das bedarf auch keines langen Nachweises; denn wenn jemand die Akten durchliest, so wird er da viele Schwachheiten bemerken - um kein schlimmeres Wort zu gebrauchen!
IV,9,11
Auch der römische Bischof Leo (I.) trägt kein Bedenken, der Synode von Chalcedon Ehrsucht und unberatene Leichtfertigkeit vorzuwerfen, obwohl er zugibt, daß sie in den Glaubenssätzen rechtgläubig war. Er leugnet zwar nicht, daß sie rechtmäßig ist, aber er behauptet offen, daß sie hat irren können. Vielleicht komme ich jemandem töricht vor, daß ich Mühe daran wende, derartige Irrtümer aufzuweisen, wo doch unsere Widersacher zugeben, daß die Konzilien in solchen Dingen irren können, die zum Heil nicht notwendig sind. Aber diese Mühe ist doch nicht überflüssig. Denn unsere Widersacher machen zwar mit Worten gezwungenermaßen jenes Zugeständnis; da sie uns aber trotzdem den Beschluß aller Konzilien in jeder beliebigen Sache und ohne jeden Unterschied als Offenbarungswort des Heiligen Geistes aufdringen, so fordern sie eben mehr, als sie sich im Anfang herausgenommen haben. Was behaupten sie aber mit dieser Handlungsweise anders,
als daß die Konzilien nicht irren können oder daß es, wofern sie irren, doch unerlaubt ist, die Wahrheit zu sehen oder den Irrtümern nicht zuzustimmen? Ich habe nun nichts anderes im Sinne, als daß man eben aus solchen Irrtümern folgern kann: der Heilige Geist hat die im übrigen frommen und heiligen Synoden zwar regiert, aber doch so, daß er es, damit wir unser Vertrauen nicht gar zu sehr auf Menschen setzen, wohl zuließ, daß ihnen ab und an etwas Menschliches widerfuhr. Diese Ansicht ist viel besser als die des Gregor von Nazianz, er habe noch nie gesehen, daß ein Konzil gut ausgegangen sei (Brief 130). Denn wenn jemand behauptet, sie seien alle ohne Ausnahme übel ausgegangen, so läßt er ihnen nicht viel Autorität übrig.
Die Provinzialkonzilien noch besonders zu erwähnen, ist nicht mehr erforderlich; denn von den allgemeinen her läßt sich leicht ein Urteil darüber gewinnen, wieviel Autorität sie haben dürfen, um Glaubensartikel aufzustellen und irgendeine ihnen gut scheinende Art der Lehre anzunehmen.
IV,9,12
Aber wenn unsere Römischen den Eindruck gewinnen, daß ihnen bei der Verteidigung ihrer Sache alle Stützen, die in vernünftigen Beweisen bestehen könnten, dahinsinken, dann ziehen sie sich auf eine äußerste, jämmerliche Ausflucht zurück: sie erklären selbst, wenn sie nach Verstand und Rat ganz dumm, nach Herz und Willen ganz nichtsnutzig wären, so bliebe doch das Wort des Herrn bestehen, das uns gebietet, den Oberen zu gehorchen (Hebr. 13,17). Aber steht es denn so? Was soll denn geschehen, wenn ich behaupte, daß Menschen, die von solcher Art sind, gar keine Oberen sind? Denn sie dürfen sich nicht mehr anmaßen, als Josua besessen hat, der doch ein Prophet des Herrn und dazu ein ausgezeichneter Hirte war. Hören wir aber, mit was für Worten er von dem Herrn in sein Amt eingeführt wird! „Laß das Buch dieses Gesetzes“, so spricht der Herr, „nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken. Dann wirst du deinen Weg recht richten und ihn verstehen“ (Jos. 1,8.7; Schluß nicht Luthertext). „Geistliche Obere“ sollen also für uns diejenigen sein, die vom Gesetz des Herrn weder nach der einen noch nach der anderen Richtung abweichen. Wenn wir aber die Lehre aller beliebigen Hirten ohne Zögern annehmen sollen - was hat es dann für einen Zweck gehabt, daß wir so oft und so nachdrücklich von des Herrn Stimme ermahnt werden, nicht auf die Rede der falschen Propheten zu hören? „Höret nicht“, so spricht er durch Jeremia, „auf die Worte der Propheten, die euch weissagen; denn sie lehren euch Trug und nicht aus des Herrn Munde“ (Jer. 23,16; nicht Luthertext). Oder ebenso: „Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe“ (Matth. 7,15). Sollten wir unterschiedslos die Lehre aller Hirten annehmen, so wäre es auch umsonst, daß uns Johannes mahnt, die Geister zu prüfen, „ob sie aus Gott sind“ (1. Joh. 4,1). Von dieser Prüfung werden nicht einmal die Engel ausgenommen, geschweige denn der Satan mit seinen Lügen. Was bedeutet es aber, wenn uns gesagt wird: „Wenn aber ein Blinder den anderen leitet, so werden sie beide in die Grube fallen“ (Matth. 15,14)? Gibt uns dies Wort nicht genugsam zu erkennen, daß eben viel daran liegt, was für Hirten man hört, und daß man nicht unbedacht alle hören soll? Deshalb haben sie auch keinen Anlaß, uns mit ihren Titeln zu schrecken, um uns in die Mitgenossenschaft an ihrer Blindheit hineinzuziehen; denn wir sehen auf der anderen Seite, daß der Herr besondere Sorgfalt daran wendet, uns Furcht davor einzujagen, daß wir uns von einem fremden Irrtum leiten lassen, unter was für einem Decknamen er auch verborgen sein mag! Denn wenn Christi (obige) Antwort (Matth. 15,14) wahr ist, dann können jedwede blinden Führer, seien sie nun Vorsteher oder Oberste oder Päpste genannt, nichts anderes fertigbringen, als ihre Mitgenossen mit sich in den gleichen Abgrund hineinzustürzen. Deshalb sollen uns keine Namen von
Konzilien, Hirten oder Bischöfen - die man ja ebenso gut fälschlich vorwenden wie in Wahrheit führen kann - daran hindern, daß wir uns von den Beweisen warnen lassen, die uns Worte wie Tatsachen bieten, und alle Geister aller Menschen nach der Richtschnur des göttlichen Wortes prüfen, um festzustellen, ob sie aus Gott sind.
IV,9,13
Da wir nun bewiesen haben, daß der Kirche nicht die Vollmacht gegeben ist, eine neue Lehre aufzurichten, so wollen wir jetzt von der Vollmacht sprechen, die ihr die Römischen bei der Auslegung der Schrift beimessen.
Wir geben gewiß gerne zu, daß, falls über irgendeinen Glaubenssatz ein Streit vorkommt, kein besseres und zuverlässigeres Mittel dagegen besteht, als wenn eine Synode von wahren Bischöfen zusammentritt, damit auf ihr der strittige Glaubenssatz gründlich erörtert wird. Denn (1) eine solche Entscheidung, zu der sich die Hirten der Kirchen nach Anrufung des Geistes Christi alle miteinander einmütig zusammentun, wird viel mehr Gewicht haben, als wenn jemand für sich allein zu Hause eine Entscheidung aufsetzte und sie dem Volke vortrüge oder auch einige wenige amtlose Leute eine zusammenstellten. Ferner (2): wenn die Bischöfe an einem Ort versammelt sind, so können sie mit größerer Leichtigkeit gemeinschaftlich erwägen, was gelehrt werden soll und in welcher Gestalt, damit die Verschiedenheit kein Ärgernis erzeugt. Und (3) drittens: dies ist das Verfahren, das Paulus für die Beurteilung von Lehren vorschreibt. Denn indem er die Beurteilung den einzelnen Kirchen zuerkennt (1. Kor. 14,29), macht er deutlich, welche Ordnung des Vorgehens in schwereren Fällen eintreten soll: da sollen nämlich die Kirchen miteinander gemeinsam das Urteil in die Hand nehmen. Und das Empfinden der Frömmigkeit selbst weist uns den Weg: wenn jemand die Kirche durch ein ungewohntes Dogma in Verwirrung bringt und wenn die Verhältnisse dahin kommen, daß die Gefahr einer einigermaßen ernsten Zwistigkeit besteht, so sollen die Kirchen zunächst zusammenkommen, dann sollen sie die vorgelegte Frage prüfen, und schließlich sollen sie nach Abhaltung einer gehörigen Besprechung die aus der Schrift genommene Entscheidung vorbringen, damit diese im Volke (d.h. in der Gemeinde) die Unsicherheit behebt und nichtsnutzigen, parteisüchtigen Leuten den Mund stopft, so daß sie nicht mehr weiterzugehen wagen.
So wurde nach dem Auftreten des Arius die Synode von Nicäa einberufen, die mit ihrer Autorität die frevlerischen Anschläge dieses gottlosen Menschen zerstörte, in den Kirchen, die er in Unruhe versetzt hatte, den Frieden wiederherstellte und Christi ewige Gottheit gegen sein gotteslästerliches Dogma behauptete. Als dann hernach Eunomius und Macedonius neue Wirren erregten, da hat man das gleiche Mittel dagegen angewandt und ist ihrem Aberwitz durch die Synode von Konstantinopel entgegengetreten. Auf dem Konzil zu Ephesus hat man die Gottlosigkeit des Nestorius zu Boden geschlagen. Kurz, dies war von Anfang an in der Kirche die gewohnte Weise, die Einheit aufrechtzuerhalten, so oft der Satan etwas ins Werk zu setzen begann.
Aber wir müssen bedenken, daß man nicht in allen Jahrhunderten und an allen Orten solche Männer findet wie Athanasius, Basilius, Kyrill und andere Verteidiger der wahren Lehre, die der Herr damals erweckt hat. Ja, wir wollen daran denken, was auf der zweiten Synode zu Ephesus sich zugetragen hat: da setzte sich die Ketzerei des Eutyches durch, Flavian, ein Mann heiligen Angedenkens, wurde mit einer Anzahl frommer Männer in die Verbannung geschickt, und noch viele Schandtaten dieser Art hat man beschlossen! Das kam eben daher, daß dort Dioskur, ein parteisüchtiger und ganz übelgesinnter Mann, die Leitung hatte, nicht aber der Geist des Herrn! Aber, so wird man einwerfen, da war doch nicht die Kirche. Das gebe ich zu. Ich stelle nämlich grundsätzlich fest: die Wahrheit geht in der Kirche nicht davon unter, daß sie wohl auch einmal von einem Konzil unterdrückt wird, sondern sie wird von dem Herrn wunderbar erhalten, so daß sie zu
ihrer Zeit wieder hervorbricht und den Sieg behält. Dagegen bestreite ich, daß es fort und fort so wäre, daß die Auslegung der Schrift, die durch die Abstimmung eines Konzils angenommen ist, die wahre und sichere darstellte.
IV,9,14
Wenn dagegen die Römischen lehren, daß die Vollmacht zur Auslegung der Schrift bei den Konzilien liegt und zwar ohne Berufungsmöglichkeit, so haben sie damit etwas anderes im Auge (als es soeben ausgeführt wurde). Denn sie mißbrauchen diese Behauptung als Deckfarbe, um alles, was in den Konzilien beschlossen worden ist, als Auslegung der Schrift zu bezeichnen. Nun findet man vom Fegefeuer, von der Fürbitte der Heiligen, von der Ohrenbeichte und dergleichen in der Schrift nicht eine einzige Silbe. Weil das nun aber alles durch die Autorität der Kirche festgelegt, das heißt, um richtiger zu reden, durch Ansicht und Übung in Aufnahme gekommen ist, so soll man jedes von diesen Lehrstücken als Auslegung der Schrift gelten lassen! Und nicht nur dies, nein, wenn ein Konzil einen Beschluß gegen den Widerspruch der Schrift gefaßt hat, so soll er doch den Namen einer „Auslegung“ führen! Christus gebietet, daß alle aus dem Kelch trinken, den er im Abendmahle darreicht (Matth. 26,26) - das Konzil von Konstanz dagegen verbot, ihn dem Volke zu reichen, sondern wollte, daß nur der Priester daraus tränke! Was in dieser Weise in genauem Gegensatz zur Einsetzung Christi steht, das soll nach dem Willen der Römischen für deren Auslegung gehalten werden. Paulus nennt das Verbot des Ehestandes eine „Gleisnerei“ böser Geister (1. Tim. 4,1f.), und an anderer Stelle macht der Heilige Geist kund, daß der Ehestand bei allen Ständen heilig und ehrbar ist (Hebr. 13,4). Daß aber die Römischen hernach den Priestern die Ehe verboten haben, das wollen sie für die wahre und ursprüngliche Auslegung der Schrift gehalten wissen, obwohl sich nichts erdenken läßt, das der Schrift fremder wäre. Wagt jemand dagegen zu mucksen, so wird er als Ketzer beurteilt werden; denn gegen die Bestimmung der Kirche gibt es keine Berufung, und es ist Sünde, an der von ihr gegebenen Auslegung zu zweifeln (und sich zu fragen), ob sie auch wahr sei. Wozu soll ich gegen eine solche Unverschämtheit mit scharfen Worten vorgehen? Es heißt doch bereits gewonnen zu haben, wenn man sie nachgewiesen hat!
Die Römischen sprechen in ihrer Lehre auch von einer Vollmacht (der Kirche), die Schrift zu bestätigen; aber das lasse ich mit voller Überlegung beiseite. Denn wenn man auf diese Weise die Offenbarungsworte Gottes der Prüfung von Menschen unterwirft, so daß sie also deshalb ihre Gültigkeit hätten, weil sie den Menschen behagten, so ist das eine Gotteslästerung, die der Erwähnung nicht wert ist; auch habe ich diesen Punkt bereits oben (vgl. Buch I, Kapitel 7) berührt. Ich möchte den Römischen nur eine einzige Frage stellen: wenn die Autorität der Schrift auf die Billigung durch die Kirche gegründet ist - von welchem Konzil wollen sie dann einen diesbezüglichen Beschluß anführen? Ich denke, sie haben keinen! Weshalb ließ sich denn Arius in Nicäa durch Zeugnisse überwinden, die man aus dem Evangelium des Johannes angeführt hatte? Denn nach der Lehre der Römischen stand es ihm frei zu widersprechen, weil keine Anerkennung (dieses Evangeliums) durch ein allgemeines Konzil vorangegangen war. Sie berufen sich auf eine alte Liste, die man Kanon nennt, und sie sagen, dieser sei aus einer Entscheidung der Kirche hervorgegangen. Aber ich frage wiederum: in welchem Konzil ist denn dieser Kanon aufgestellt worden? Da müssen sie verstummen. Allerdings wäre ich außerdem begierig zu erfahren, was für ein Kanon das denn nach ihrer Ansicht gewesen ist. Denn ich bemerke, daß dies unter den Alten sehr wenig festgestanden hat. Wenn das Geltung haben soll, was Hieronymus sagt, so müssen die Makkabäerbücher, das Buch Tobias, Jesus Sirach und dergleichen unter die Apokryphen verwiesen werden - aber das unterstehen sich doch die Römischen in keiner Weise zu tun!
Zehntes Kapitel
Von der gesetzgebenden Gewalt der Kirche, in welcher der Papst samt den Seinen die Seelen einer grausamen Tyrannei und Quälerei unterworfen hat
IV,10,1
Es folgt nun der zweite Teil (der Kirchengewalt, vgl. Kap. 8, Sektion 1 am Anfang), der nach dem Willen der Papisten in der Gesetzgebung bestehen soll. Das ist nun ein Quell, aus dem unzählige menschliche Überlieferungen entsprungen sind - lauter Stricke, um die armen Seelen damit zu erwürgen! Denn die Papisten haben sich ebensowenig wie die Schriftgelehrten und Pharisäer gescheut, anderen Leuten Lasten auf die Schultern zu legen, die sie selbst nicht mit dem Finger hätten anrühren wollen (Matth. 23,4). Ich habe an anderer Stelle bereits dargelegt, was für eine grausame Quälerei ihre Bestimmungen über die Ohrenbeichte darstellen. In anderen Gesetzen tritt nicht eine derartige Gewalttätigkeit zutage; aber auch die, die von allen am erträglichsten erscheinen, üben einen tyrannischen Druck auf die Gewissen aus. Ich schweige noch davon, daß sie die Verehrung Gottes verfälschen und Gott selber, der doch der einige Gesetzgeber ist, seines Rechtes berauben.
Diese Vollmacht müssen wir nun behandeln (und es ist dabei die Frage), ob die Kirche das Recht hat, mit ihren Gesetzen die Gewissen zu binden. Bei dieser Erörterung wird die bürgerliche (politische) Ordnung nicht berührt, sondern es geht ausschließlich darum, daß Gott nach der von ihm vorgeschriebenen Richtschnur recht verehrt werde und uns die geistliche Freiheit, die sich auf Gott bezieht, unverkürzt erhalten bleibe. ‘
Es hat sich nun die Gewohnheit durchgesetzt, daß man unter dem Begriff „menschliche Überlieferungen“ alle jene Bestimmungen versteht, die im Bezug auf die Verehrung Gottes außerhalb seines Wortes von Menschen ausgegangen sind. Gegen diese haben wir zu kämpfen, nicht aber gegen die heiligen und nützlichen Ordnungen der Kirche, die zur Aufrechterhaltung der Zucht, der Ehrbarkeit oder des Friedens dienen. Unser Kampf hat aber das Ziel, daß jene ungemessene und barbarische Herrschaft gebrochen werde, die sich Leute, die für Hirten der Kirche gehalten werden wollen, tatsächlich aber die erbarmungslosesten Marterknechte sind, über die Seelen anmaßen. Denn sie behaupten von den Gesetzen, die sie machen, sie seien „geistlich“ und hätten auf die Seelen Bezug, erklären auch, sie seien zum ewigen Leben notwendig. So aber geschieht dem Reiche Christi, wie ich oben kurz aussprach, Gewalt, so wird die Freiheit, die er selbst den Gewissen der Gläubigen geschenkt hat, ganz und gar unterdrückt und vernichtet. Ich schweige hier davon, mit was für einer Gottlosigkeit sie die Beobachtung ihrer Gesetze als unverbrüchliche Forderung vertreten, indem sie nämlich lehren, man solle in ihr die Vergebung der Sünden, die Gerechtigkeit und das Heil suchen, und indem sie die ganze Summe der Religion und Frömmigkeit in sie hineinlegen. Ich behaupte dies eine: man darf den Gewissen in solchen Dingen, in denen sie durch Christus frei gemacht werden, keinerlei Zwang auferlegen - sie können doch auch, wie wir oben dargelegt haben, nur dann bei Gott ausruhen, wenn sie solcher Freiheit teilhaftig geworden sind! Wollen sie die Gnade behalten, die sie einmal in Christus erlangt haben, so müssen sie auch den als den einigen König anerkennen, der ihr Befreier ist, nämlich Christus, und von dem einen Gesetz der Frei-
heit regiert werden; keine Knechtschaft darf sie mehr festhalten, und keine Fesseln dürfen sie mehr binden!
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Nun tun zwar diese Solons (Gesetzgeber), als ob ihre Ordnungen „Gesetze der Freiheit“, als ob sie ein „sanftes Joch“, eine „leichte Last“ wären - aber wer sollte nicht sehen, daß das lauter Lügen sind? Sie selbst empfinden freilich die Schwere ihrer Gesetze nicht; denn sie haben ja Gottes Furcht von sich geworfen und verachten nun sorglos und wacker sowohl ihre eigenen als auch die göttlichen Gesetze. Die Menschen aber, die einigermaßen von der Sorge um das Heil berührt sind, die kommen bei weitem nicht zu der Meinung, frei zu sein, solange sie von diesen Stricken festgehalten werden. Wir sehen doch, mit wieviel Vorsicht Paulus in diesem Stück gewandelt ist, so daß er es nicht einmal in einer einzigen Sache gewagt hat, den anderen „einen Strick um den Hals zu werfen“ (1. Kor. 7,35). Und das nicht ohne Ursache; denn er sah sicherlich voraus, was für eine schwere Verwundung man den Gewissen beibringen würde, wenn man ihnen zwangsweise solche Dinge auferlegen wollte, in denen ihnen der Herr Freiheit gelassen hat. Dagegen kann man kaum die Ordnungen aufzählen, die die Römischen mit höchstem Ernst durch Androhung des ewigen Todes bekräftigt haben und die sie mit äußerster Strenge als zum Heil notwendig fordern. Und darunter sind sehr viele äußerst schwer, alle zusammen aber, wenn man sie auf einen Haufen zusammenbringt, unmöglich zu halten - so groß ist die Masse! Wie soll es also geschehen, daß Menschen, auf denen eine so große, schwere Last ruht, nicht in die schlimmste Angst und Schrecknis verstrickt werden und sich daran zerreiben?
Ich habe also hier die Absicht, mich gegen Satzungen von dieser Art zu wenden, die man dazu gemacht hat, um die Seelen innerlich vor Gott zu binden und ihnen heilige Scheu einzujagen, als ob man Vorschriften über Dinge gäbe, die zum Heil notwendig sind.
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Diese Frage bereitet nun vielen Leuten deshalb große Schwierigkeiten, weil sie zwischen dem „äußeren“ Rechtsbereich - wie man ihn nennt - und dem des Gewissens nicht scharf genug unterscheiden. Zudem wird die Verlegenheit noch dadurch vergrößert, daß wir nach dem Gebot des Paulus der Obrigkeit nicht allein aus Furcht vor der Strafe gehorchen sollen, sondern auch „um des Gewissens willen“ (Röm. 13,1.5). Daraus folgt (so meint man), daß unser Gewissen auch an die bürgerlichen Gesetze gebunden ist. Wenn es sich so verhielte, so würde alles, was wir im vorigen Kapitel) gesagt haben und was wir noch von dem geistlichen Regiment ausführen werden, in sich zusammenfallen.
Um diesen Knoten aufzulösen, ist es zunächst von Nutzen, festzustellen, was eigentlich das Gewissen ist. Die Beschreibung dieses Begriffs entnehmen wir der (sprachlichen) Wurzel des Wortes. Die Menschen erlangen ja durch Verstand und Einsicht eine Erkenntnis der Dinge; man sagt also: sie wissen das und das, und daraus wird dann auch das Wort Wissenschaft abgeleitet. Nun haben sie aber auch ein Empfinden des göttlichen Gerichts, das wie ein Zeuge stets bei ihnen steht, sie ihre Sünde nicht verhehlen läßt, sondern sie als Schuldige vor Gottes Richterstuhl zieht. Dies Empfinden heißt Gewissen (conscientia = Mitwissen!). Es ist also gewissermaßen etwas, das mitten zwischen Gott und dem Menschen steht; denn es läßt nicht zu, daß der Mensch das, was er doch weiß, in sich selbst unterdrückt, sondern es bedrängt ihn so lange, bis er sich schuldig bekennt. - Das meint Paulus mit seiner Lehre, das Gewissen lege zugleich mit dem Menschen Zeugnis ab, und zwar wenn die Gedanken sich untereinander vor Gottes Gericht verklagen oder entschuldigen (Röm. 2,15f.). Die
bloße Erkenntnis könnte im Menschen gewissermaßen verschlossen (und daher unwirksam, verborgen) bleiben. Da ist denn dies Empfinden, das den Menschen vor Gottes Gericht stellt, gleichsam ein ihm bei gegebener Wächter, damit nichts im Finsteren begraben bleibt. Daher auch das alte Sprichwort: das Gewissen ist wie tausend Zeugen. Aus dem gleichen Grunde setzt auch Petrus das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott der Ruhe unseres Herzens gleich, wenn wir in der Gewißheit um die Gnade Christi unerschrocken vor Gott hintreten (1. Petr. 3,21). Auch wenn der Verfasser des Hebräerbriefs davon spricht, daß Menschen „kein Gewissen mehr hätten von den Sünden“ (Hebr. 10,2), so meint er damit: wir sind befreit und losgesprochen, so daß die Sünde uns nicht mehr weiter bedrängt.
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Wie sich also unsere Werke auf die Menschen beziehen, so bezieht sich das Gewissen auf Gott. Ein gutes Gewissen ist also nichts anderes als die innere Lauterkeit des Herzens. In diesem Sinne schreibt Paulus: „Die Hauptsumme des Gesetzes ist Liebe ... von gutem Gewissen und von ungeheucheltem Glauben“ (1. Tim. 1,5). In dem gleichen Kapitel zeigt er etwas nachher, wie sehr das Gewissen von dem bloßen Wissen unterschieden ist: er redet (1. Tim. 1,19) von einigen, „die am Glauben Schiffbruch erlitten haben“, und erklärt, sie hätten das Gewissen „von sich gestoßen“. Mit diesen Worten macht er ja deutlich, daß das Gewissen ein lebendiger Trieb ist, Gott zu dienen, und ein lauteres Streben nach frommem und heiligem Leben.
Zuweilen wird das Gewissen auch auf die Menschen bezogen; so, wenn Paulus bei Lukas bezeugt, er habe sich Mühe gegeben, „zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben, gegen Gott und die Menschen“ (Apg. 24,16). Aber das ist deshalb so gesagt, weil die Früchte des guten Gewissens auch bis zu den Menschen hin strömen und dringen. Im eigentlichen Sinne aber sieht das Gewissen allein auf Gott, wie ich bereits sagte.
So sagen wir auch, ein Gesetz „binde“ das Gewissen, wenn es den Menschen stracks verpflichtet, ohne den Blick auf Menschen und ohne Rücksicht auf sie. Zum Beispiel: Gott hat uns nicht nur geboten, unser Herz keusch und von aller Lust rein zu erhalten, sondern er hat auch alle schandbaren Worte und alle äußere Üppigkeit verboten. Zum Halten dieses Gebots ist mein Gewissen verpflichtet - auch wenn in der Welt kein einziger Mensch leben würde. Wer also in seinem Verhalten zuchtlos ist, der sündigt nicht nur insofern, als er den Brüdern ein schlechtes Vorbild gibt, sondern er hat auch ein schuldverhaftetes Gewissen vor Gott.
Anders ist es aber mit dem bestellt, was an sich ein „Mittelding“ ist. Wir müssen davon abstehen, wenn daraus ein Anstoß erwächst - aber mit freiem Gewissen! In diesem Sinne spricht Paulus von dem Fleisch, das den Götzen geweiht war; er sagt: „Wenn dir aber jemand Bedenken einflößt, so rühre das Fleisch nur ja nicht an, und zwar um des Gewissens willen. Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst, sondern des anderen“ (1. Kor. 10,28f.; Vers 28 summarisch). Der Gläubige würde also sündigen, wenn er trotz vorheriger Warnung solches Fleisch doch äße. Aber wenn er auch nach Gottes Gebot aus Rücksicht auf den Bruder solche Enthaltsamkeit üben muß, so hört er deshalb doch nicht auf, die Freiheit seines Gewissens zu wahren. Wir sehen also, wie ein solches Gesetz das äußere Werk bindet, aber das Gewissen doch frei läßt.
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Jetzt wollen wir wieder auf die menschlichen Gesetze zurückkommen. Wenn sie zu dem Zweck gegeben sind, uns heilige Scheu einzuflößen, als ob ihre Einhaltung an und für sich notwendig sei, dann behaupten wir, daß den Gewissen etwas auferlegt wird, das sich nicht gehört. Denn unser Gewissen hat es eben nicht mit den Menschen, sondern allein mit Gott zu tun. Dahin gehört
auch die gebräuchliche Unterscheidung zwischen dem irdischen Rechtsbereich und dem des Gewissens. Als der ganze Erdkreis in die dichteste Finsternis der Unwissenheit gehüllt war, da blieb doch der kleine Lichtstrahl übrig, daß man erkannt hat, daß das Gewissen der Menschen höher steht als alle menschlichen Urteile. Allerdings hat man das, was man mit einem Wort zugab, nachher tatsächlich wieder umgestoßen, aber Gott hatte doch den Willen, daß selbst damals irgendein Zeugnis der christlichen Freiheit bestand, um die Gewissen von der Tyrannei der Menschen loszumachen.
Aber noch ist jene Schwierigkeit nicht gelöst, die sich aus den Worten des Paulus (Röm. 13,1.5) ergibt. Denn wenn wir den Obrigkeiten nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern „um des Gewissens willen“ gehorchen sollen, so scheint sich daraus zu ergeben, daß die Gesetze der Obrigkeiten auch über das Gewissen herrschen. Ist das aber wahr, so muß man das gleiche auch von den kirchlichen Gesetzen sagen.
Ich antworte, daß man hier zunächst zwischen Allgemeinem und Besonderem unterscheiden muß. Denn obwohl die einzelnen Gesetze das Gewissen nicht berühren, so sind wir doch an Gottes allgemeines Gebot gebunden, das uns die Autorität der Obrigkeit als etwas Wichtiges anbefiehlt. Eben um diesen Angelpunkt dreht sich die Erörterung des Paulus: da die Obrigkeiten von Gott geordnet sind, so sollen wir ihnen Ehre erweisen (Röm. 13,1). Indessen lehrt er durchaus nicht, daß sich die Gesetze, die sie geben, auf die innere Leitung der Seele beziehen; denn er hebt allenthalben sowohl die Verehrung Gottes als auch die geistliche Regel zum gerechten Leben über jegliche Satzungen der Menschen hinaus.
Auch ist hier noch ein Zweites erwähnenswert, das allerdings von dem Obigen abhängt: obwohl die menschlichen Gesetze, ob sie nun von der Obrigkeit oder von der Kirche gegeben werden, notwendig zu halten sind - ich rede von den guten und gerechten Gesetzen -, so binden sie doch das Gewissen nicht an und für sich, und zwar deshalb nicht, weil alle und jede Notwendigkeit, sie zu halten, auf ein allgemeines Ziel gerichtet ist, nicht aber in den Dingen liegt, die da geboten werden.
Weit entfernt von dieser Gruppe sind aber solche Gesetze, die eine neue Form der Verehrung Gottes vorschreiben und einen Zwang mit Bezug auf Dinge aufrichten, die frei sind.
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Eben von dieser Art aber sind die Gesetze, die heutzutage im Papsttum als Kirchensatzungen bezeichnet werden und die man den Leuten als wahren und notwendigen Gottesdienst aufdrängt. Und so unzählbar wie sie sind, so zahllose Fesseln sind sie auch, um die Seelen darin zu fangen und zu verstricken. Wir haben nun freilich manches davon bereits bei der Auslegung des Gesetzes (Buch II, Kapitel 7 und 8) berührt; weil aber diese Stelle für eine gehörige Behandlung der geeignetere Ort war, so will ich mich jetzt bemühen, den ganzen wesentlichen Inhalt in möglichst guter Ordnung zusammenzufassen. Und weil wir von der Tyrannei, die sich die falschen Bischöfe anmaßen, um willkürlich zu lehren, was ihnen paßt, bereits soeben gesprochen haben, soweit es ausreichend zu sein schien, so werde ich diesen ganzen Teil beiseitelassen und mich hier nur mit der Vollmacht zur Gesetzgebung befassen, die sie zu haben behaupten.
Wenn also unsere falschen Bischöfe die Gewissen mit neuen Gesetzen beschweren, so tun sie das unter dem Vorwand, sie seien eben von dem Herrn als geistliche Gesetzgeber eingesetzt, und zwar, weil ihnen die Regierung der Kirche anbefohlen sei. Deshalb behaupten sie, alles, was sie gebieten oder vorschreiben, das
müßte das Christenvolk notwendig innehalten; wer es aber verletze, der sei eines doppelten Ungehorsams schuldig, weil er sich ja gegen Gott und die Kirche auflehne.
Freilich, wenn sie wahre Bischöfe wären, dann würde ich ihnen in diesem Stück wohl einige Autorität zuerkennen - nicht soviel, wie sie für sich verlangen, sondern soviel, wie erforderlich ist, um die Ordnung der Kirche gehörig zu regeln. Nun aber, wo sie nichts weniger sind als das, für das sie gehalten werden wollen, so können sie sich nicht das geringste herausnehmen, ohne damit über das Maß hinauszugehen.
Aber weil wir auch das bereits an anderer Stelle gesehen haben, so wollen wir ihnen für den Augenblick zugeben, daß ihnen alle Vollmacht, die die wahren Bischöfe besitzen, mit Recht zukommt. Trotzdem bestreite ich, daß sie deshalb den Gläubigen als Gesetzgeber aufgelegt wären, die aus sich selbst heraus eine Regel für das Leben vorschreiben oder das ihnen anvertraute Volk zwangsweise an ihre Satzungen binden könnten. Wenn ich das sage, so ist meine Meinung die, daß es ihnen in keiner Weise zusteht, etwas, das sie sich aus sich selbst ohne Gottes Wort ausgedacht haben, der Kirche als Befehl aufzutragen, und zwar so, als ob es sich dabei um etwas (zum Heile) Notwendiges handelte. Da dies Recht den Aposteln unbekannt gewesen und den Dienern der Kirche so oft durch den Mund des Herrn abgesprochen worden ist, so wundere ich mich, wieso sie es doch gewagt haben, es ohne das Beispiel der Apostel und gegen Gottes offenbares Verbot an sich zu reißen, und wieso sie es noch heute zu verteidigen wagen.
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Was zur vollkommenen Regel für ein rechtes Leben gehörte, das hat der Herr voll und ganz in seinem Gesetz zusammengefaßt, und zwar so, daß er den Menschen nichts übriggelassen hat, was sie etwa zu jener Hauptsumme hinzufügen könnten. Und das hat er erstens zu dem Zweck getan, daß er von uns für den alleinigen Meister und Regierer unseres Lebens gehalten werde, weil ja alle Rechtschaffenheit des Wandels darin besteht, daß alle unsere Werke nach seinem Willen wie nach einer Richtschnur ausgerichtet werden. Zum zweiten hat er es getan, um uns zu bezeugen, daß er von uns nichts dringlicher verlangt als Gehorsam. In diesem Sinne sagt Jakobus: „Wer seinen Bruder richtet, der ist nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. Es ist ein einiger Gesetzgeber, der kann selig machen und verdammen“ (Jak. 4,11f.; Vers 11 nicht ganz Luthertext). Da hören wir, daß Gott es sich allein als etwas ihm Eigenes vorbehält, uns durch den Befehl und die Gesetze seines Wortes zu regieren. Das nämliche war zuvor auch von Jesaja gesagt worden, wenn auch etwas dunkler: „Der Herr ist unser König, der Herr ist unser Gesetzgeber, der Herr ist unser Richter, der hilft uns“ (Jes. 33,22; nicht ganz Luthertext). Unzweifelhaft wird an beiden Stellen gezeigt, daß der die Entscheidung über Leben und Tod hat, der das Recht über die Seele besitzt. Ja, Jakobus spricht das klar aus. Dies Recht kann sich nun aber keiner von den Menschen nehmen. Also muß Gott als der einige König der Seelen anerkannt werden, bei dem allein die Gewalt liegt, selig zu machen oder verlorengehen zu lassen, oder, wie jene Worte des Jesaja lauten, als König, Richter, Gesetzgeber und Retter. Deshalb fordert Petrus die Hirten, indem er sie an ihre Pflicht gemahnt, dazu auf, sie sollten die Herde so weiden, daß sie keine Herrschaft über den „Klerus“ übten - ein Begriff, mit dem er das Erbteil Gottes, das heißt das Volk der Gläubigen, bezeichnet (1. Petr. 5,2f.). Wenn wir das recht erwägen, daß es unzulässig ist, etwas auf einen Menschen zu übertragen, was sich Gott ganz allein zueignet, dann werden wir auch begreifen, daß damit alle Vollmacht abgeschnitten ist, die jene Leute beanspruchen, die sich dazu aufwerfen wollen, in der Kirche etwas ohne Gottes Wort zu befehlen.
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Die ganze Angelegenheit hängt also von dem Grundsatz ab: wenn Gott der einige Gesetzgeber ist, so steht es dem Menschen nicht zu, sich diese Ehre herauszunehmen. Ist es aber so, dann muß man zugleich jene beiden oben festgestellten Ursachen im Gedächtnis halten, warum sich denn Gott dieses Recht ganz allein zueignet. Die erste Ursache ist nun die: sein Wille soll für uns die vollkommene Richtschnur aller Gerechtigkeit und Heiligkeit sein, und so soll also in dessen Erkenntnis das vollkommene Wissen um das rechte Leben liegen. Und die zweite Ursache: Er allein soll, wo man nach der Weise fragt, ihn gebührend und rechtschaffen zu verehren, die Befehlsgewalt über unsere Seelen haben, so daß wir also ihm Gehorsam leisten und an seinem Willen hängen sollen.
Wenn wir diese beiden Ursachen ins Auge gefaßt haben, dann werden wir leicht ein Urteil darüber gewinnen, welche Ordnungen von Menschen dem Worte des Herrn zuwiderlaufen. Von dieser Art sind nun alle, von denen man vorgibt, sie gehörten zur wahren Verehrung Gottes, und zu deren Innehaltung die Gewissen gezwungen werden, als ob sie notwendig beobachtet werden müßten. Wir wollen also daran denken, daß auf dieser Waagschale alle menschlichen Gesetze gewogen werden müssen, wenn wir eine sichere Regel haben wollen, die uns niemals abirren läßt.
Unter Berufung auf die erstgenannte Ursache führt Paulus im Briefe an die Kolosser seinen Streit gegen die falschen Apostel, die die Kirchen mit neuen Lasten zu bedrücken trachteten (Kol. 2, S). Die zweite verwendet er mehr im Galaterbrief, und zwar in ähnlicher Sache.
Im Kolosserbrief führt er also folgendes aus: eine Unterweisung über die wahre Verehrung Gottes sollen wir nicht von Menschen begehren, weil uns der Herr getreulich und vollkömmlich darüber belehrt hat, wie er verehrt werden soll. Um dies nachzuweisen, erklärt Paulus im ersten Kapitel (des Briefes), im Evangelium sei alle Weisheit verfaßt, kraft deren der Mensch Gottes in Christus vollkommen gemacht würde (Kol. 1,28). Im Anfang des zweiten Kapitels sagt er, daß in Christus „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3). Von da aus kommt er dann hernach zu dem Ergebnis, die Gläubigen sollten sich in acht nehmen, daß sie nicht durch eitle Weltweisheit „nach der Menschen“ „Satzungen“ von der Herde Christi weggeführt würden (Kol. 2,8). Und am Schluß dieses Kapitels verurteilt er mit noch größerer Freimütigkeit alle „selbsterwählte Geistlichkeit“, das heißt jeglichen ersonnenen Gottesdienst, den sich die Menschen selbst ausdenken oder von anderen übernehmen, dazu auch alle Vorschriften über die Verehrung Gottes, die sie aus sich heraus aufzustellen wagen (Kol. 2,16-23). So ergibt sich also für uns: gottlos sind alle Satzungen, von denen man vorgibt, in ihrer Beobachtung sei der Dienst Gottes gelegen.
Die Stellen aber, an denen Paulus im Galaterbrief darauf dringt, daß man den Gewissen, die doch von Gott allein regiert werden sollen, keinen Strick umlegen darf, sind deutlich genug; sie finden sich vornehmlich im fünften Kapitel des Briefes (Gal. 5,1-12). Es mag daher genügen, sie genannt zu haben.
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Weil aber die ganze Angelegenheit durch Beispiele besser deutlich werden wird, so ist es, bevor wir weitergehen, wohl angebracht, diese Lehre auf unsere Zeiten anzuwenden. Die sogenannten „kirchlichen“ Satzungen, mit denen der Papst samt den Seinen die Kirche beschwert, sind nach unserer Behauptung verderblich und gottlos; unsere Widersacher dagegen erklären, sie seien heilig und heilbringend. Diese Satzungen zerfallen nun allgemein in zwei Gruppen: die einen betreffen nämlich Zeremonien und gottesdienstliche Gebräuche, die anderen beziehen sich mehr auf die (kirchliche) Zucht. Besteht nun also eine gerechte Ursache, die uns bewegen muß, gegen beide anzugehen? Wahrhaftig eine gerechtere, als wir wohl möchten!
Zunächst: erklären die Urheber dieser Satzungen nicht selbst mit deutlichen Worten, daß in ihnen sozusagen der eigentliche Kern der Verehrung Gottes beschlossen liege? Was für einem Zweck sollen denn ihre Zeremonien anders dienen, als daß Gott durch sie verehrt werde? Und zwar geschieht das nicht allein aus dem „Irrtum der unerfahrenen Menge“ heraus, sondern mit Zustimmung derer, die das Lehramt innehaben! Ich befasse mich hier noch nicht mit den groben Abscheulichkeiten, mit denen sie jegliche Frömmigkeit zunichte zu machen unternommen haben - aber sie würden nicht so tun, als ob es ein so grausiges Verbrechen wäre, sich gegen irgendein noch so geringfügiges Gesetzlein vergangen zu haben, wenn sie eben nicht die Verehrung Gottes ihren Hirngespinsten unterordneten! Paulus hat doch gelehrt, es sei nicht tragbar, daß man die rechtmäßige Art und Weise der Verehrung Gottes dem Gutdünken der Menschen unterwerfe. Was für eine Sünde soll aber dann darin liegen, wenn wir heutzutage das, was er für untragbar erklärt hat, tatsächlich nicht ertragen können? Vor allem gar dann, wenn diese Leute gebieten, man solle Gott nach den „Elementen“ (Luther: „Satzungen“) dieser Welt verehren, während doch Paulus bezeugt, daß dies Christus zuwider ist (Kol. 2,20)! Auf der anderen Seite ist sehr wohl bekannt, mit welch scharfem Zwang sie die Gewissen daran binden, alles zu halten, was sie gebieten. Wenn wir hier Einspruch erheben, so haben wir gemeinsame Sache mit Paulus, der es auf keinerlei Weise duldet, daß die gläubigen Gewissen unter die Knechtschaft der Menschen gebracht werden (Gal. 5,1).
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Dazu kommt dann noch das Allerschlimmste: hat man einmal angefangen, die Religion durch dergleichen eitle Hirngespinste bestimmt sein zu lassen, so ergibt sich aus dieser Verkehrtheit sogleich auch die andere entsetzliche Verzerrung, die Christus den Pharisäern vorgeworfen hat, nämlich daß Gottes Gebot um der Satzungen der Menschen willen seine Geltung einbüßt (Matth. 15,3). Ich will gegen unsere gegenwärtigen Gesetzgeber nicht mit meinen eigenen Worten streiten - sie sollen wahrhaftig gewonnen haben, wenn sie es auf irgendeine Weise fertigbringen, sich von dieser Anklage Christi zu reinigen! Aber wie sollten sie sich zu entschuldigen vermögen? Bei ihnen gilt es doch als eine unendlich größere Sünde, wenn einer am Ende des Jahres die Ohrenbeichte unterlassen, als wenn er das ganze Jahr hindurch den schandbarsten Lebenswandel geführt hat! Sie halten es doch für unvergleichlich frevelhafter, wenn man am Freitag die Zunge mit einem geringen Geschmäcklein von Fleisch hat in Berührung kommen lassen, als wenn man den ganzen Leib alle Tage lang mit Hurerei verunreinigt hat! Es gilt bei ihnen als ganz wesentlich schlimmer, wenn man an einem Tage, der wer weiß welchem unbedeutenden Heiligen geweiht ist, die Hand an ein ehrliches Stück Arbeit gelegt hat, als wenn man immerfort alle Glieder mit den übelsten Bubenstücken beschäftigt gehalten! Wenn ein Priester durch eine rechtmäßige Ehe gebunden wird, so halten sie das für viel, viel „sündhafter“, als wenn er sich in tausendfältigen Ehebruch
verstrickt! Wenn man eine zugesagte Wallfahrt nicht vollbracht hat, so soll das unendlich schlimmer sein, als wenn man bei allen Versprechungen das gegebene Wort bricht! Wenn man für den verschwenderischen und ebenso überflüssigen wie nutzlosen Prunk der Kirchengebäude kein Geld vergeudet hat, so gilt das als ungleich größere „Sünde“, als wenn man die Armen in ihrer allerschlimmsten Not im Stich gelassen hat. Viel, viel frevelhafter soll es sein, wenn man an einem Götzenbild ohne Ehrenbezeigung vorbeigegangen ist, als wenn man jegliche Art von Menschen schmählich behandelt hat! Unendlich schlimmer soll es sein, wenn man zu bestimmten Stunden nicht langatmige Worte ohne Sinn und Verstand dahergemurmelt hat, als wenn man in seinem Herzen niemals ein rechtes Gebet gesprochen! Wenn das nicht heißt, Gottes Gebote um der eigenen „Aufsätze“ willen ungültig machen (Matth. 15,3) - was dann? Wo sie doch die Beobachtung der Gebote Gottes bloß kühl und nur, um der Pflicht zu genügen, den Leuten anbefehlen - nichtsdestoweniger aber auf den strengen Gehorsam gegenüber ihren eigenen Satzungen mit Eifer und ängstlichem Nachdruck dringen, als ob diese alle Kraft der Frömmigkeit in sich beschlössen. Wo sie die Übertretung des göttlichen Gesetzes bloß mit geringfügigen Strafgenugtuungen ahnden, selbst den mindesten Verstoß gegen ein einziges ihrer eigenen Dekrete dagegen mit keiner leichteren Strafe rächen als mit Kerker, Verbannung, Feuer und Schwert! Wer Gott verachtet - gegen den sind sie nicht so streng und unerbittlich; wer aber sie verachtet, den verfolgen sie mit unversöhnlichem Haß bis zum äußersten. Und alle, deren Einfältigkeit sie gefangenhalten, unterweisen sie derart, daß sie es mit mehr Gleichmut ansehen würden, wenn Gottes gesamtes Gesetz umgestoßen, als wenn ein Tüttelchen an den Geboten - wie sie sagen: - der „Kirche“ verletzt würde. Zunächst liegt schon ein schweres Vergehen darin, daß man sich um ganz geringer und, wenn man bei Gottes Urteil stehenbleibt, freigelassener Dinge willen gegenseitig verachtet, verurteilt und verwirft. Als ob das nun aber noch nicht übel genug wäre, so legt man jetzt jenen „wertlosen Elementen dieser Welt“, wie sie Paulus im Galaterbrief nennt (Gal. 4,9; Luther: „Satzungen“), mehr Gewicht bei als den himmlischen Offenbarungsworten Gottes. Und so kommt es dazu: wer im Ehebruch beinahe freigesprochen wird, der wird über Essen und Trinken verurteilt, wem die Hure verstattet wird, dem versagt man ein Eheweib! Soweit bringt man es nämlich mit jenem pflichtvergessenen „Gehorsam“, der von Gott je mehr abweicht, je mehr er sich den Menschen zuwendet.
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Es gibt noch zwei weitere, nicht geringe Mängel, die wir an diesen Satzungen mißbilligen. Erstens, daß sie zu einem großen Teil nutzlose, zuweilen auch närrische Verhaltungsweisen vorschreiben, und zweitens, daß durch ihre unermeßliche Menge die frommen Gewissen bedrückt werden und nun in eine gewisse Art von Judentum zurückgefallen, dermaßen an Schatten hängen, daß sie nicht zu Christus kommen können.
(1.) Daß ich diese Satzungen „närrisch“ und „nutzlos“ nenne, das wird, so weiß ich wohl, der Klugheit des Fleisches nicht einleuchten, die vielmehr solches Gefallen daran findet, daß man der Meinung ist, die Kirche würde ganz und gar verunstaltet, wenn man sie abschaffte. Aber das ist es eben, was Paulus schreibt: sie „haben einen Schein der Weisheit durch selbsterwählte Geistlichkeit und Demut“ und dadurch, daß sie durch ihre Härte zur Zähmung des Fleisches imstande zu sein scheinen (Kol. 2,23). Wahrhaftig eine sehr heilsame Mahnung, die uns nie aus dem Sinn kommen darf! Die menschlichen Satzungen, so sagt also Paulus, betrügen unter dem Schein der Weisheit. Woher haben sie denn diese Deckfarbe? Ja, eben daher, daß sie von Menschen ersonnen sind! Die menschliche Vernunft erkennt in ihnen ihr eigenes Werk wieder, und was sie dergestalt wiedererkannt hat, das nimmt sie bereitwilliger an
als alles, was ihrer Eitelkeit weniger entsprechen möchte, und sei es auch das allerbeste. Und dann scheinen diese Satzungen auch geeignete Übungen zur Demut zu sein, weil sie den Verstand der Menschen unter ihrem Joch zu Boden gedrückt halten - und das ist dann das zweite, das ihnen Empfehlung verschafft! Endlich hat es den Anschein, als ob sie den Zweck hätten, die Lüste des Fleisches in Schranken zu halten und das Fleisch durch die Härte der (von ihnen geforderten) Enthaltsamkeit zu unterjochen, und deshalb scheinen sie verständig ausgedacht zu sein. Was sagt nun aber Paulus zu alledem? Reißt er den Satzungen etwa jene Masken herunter, damit schlichte Leute nicht durch solchen falschen Vorwand betrogen werden? Nein, er ist der Überzeugung, daß zur Ablehnung seine Erklärung genügt, diese Satzungen seien von Menschen ausgeklügelt (Kol. 2,22), und deshalb übergeht er das alles, als ob er es für nichts achtete, ohne Widerlegung. Ja, weil er wußte, daß in der Kirche jeglicher ersonnene Gottesdienst verdammt und den Gläubigen um so mehr verdächtig ist, je mehr er der menschlichen Vernunft behagt, weil er wußte, daß jenes falsche Bild äußerlicher Demut so wenig mit wahrer Demut zu schaffen hat, daß sie leicht voneinander zu unterscheiden sind, und da er endlich wußte, daß jene (durch die „Satzungen“ bewirkte) Erziehung nicht höher zu achten ist als eine leibliche Übung, so hatte er den Willen, daß eben das, um des willen die menschlichen Satzungen bei einfältigen Leuten angepriesen werden, für die Gläubigen zu deren Widerlegung dienen soll.
IV,10,12
So wird heutzutage von dem Schaubild der Zeremonien nicht nur das ungelehrte Volk wundersam gefangengenommen, sondern auch sonst jedermann, so sehr er auch von der Weltklugheit aufgeblasen sein mag. Heuchler aber und närrische Weiblein sind der Meinung, Köstlicheres und Besseres ließe sich nichts erdenken. Wer dagegen tiefer nachforscht und wahrheitsgemäßer nach der Regel der Frömmigkeit erwägt, was eigentlich die Zeremonien in solcher Anzahl und Gestalt für einen Wert haben, der wird verstehen, daß sie erstens lauter Possenzeug sind, weil sie ja keinerlei Nutzen haben, und zweitens Gaukeleien, weil sie die Augen der Zuschauer mit eitlem Prunk betrügen. Ich rede von solchen Zeremonien, unter denen nach der Meinung der römischen Lehrmeister große Geheimnisse verborgen liegen, die aber nach unserer Erfahrung nichts anderes sind als lauter Spott und Hohn. Es ist auch kein Wunder, daß die Urheber dieser Zeremonien darauf verfallen sind, sich selbst wie auch andere mit wertlosen Albernheiten zu Narren zu halten; denn sie haben sich teils an den Phantastereien der Heiden ein Beispiel genommen, teils haben sie wie die Affen ohne Besinnung die alten Gebräuche des mosaischen Gesetzes nachgeahmt, die mit uns ebensowenig zu tun hatten wie Tieropfer und anderes dergleichen. Wahrhaftig, selbst wenn es sonst kein Beweisstück mehr gäbe, so würde doch niemand, der bei gesunden Sinnen ist, von solch einem schlecht zusammengerührten Gemisch irgend etwas Gutes erwarten. Auch führen es einem die Tatsachen selbst klar vor Augen, daß sehr viele Zeremonien keine andere Verwendung haben, als das Volk zu verblüffen, statt es zu unterweisen. So legen die Heuchler auch diesen neueren Rechtssatzungen, die doch die kirchliche Zucht mehr verkehren als erhalten, großes Gewicht bei; wenn sie aber jemand genauer bei Licht besieht, so wird er finden, daß sie nichts sind als ein schattenhaftes, flüchtiges Trugbild von Zucht!
IV,10,13
(2.) Und dann, um auf das Zweite einzugehen, wer sieht denn nicht, daß die Satzungen dadurch, daß man eine auf die andere gehäuft hat, dermaßen überhandgenommen haben, daß sie für die christliche Kirche auf keinerlei Weise mehr zu ertragen sind? Von hier aus ist es dazu gekommen, daß in den Zeremonien wer weiß was für ein Judentum in die Erscheinung tritt und manche Verhaltungsmaßregeln für fromme Gemüter eine schlimme Quälerei mit sich bringen. Augustin beklagte es, daß (schon) zu seiner Zeit unter Beiseitelassen der Gebote Gottes alles
von soviel Halsstarrigkeit erfüllt war, daß einer, der im Laufe seiner Taufwoche die Erde mit dem nackten Fuße berührt hatte, schärfer gestraft wurde als jemand, der seinen Verstand mit Trunkenheit ersäuft hatte. Er klagte, daß die Kirche, die doch nach dem Willen der Barmherzigkeit Gottes frei sein sollte, dermaßen bedrücke würde, daß die Lage der Juden erträglicher gewesen wäre (Brief 55, an Januarius). Mit was für Klagen würde wohl dieser heilige Mann, wenn er zu unseren Zeiten lebte, die Knechtschaft beweinen, die heutzutage besteht? Denn die Zahl der Satzungen ist heute zehnmal größer, und jedes einzelne Pünktchen wird hundertmal schärfer verlangt als dazumal. So pflegt es zu gehen: wo einmal diese verdrehten Gesetzgeber die Herrschaft gewonnen haben, da machen sie mit Gebieten und Verbieten kein Ende, bis sie es zur äußersten Eigensinnigkeit gebracht haben. Das hat Paulus trefflich angekündigt, wenn er sagt: „So ihr denn nun abgestorben seid ... der Welt, was lasset ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebtet ihr noch ... ? Du sollst ... das nicht essen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren“ (Kol. 2,20f.; nicht ganz Luthertext). Denn das Wort haptesthai bedeutet sowohl „essen“ (wie Calvin übersetzt), als auch „angreifen“ (wie Luther übersetzt), und es wird also hier ohne Zweifel in der ersten Bedeutung gebraucht, damit keine überflüssige Wiederholung eintritt (das letzte Wort heißt „anrühren“!) Hier beschreibe er also sehr fein das Vorgehen der falschen Apostel. Den Anfang machen sie mit dem Aberglauben, indem sie nicht nur verbieten zu „essen“, sondern auch ein wenig zu versuchen. Haben sie das erreicht, so verbieten sie gleich auch das „Kosten“. Nachdem ihnen dann auch dies zugestanden ist, behaupten sie, es sei nicht zulässig, die Speise auch nur mit dem Finger „anzurühren“.
IV,10,14
Mit gutem Recht tadeln wir heute an den Menschensatzungen diese Tyrannei, durch die es dazu gekommen ist, daß die armen Gewissen durch unzählige Gebote und durch deren übertriebene Durchsetzung furchtbar gequält werden. Von den Rechtssatzungen, die sich auf die Kirchenzucht beziehen, war bereits an anderer Stelle dir Rede. Was soll ich von den Zeremonien sagen, mit denen man es fertiggebracht hat, daß Christus halb begraben worden ist und wir nun wieder zu den jüdischen Abbildern zurückgekehrt sind? „Christus, unser Herr“, sagt Augustin, „hat die Gemeinschaft des Neuen Volkes durch Sakramente geknüpft, die der Zahl nach sehr wenige, der Bedeutung nach ganz herrlich und sehr leicht einzuhalten sind“ (Brief 54, an Januarius). Wie weit die Vielzahl und Mannigfaltigkeit der Gebräuche, in die wir heutzutage die Kirche verstrickt sehen, von dieser Einfachheit entfernt ist, das läßt sich nicht genugsam aussagen.
Ich weiß wohl, mit was für einem Kunstgriff manche spitzfindige Leute diese Verkehrtheit beschönigen. Sie behaupten, unter uns gäbe es sehr viele Leute, die ebenso unkundig wären, wie es damals im Volke Israel der Fall gewesen sei; diese Kinderzucht sei nun um solcher Leute willen eingerichtet, und die Stärkeren, die sie wohl entbehren konnten, dürften sie doch nicht vernachlässigen, weil sie doch sähen, daß sie für die schwachen Brüder von Nutzen sei! Ich entgegne: wir wissen sehr wohl, was man der Schwachheit der Brüder schuldig ist, aber wir behaupten auf der anderen Seite, daß den Schwachen nicht auf die Weise gedient wird, daß man sie unter großen Haufen von Zeremonien verschüttet. Nicht umsonst hat Gott zwischen uns und dem Volke des Alten Bundes den Unterschied festgelegt, daß er dies in kindlicher Weise unter Zeichen und Abbildern hat erziehen wollen, uns dagegen einfacher, ohne eine so große äußere Zurüstung. Wie ein Kind, so sagt Paulus, von dem Zuchtmeister je nach der seinem Alter entsprechenden Fassungskraft regiert und in Bewahrung gehalten wird, so sind auch die Juden unter dem Gesetz bewahrt worden (Gal. 4,1-3). Wir dagegen sind Erwachsenen ähnlich, die, von Vormundschaft und fremder Pflege befreit, die kindlichen Anfangsgründe nicht mehr nötig haben. Der Herr sah sicherlich voraus, welcher Art das
Volk sein würde, das in seiner Kirche lebte, und auf welche Weise es regiert werden müßte. Trotzdem hat er in der eben ausgeführten Weise zwischen uns und den Juden einen Unterschied gemacht. Es ist also ein törichtes Vorgehen, wenn wir für die Unerfahrenen sorgen wollen, indem wir das Judentum wiederaufrichten, das doch Christus abgetan hat. Diese Ungleichartigkeit, die zwischen dem alten und dem neuen Volke (Gottes) besteht, hat Christus auch mit seinen eigenen Worten aufgezeigt, indem er zu dem samaritischen Weibe sagte, die Zeit sei gekommen, wo die „wahrhaftigen Anbeter“ „im Geist und in der Wahrheit“ Gott anbeteten (Joh. 4,23). Das war gewiß allezeit geschehen; aber die neuen „Anbeter“ unterscheiden sich darin von den alten, daß die geistliche Anbetung Gottes unter Mose mit vielen Zeremonien umschattet und gewissermaßen in sie eingewickelt war, während diese jetzt abgetan sind und Gott schlichter angebetet wird. Wer also diese Ungleichartigkeit verwischt, der stürzt die Ordnung um, die Christus eingesetzt und bekräftigt hat.
Soll man nun also, so wird man fragen, den unkundigeren Leuten keinerlei Zeremonien geben, um ihrer Unerfahrenheit zu Hilfe zu kommen? Das behaupte ich nicht; denn ich bin der Meinung, daß ihnen eine solche Art von Hilfeleistung allgemein von Nutzen ist. Ich kämpfe hier nur darum, daß man dabei in einer Weise verfahre, die Christus in helles Licht stellt, nicht aber ihn verdunkelt. Uns sind von Gott wenige und sehr leicht auszuübende Zeremonien gegeben, und zwar dazu, daß sie uns auf den gegenwärtigen Christus weisen. Den Juden dagegen waren mehr gegeben: sie sollten eben Abbilder des nicht Gegenwärtigen (Christus) sein! Daß ich von Christus sage, er sei bei den Juden „nicht gegenwärtig“ gewesen, das bezieht sich nicht auf seine Kraft, sondern auf die Art und Weise, wie er sich darstellte. Damit nun also Maß gehalten wird, ist es erforderlich, daß in der Zahl der Zeremonien jene enge Begrenztheit, in ihrer Übung jene leichte Ausführbarkeit und in ihrer Bedeutung jene Würde gewahrt bleibt, die zugleich in der Klarheit besteht. Daß dies tatsächlich nicht geschehen ist – wozu soll man das noch aussprechen? Es steht ja jedermann vor Augen!
IV,10,15
Ich übergehe hier, mit was für verderblichen Meinungen die Sinne der Menschen erfüllt werden, (wenn man ihnen z.B. beibringt), die Zeremonien seien Opfer, mit denen man Gott einen rechten Dienst darbrächte, kraft deren die Sünden sühnend getilgt würden und der Mensch Gerechtigkeit und Heil erlangte. Gewiß werden unsere Widersacher bestreiten, daß gute Dinge durch dergleichen von außen hinzukommende Irrtümer verdorben werden könnten; man könnte, so werden sie sagen, auch bei den von Gott gebotenen Werken in diesem Stück nicht weniger in Sünde verfallen. Trotzdem ist es doch noch empörender, daß man Werken, die man aufs Geratewohl nach menschlichem Gutdünken ersonnen hat, soviel Ehre zuerkennt, daß man glaubt, sich damit das ewige Leben verdienen zu können. Denn die von Gott befohlenen Werke empfangen deshalb eine Belohnung, weil der Gesetzgeber selbst im Blick auf den (in ihnen zutage tretenden) Gehorsam Wohlgefallen an ihnen hat. Sie empfangen ihren Wert also nicht aus eigener Würdigkeit oder eigenem Verdienst, sondern vielmehr daraus, daß Gott unseren Gehorsam ihm gegenüber so hoch achtet. Ich rede hier von der Vollkommenheit der Werke, die von Gott geboten, nicht von der, die vom Menschen geleistet wird. Auch die Werke des Gesetzes, die wir tun, haben nämlich allein aus Gottes unverdienter Freundlichkeit etwas Wohlgefälliges an sich, und zwar deshalb, weil der in ihnen liegende Gehorsam schwach und stückweise ist. Aber weil es hier nicht um eine Erörterung darüber geht, was die Werke ohne Christus für eine Bedeutung haben, so wollen wir diese Frage beiseitelassen. Da-
gegen wiederhole ich das, was zu der hier in Frage stehenden Erörterung gehört, noch einmal: alles, was die Werke an empfehlender Wirkung besitzen, das haben sie mit Rücksicht auf den Gehorsam, den Gott allein in Betracht zieht. Das bezeugt er durch den Propheten, wenn er spricht: „Ich habe keine Weisungen gegeben über Brandopfer und andere Opfer, sondern ich habe euch allein geboten, daß ihr meiner Stimme gehorcht“ (Jer. 7,22f.; summarisch), von den selbsterdachten Werken aber sagt er an anderer Stelle: „Ihr zählet Geld dar, aber nicht für Brot“ (Jes. 55,2; ungenau), oder ebenso: „Vergebens ehren sie mich nach Menschengeboten“ (Jes. 29,13; Matth. 15,9; ungenau). Unsere Widersacher werden es also auf keinerlei Weise beschönigen können, daß sie es dulden, wie das arme Volk in solchem äußerlichen Possenzeug die Gerechtigkeit sucht, um sie Gott entgegenzuhalten und um damit vor dem himmlischen Richterstuhl zu bestehen.
Außerdem: ist das nicht ein Fehler, der Spott und Hohn verdiente, daß man den Leuten unverstandene Zeremonien gleich einer Schaubühnenvorstellung oder einer Zauberbeschwörung vor Augen führt? Denn es ist doch gewiß, daß alle Zeremonien verderbt und schädlich sind, wenn die Menschen dadurch nicht zu Christus geführt werden. Die Zeremonien aber, die unter dem Papsttum im Gebrauch sind, die werden von der Lehre getrennt, so daß sie die Menschen bei Zeichen festhalten, die jeglicher Bedeutung entbehren.
Und schließlich: der Bauch ist ein erfindungsreicher Kunstmeister, und es liegt auf der Hand, daß viele Zeremonien von habgierigen Priestern erfunden worden sind, sie sollen eben Netze sein, mit denen man Geld fangen will! Diese Zeremonien mögen ihren Ursprung haben, wo sie wollen, so sind sie jedenfalls alle dermaßen an schnöden Gelderwerb preisgegeben, daß es not tut, einen guten Teil von ihnen abzuschaffen, wenn wir dafür sorgen wollen, daß in der Kirche kein unheiliger, heiligtumsschänderischer Schacher getrieben wird.
IV,10,16
Es mag vielleicht so scheinen, als ob ich hier keine dauernd gültige Lehre von den menschlichen Satzungen vortrüge, weil ja diese Ausführungen ganz und gar auf unsere Zeit zugeschnitten sind. Tatsächlich aber ist nichts gesagt worden, was nicht für alle Zeiten von Nutzen sein wird. Denn jedesmal, wenn der Aberglaube aufkommt, daß die Menschen Gott mit ihren eigenen Hirngespinsten verehren wollen, da entarten auch alle Gesetze, die man zu diesem Zweck erläßt, sogleich zu solchen groben Mißbräuchen. Denn wenn Gott droht, er wolle die, die ihn nach Menschenlehren verehren, mit Blindheit und Abstumpfung schlagen (Jes. 29,13f.), so kündigt er diesen Fluch nicht der einen oder anderen Zeit, sondern allen Jahrhunderten an. Diese Verblendung hat fort und fort zur Folge, daß die Menschen, die soviel Warnungen Gottes beiseitegeschoben haben und sich aus freien Stücken in diese verderblichen Stricke verfangen, keinerlei Widersinn mehr scheuen. Wenn man nun unter Beiseitelassen aller (derzeitigen) Umstände wissen will, welches zu allen Zeiten die menschlichen Satzungen sind, die von der Kirche verworfen und von allen Frommen abgelehnt werden müssen, dann soll dazu die oben bereits aufgestellte, sichere und klare Begriffsbestimmung dienen: Solche menschlichen Satzungen sind sämtliche Gesetze, die die Menschen ohne Gottes Wort zu dem Zweck erlassen haben, entweder eine Art und Weise der Verehrung Gottes vorzuschreiben oder die Gewissen durch heilige Scheu zu binden, als ob sich die gegebenen Vorschriften auf heilsnotwendige Dinge bezögen. Wenn dann zu einem von diesen beiden oder zu beiden noch andere Fehler kommen, nämlich daß diese Satzungen durch ihre Menge die Klarheit des Evangeliums verdunkeln, daß sie nichts aufbauen, sondern eher nutzlose und spielerische Beschäftigungen sind als wahrhafte Übungen der Frömmigkeit, daß sie der Habsucht und schnödem Gewinn dienen, daß sie viel zu schwer innezuhalten, daß sie mit üblem Aberglauben besudelt sind - wenn
also dergleichen Fehler hinzukommen, so werden sie uns dazu behilflich sein, daß wir um so leichter merken, wieviel Verkehrtes in diesen Satzungen liegt.
IV,10,17
Ich höre nun wohl, was unsere Widersacher zu ihrer Verteidigung entgegnen: sie sagen, ihre Satzungen stammten gar nicht von ihnen selbst, sondern von Gott. Denn die Kirche werde ja, damit sie nicht irren könne, vom Heiligen Geiste regiert; seine Autorität aber liege nun bei ihr. Haben sie das durchgesetzt, dann wird daraus gleich die Folgerung gezogen, ihre Satzungen seien Offenbarungen des Heiligen Geistes, die man nur aus Gottlosigkeit und unter Verachtung Gottes geringschätzen könnte. Und damit sie nicht den Eindruck erwecken, als ob sie etwas ohne gewichtige Gewährsmänner unternähmen, so wollen sie, daß man ihnen glaubt, ein wesentlicher Teil ihrer Satzungen sei von den Aposteln ausgegangen. Sie behaupten, es werde bereits durch ein einziges Beispiel genugsam dargetan, wie die Apostel in anderen Fällen gehandelt hätten, nämlich durch jenen Vorgang damals, als sie, zu einem Konzil versammelt, auf Beschluß dieses Konzils allen Heiden die Botschaft zukommen ließen, sie sollten „sich enthalten vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten ...” (Apg. 15,20.29).
Wir haben nun schon an anderer Stelle dargelegt, wie unberechtigt sie für sich den Titel „Kirche“ erlügen, um sich damit zu rühmen. Was nun aber die jetzt zur Verhandlung stehende Sache betrifft: wenn wir alle Masken und Scheinfarben wegreißen und wahrhaft auf das achten, dem in erster Linie unsere Sorge gelten muß und das uns auch am allermeisten angeht, wenn wir nämlich darauf achten, was für eine Kirche Christus haben will, damit wir uns nach seiner Regel richten und verhalten, so werden wir leicht zu der festen Überzeugung kommen: das ist nicht die Kirche, die unter Außerachtlassung aller Grenzen des Wortes Gottes in Übermut und Willkür neue Gesetze aufstellt! Der Kirche ist doch einmal das Gesetz gegeben worden: „Alles, was ich dir gebiete, das sollst du halten, daß du darnach tust. Du sollst nichts dazutun noch davontun“ (Deut. 13,1; eigentlich alles in der Mehrzahl) - und bleibt dies Gesetz nicht ewig bestehen? An anderer Stelle heißt es: „Tue zu dem Wort des Herrn nichts hinzu und tue nichts davon, auf daß er dich nicht strafe und du werdest lügenhaft erfunden“ (Spr. 30,6; Anfang ungenau). Da nun unsere Widersacher nicht leugnen können, daß dies Wort der Kirche gesagt ist, was behaupten sie dann anders als die Widerspenstigkeit der Kirche, wenn sie rühmen, sie habe es nach derartigen Verboten nichtsdestoweniger gewagt, der Unterweisung Gottes aus dem Ihrigen heraus etwas zuzufügen oder beizumischen. Es sei aber ferne, daß wir zu ihren Lügen, mit denen sie der Kirche solche Schmach antun, unsererseits Ja sagten; nein, wir sollen erkennen, daß der Name „Kirche“ fälschlich vorgewendet wird, so oft man sich (verteidigend) um diese Willkür der menschlichen Vermessenheit bemüht, die sich nicht innerhalb der Gebote Gottes halten kann, sondern frech losspringt und ihren eigenen Erfindungen zueilt. An den (obigen) Worten, in denen der gesamten Kirche verboten wird, zu Gottes Wort, wenn es sich um die Verehrung des Herrn und seine heilsamen Weisungen handelt, etwas zuzufügen oder etwas davonzutun, ist nichts verhüllt, nichts dunkel, nichts zweideutig.
Ja, wird man sagen, aber das ist nur vom Gesetz gesagt, und diesem sind doch die Worte der Propheten und die ganze Austeilung des Evangeliums gefolgt! Das gebe ich freilich zu, und ich füge gleich noch an: Prophetenworte und Evangelium sind vielmehr Erfüllung des Gesetzes als etwa Zusatz oder Verkürzung. Wenn nun aber der Herr, obwohl der Dienst des Mose unter sehr vielen Hüllen sozusagen im Dunkeln lag, trotzdem nicht duldet, daß etwas dazugetan oder davon weggenommen wird, bis er durch seine Knechte, die Propheten, und schließlich durch seinen geliebten Sohn eine deutlichere Unterweisung ausgehen läßt - warum sollen wir
dann nicht dafür halten, daß es uns noch viel schärfer untersagt ist, zum Gesetz, zu den Propheten, zu den Psalmen und zum Evangelium noch etwas hinzuzufügen? Der Herr, der schon längst erklärt hat, daß er durch nichts so sehr beleidigt wird, als wenn man ihn nach Menschenfündlein verehrt, er ist sich selbst nicht untreu geworden. Daher auch jene herrlichen Worte bei den Propheten, die uns immerfort in den Ohren klingen sollten. So: „Ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte, weder gesagt noch geboten von Brandopfern und anderen Opfern; sondern dies gebot ich ihnen und sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein; und wandelt auf allen Wegen, die ich euch gebiete ...” (Jer. 7,22f.). Oder ebenso: „Ich habe euren Vätern stets bezeugt und gesagt: Gehorchet meiner Stimme!“ (Jer. 11,7; nicht ganz Luthertext). Dazu kommen andere Worte gleicher Art; herrlich vor anderen aber ist dies: „Meinst du, daß der Herr Lust habe am Brandopfer und Opfer und nicht vielmehr daran, daß man seiner Stimme gehorche? Siehe, Gehorsam ist besser denn Opfer und Aufmerken besser denn das Fett von Widdern. Denn Ungehorsam ist eine Zaubereisünde, und Widerstreben ist Abgötterei ...” (1. Sam. 15,22f.; nicht ganz Luthertext). Wenn man also irgendwelche Menschenfündlein in diesem Stück mit der Autorität der „Kirche“ verteidigt, so läßt sich sofort beweisen, daß sie der Kirche zu Unrecht beigemessen werden, weil sie ja von der Sünde der Gottlosigkeit nicht freizusprechen sind.
IV,10,18
Aus diesem Grunde gehen wir auf diese Tyrannei menschlicher Satzungen, die uns unter dem Namen der „Kirche“ hochfahrend aufgedrungen wird, unbefangen vor. Denn es ist nicht so, wie unsere Widersacher es unbillig erlügen, um uns verhaßt zu machen: wir treiben nicht etwa mit der Kirche Spott, sondern wir zollen ihr das Lob des Gehorsams - und ein größeres Lob kennt sie nicht! vielmehr tun unsere Widersacher der Kirche bitteres Unrecht; denn sie stellen sie als widerspenstig gegen ihren Herrn dar, indem sie so tun, als ob sie weiter gegangen wäre, als es ihr durch des Herrn Wort erlaubt war. Ich will noch davon schweigen, was für eine augenfällige Unverschämtheit, verknüpft mit einer ebensolchen Niederträchtigkeit, es ist, wenn man immerfort von der „Gewalt der Kirche“ ein großes Geschrei macht, unterdessen aber davon schweigt, was der Kirche von dem Herrn aufgetragen und welchen Gehorsam sie der Weisung des Herrn schuldig ist. Wenn wir aber, wie es billig ist, den Willen haben, mit der Kirche in Eintracht zu leben, dann gehört dazu vielmehr dies, daß wir darauf sehen und uns daran erinnern, was uns und der Kirche von dem Herrn vorgeschrieben wird, damit wir ihm in einer Eintracht gehorchen! Denn es steht außer Zweifel, daß wir mit der Kirche aufs beste in Eintracht leben werden, wenn wir uns dem Herrn in allen Dingen gehorsam erweisen.
Wenn unsere Widersacher nun aber den Ursprung der Satzungen, von denen die Kirche bislang unterdrückt worden ist, auf die Apostel zurückführen, so ist das eitel Betrug. Denn die ganze Lehre der Apostel geht darauf aus, daß die Gewissen nicht mit neuen Aufsätzen beschwert werden und die Verehrung Gottes nicht durch unsere Fündlein besudelt wird. Zudem: wenn man den Geschichtsbüchern und den alten Urkunden einige Glaubwürdigkeit beimessen muß, so ist den Aposteln das, was unsere Widersacher ihnen beilegen, nicht nur unbekannt, sondern unerhört gewesen.
Die Papisten sollen auch nicht schwatzen, sehr viele Lehren der Apostel seien eben durch Übung und Gewohnheit zur Annahme gelangt, während sie schriftlich nicht überliefert wären; das seien nämlich jene, die sie, als Christus noch lebte, noch nicht zu begreifen vermocht, nach seiner Himmelfahrt aber durch Offenbarung des Heiligen Geistes gelernt hätten, von der Auslegung der hier herangezogenen Stelle (Joh. 16,12f.) haben wir bereits anderwärts gesprochen (Kap. 8, Sektion 8 und 13). Für die jetzt zur Erörterung stehende Sache genügt dies:
unsere Widersacher machen sich ja wahrhaftig selber lächerlich, indem sie aus jenen gewaltigen Geheimnissen, die den Aposteln so lange Zeit hindurch unbekannt gewesen sein sollen, teils jüdische oder heidnische Gebräuche machen - wo doch die einen bei den Juden, die anderen bei den Heiden schon lange vorher bekanntgemacht waren -, teils auch närrische Gebärden und sinnlose Zeremonien, die alberne Priester, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, durchaus nach allen Regeln der Kunst zu üben vermögen, ja, die gar Kinder und Narren so geschickt nachmachen, daß man den Eindruck gewinnen könnte, es gäbe gar keine geeigneteren Meister zu solchen heiligen Handlungen! Selbst wenn es keine Geschichtsbücher gäbe, so würden verständige Leute doch aus den Tatsachen selbst heraus zu dem Urteil gelangen, daß ein so großer Haufen von Zeremonien und Gebräuchen nicht auf einmal in der Kirche eingerissen ist, sondern sich nach und nach eingeschlichen hat. Denn nachdem die heiligeren Bischöfe, die den Aposteln der Zeit nach am nächsten standen, bereits einige Einrichtungen getroffen hatten, die sich auf Ordnung und Zucht bezogen, sind dann hernach, einer nach dem anderen, Leute gefolgt, die nicht besonnen genug, dazu auch gar zu vorwitzig und leidenschaftlich waren, und die haben nun, je später sie auftraten, in um so törichterer Eifersucht mit ihren (jeweiligen) Vorgängern gewetteifert, um ihnen nur ja nicht in der Ausklügelung von Neuerungen nachzustehen. Und weil die Gefahr bestand, daß ihre Fündlein in kurzer Zeit in Abgang gerieten, während sie doch aus ihnen bei den Nachkommen Ruhm zu erlangen trachteten - so waren sie in der Forderung nach Beobachtung ihrer Fündlein viel schärfer. Diese verkehrte Nacheiferung hat uns einen guten Teil jener Gebräuche eingetragen, die uns die Papisten als apostolisch verkaufen wollen. Eben das bezeugen auch die Geschichtsbücher.
IV,10,19
Aber wenn wir von allen Zeremonien ein Register zusammenstellen wollten, so würden wir gar zu sehr ins Weite geraten. Um das zu vermeiden, wollen wir uns mit einem einzigen Beispiel begnügen. In der Bedienung des Heiligen Abendmahls bestand unter den Aposteln große Einfachheit. Ihre nächsten Nachfolger haben zum Preis der Würde des Geheimnisses (Sakraments) einiges hinzugefügt, das nicht zu mißbilligen wäre. Aber hernach sind jene närrischen Nachmacher dazugekommen, die nach und nach die verschiedenartigen Stückchen zusammengeflickt und uns die Gewandung des Priesters, die wir in der Messe zu sehen bekommen, dazu auch den heutigen Altarschmuck, die heutzutage üblichen Gebärden und den ganzen Packen von unnützen Dingen zusammengestellt haben.
Jedoch werden unsere Widersacher den Einwand machen, es habe in alter Zeit die Überzeugung bestanden, daß alles, was in der gesamten Kirche in voller Einmütigkeit geschähe, von den Aposteln selbst ausgegangen sei. Dafür ziehen sie Augustin als Zeugen heran. Ich werde dagegen nirgendwo anders her als eben aus den Worten Augustins die Widerlegung vorbringen. „Was auf dem ganzen Erdkreis gehalten wird“, sagt er, „das läßt sich als von den Aposteln selbst oder von den allgemeinen Konzilien, deren Autorität in der Kirche sehr heilsam ist, festgesetzt erkennen: so zum Beispiel, daß das Leiden, die Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn sowie die Ankunft des Heiligen Geistes mit jährlich wiederkehrenden Festen gefeiert werden, dazu kommt auch, was sonst in dieser Art vorgekommen ist, wenn es von der ganzen Kirche gehalten wird, soweit sie sich auch ausbreitet“ (Brief 54, an Januarius). Wer sollte, da Augustin nur so wenige Beispiele aufzählt, nicht bemerken, daß er den Wunsch gehabt hat, die damals üblichen Bräuche, und zwar nur jene einfachen, an Zahl geringen und schlichten, in welche die Ordnung der Kirche nützlicherweise verfaßt ist, auf Gewährsmänner zurückzuführen, die Glauben und Ehrfurcht verdienten? Wie weit aber ist das von dem entfernt, was die römi-
schen Meister erzwingen wollen, nämlich daß es bei ihnen keine geringe Zeremonie geben soll, die nicht als apostolisch gelten müßte!
IV,10,20
Um es nicht zu lang zu machen, will ich nur ein einziges Beispiel vorbringen. Wenn jemand die Römischen fragt, woher sie ihr „Weihwasser“ hätten, so antworten sie sogleich: von den Aposteln. Als ob die Geschichtsbücher dieses Fündlein nicht ich weiß nicht was für einem Bischof von Rom zuschrieben, der, wenn er die Apostel zu Rate gezogen hätte, die Taufe sicherlich nie und nimmer mit solchem ihr fremden und unangebrachten Merkzeichen besudelt hätte. Allerdings ist es mir auch nicht wahrscheinlich, daß dieser Weiheakt (mit dem Wasser) bereits zu so alter Zeit entstanden ist, wie man es in den Geschichtsbüchern darstellt. Denn Augustin sagt, zu seiner Zeit hätten einige Kirchen den nach Christi Vorbild geschehenden feierlichen Brauch der Fußwaschung vermieden, damit es nicht den Anschein hätte, als gehörte dieser zur Taufe (Brief 55, an Januarius); damit aber zeigt er mittelbar, daß es damals keinerlei Waschung gab, die mit der Taufe irgendeine Ähnlichkeit gehabt hätte. Wie dem auch sei, so werde ich jedenfalls unter keinen Umständen zugeben, daß es aus apostolischem Geiste hervorgegangen sei, daß man die Taufe vermittelst eines tagtäglich wiederkehrenden Zeichens ins Gedächtnis zurückruft und sie dadurch gewissermaßen wiederholt. Ich bekümmere mich auch nicht darum, daß der nämliche Augustin an anderer Stelle auch selbst manche anderen Dinge den Aposteln zuschreibt. Denn er hat nichts als Vermutungen, und deshalb darf man auf ihrer Grundlage in so wichtiger Sache kein Urteil fällen. Und schließlich: selbst wenn wir zugeben, die von ihm erwähnten Gebräuche rührten aus der Zeit der Apostel her, so besteht doch noch ein großer Unterschied, ob man irgendeine Übung für die Frömmigkeit einrichtet, die die Gläubigen mit freiem Gewissen ausführen, aber auch, wenn die Ausübung ihnen keinen Segen trägt, unterlassen können, oder ob man ein Gesetz aufstellt, das die Gewissen in Knechtschaft verstricken soll. Mag nun aber der, von dem diese Gebräuche ausgegangen sind, sein, wer er will, so sehen wir doch nun, daß sie in einen so schweren Mißbrauch verfallen sind, und deshalb steht nichts im Wege, daß wir sie, ohne ihrem Urheber damit Schande zu tun, abschaffen; denn sie haben nie und nimmer eine solche Empfehlung bekommen, daß sie etwa fort und fort unberührt weiterbestehen müßten!
IV,10,21
Auch hilft es unseren Widersachern nicht viel, daß sie als Vorwand zur Beschönigung ihrer Tyrannei das Beispiel der Apostel anführen. Die Apostel und Ältesten der ersten Kirche, so sagen sie, haben doch außerhalb der Anweisung Christi mit bindender Wirkung einen Beschluß ausgehen lassen, kraft dessen sie allen Heiden geboten, sie sollten sich des Götzenopfers, des Erstickten und des Blutes enthalten (Apg. 15,20). Wenn ihnen das erlaubt war, warum sollten nicht auch ihre Nachfolger das Recht haben, ihnen das gleiche nachzutun, so oft die Verhältnisse es erfordern? Ach, wenn sie ihnen sonst stets in anderen Dingen und dann auch ebenso in dieser Sache nachfolgen wollten! Denn ich behaupte, daß die Apostel in diesem Fall gar nichts Neues eingerichtet oder beschlossen haben, und ich kann das auch leicht mit starken Gründen beweisen. Denn Petrus erklärt in diesem Konzil, man versuche Gott, wenn man den Jüngern ein Joch auf den Nacken legte (Apg. 15,10); gibt er also hernach seine Zustimmung dazu, daß man ihnen doch ein Joch auferlegt, so wirft er selbst seine Meinung über den Haufen. Tatsächlich aber würde ihnen ein solches Joch aufgelegt, wenn die Apostel aus eigener Autorität beschlössen, man müsse den Heiden verbieten, Götzenopfer, Blut und Ersticktes anzurühren! Nun bleibt aber noch das Bedenken bestehen, daß sie trotzdem ein Verbot auszusprechen scheinen. Aber das wird leicht behoben werden, wenn man auf den Sinn dieses Beschlusses genauer sein Augenmerk richtet; denn der Reihenfolge nach das erste und der Bedeutung nach das wichtigste Hauptstück dieses
Beschlusses ist doch dies, man müsse den Heiden ihre Freiheit lassen, dürfe sie nicht verwirren und ihnen wegen der Gebräuche des Gesetzes keine Beschwernis bereiten (Apg. 15,19.24.28). Bis dahin steht der Beschluß glänzend auf unserer Seite. Die Ausnahme, die aber dann gleich folgt (Apg. 15,20.29), ist nun nicht ein neues Gesetz, das die Apostel gegeben hätten, sondern ein göttliches und ewiges Gebot Gottes, nämlich daß wir die Liebe nicht verletzen sollen, und ebensowenig benimmt sie jener Freiheit auch nur ein Pünktlein, sondern macht die Heiden nur darauf aufmerksam, auf welche Weise sie sich den Brüdern anpassen sollen, um ihre Freiheit nicht dahin zu mißbrauchen, daß sie den Brüdern einen Anstoß bereite. So ist nun also dies der zweite Hauptpunkt dieses Beschlusses: die Heiden sollen ihre Freiheit gebrauchen, ohne damit jemand zu Schaden und ohne den Brüdern einen Anstoß zu geben. Ja, wird man sagen, aber sie geben doch eine ganz bestimmte Vorschrift! Gewiß, soweit es für die damalige Zeit nützlich war, lehren sie nämlich und machen sie deutlich, mit welchen Dingen die Heiden bei ihren Brüdern solches Ärgernis erregen könnten, und zwar geschieht das, damit sie sich vor diesen Dingen in acht nehmen; dagegen ist es nicht so, als ob sie zu dem ewigen Gesetz Gottes, das uns verbietet, den Brüdern Anstoß zu geben, aus dem Eigenen heraus etwas Neues hinzufügten.
IV,10,22
Es ist so, wie wenn treue Hirten, die einer noch nicht recht geordneten Kirche vorstehen, all den Ihrigen die Weisung geben, am Freitage nicht öffentlich Fleisch zu essen, an den Festtagen nicht öffentlich zu arbeiten und ähnliches, bis daß die Schwachen, mit denen sie zusammenleben, herangewachsen sind. Denn diese Dinge sind zwar, wenn man den Aberglauben beiseiteläßt, an und für sich „Mitteldinge“; sobald aber ein Anstoß für die Brüder hinzukommt, kann man sie nicht treiben, ohne sich zu versündigen. Die Zeiten sind aber derart, daß die Gläubigen ihren schwachen Brüdern diesen Anblick nicht vor Augen führen dürfen, ohne ihr Gewissen dadurch aufs schwerste zu verletzen. Wer wird nun - er sei denn ein Lästerer - behaupten wollen, hier würde ein neues Gesetz gemacht, während doch solche Männer (die derartige Verbote aussprechen) unzweifelhaft bloß Anstöße verhindern wollen, die von dem Herrn ausdrücklich genug untersagt sind? Nichts mehr läßt sich auch von den Aposteln behaupten; denn wenn diese den Anlaß für Anstöße aus dem Wege räumten, so hatten sie damit doch nichts anderes im Sinne, als auf das göttliche Gesetz Nachdruck zu legen, das uns die Vermeidung von Ärgernissen gebietet. Es ist, als wenn sie gesagt hätten: Es ist Gottes Gebot, daß ihr den schwachen Bruder nicht verletzt; ihr könnt nun aber das, was den Abgöttern geopfert ist, das Erstickte und das Blut nicht essen, ohne daß daran die schwachen Brüder Anstoß nehmen; wir gebieten euch also in dem Worte des Herrn, daß ihr nicht unter solchem Ärgernis esset. Dafür, daß eben dies die Absicht der Apostel gewesen ist, ist Paulus der beste Zeuge; denn er schreibt unzweifelhaft allein auf Grund der Entscheidung jenes Konzils: „Von dem Götzenopfer aber wissen wir ..., daß ein Götze nichts sei ... Etliche aber machen sich noch ein Gewissen über dem Götzen und essen’s für Götzenopfer; damit wird ihr Gewissen, weil es so schwach ist, befleckt ... Sehet ... zu, daß ... eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen!“ (1. Kor. 8,1.4.7.9; fast ganz Luthertext). Wer das recht erwogen hat, dem wird man dann weiter nichts vormachen können, wie es die Leute tun, die sich zur Beschönigung ihrer Tyrannei auf die Apostel berufen, als ob diese mit ihrem Beschluß angefangen hätten, die Freiheit der Kirche zu brechen.
Aber damit unsere Widersacher nicht darum herumkommen, mit ihrem eigenen Zugeständnis diese Lösung zu bekräftigen, so sollen sie mir doch antworten, mit welchem Recht sie eben jenen Beschluß abzuschaffen gewagt haben! Sie haben es doch deshalb getan, weil von jenen Ärgernissen und Entzweiungen, denen die
Apostel hatten begegnen wollen, weiter keine Gefahr mehr drohte, und weil sie wußten, daß ein Gesetz nach seiner Absicht beurteilt werden muß. Da also dies Gesetz mit Rücksicht auf die Liebe erlassen worden ist, so wird in ihm nur soviel geboten, wie die Liebe erfordert. Wenn sie nun zugeben, daß es keine andere Übertretung dieses Gesetzes gibt als die Verletzung der Liebe, weshalb erkennen sie dann nicht zugleich an, daß es eben nicht ein selbstersonnener Zusatz zu Gottes Gesetz ist, sondern vielmehr eine saubere und einfache Anwendung desselben auf die Zeiten und Sitten, für die es bestimmt war?
IV,10,23
Aber die Papisten behaupten, daß wir solchen (kirchlichen) Gesetzen, und mögen sie auch hundertmal unbillig und ungerecht für uns sein, dennoch ohne Ausnahme zu gehorchen haben. Sie sagen, es handle sich hier nicht darum, daß wir zu Irrtümern unsere Zustimmung geben, sondern nur darum, daß wir als Untertanen die harten Befehle unserer Oberen durchführen sollten, da es nicht unsere Sache sei, uns ihnen zu entziehen.
Aber auch hier kommt uns der Herr aufs beste mit der Wahrheit seines Wortes zu Hilfe und rettet uns aus solcher Knechtschaft in die Freiheit, die er uns mit seinem heiligen Blute erworben hat (1. Kor. 7,23), dessen Wohltat er uns in seinem Worte mehr als einmal versiegelt. Denn es handelt sich nicht - wie unsere Widersacher in ihrer Bosheit vorgeben - bloß darum, daß wir an unserem Leibe einige schwere Bedrückung ertragen sollen, nein, es geht darum, daß unsere Gewissen ihrer Freiheit, das heißt der Wohltat des Blutes Christi, beraubt werden und knechtisch gequält werden sollen!
Aber ich will auch das beiseitelassen, als ob es wenig zur Sache täte. Wieviel aber macht es nach unserer Meinung aus, daß dem Herrn sein Reich entrissen wird, das er mit solcher Strenge für sich in Anspruch nimmt? Tatsächlich wird ihm aber das Reich geraubt, so oft man ihn nach den Gesetzen menschlicher Fündlein verehrt; denn er will allein als Gesetzgeber für die Verehrung gelten, die man ihm erweist. Damit nun aber niemand meint, das sei eine unwesentliche Sache, so wollen wir hören, welch hohen Wert ihr der Herr beimißt. „Darum“, spricht er, „daß mich dies Volk fürchtet nach Menschengebot und Menschenlehren, siehe, so will ich es bestürzt machen mit einem gewaltigen und erstaunlichen Wunder; denn seinen Weisen wird die Weisheit entfallen, und von den Ältesten soll der Verstand weichen“ (Jes. 29,13f.; nicht Luthertext). An anderer Stelle heißt es: „Vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind“ (Matth. 15,9). Und in der Tat wird die Ursache für das ganze Unheil, daß die Kinder Israel sich mit vielfältiger Abgötterei besudelt haben, dieser unsauberen Vermischung zugeschrieben, die dadurch entstand, daß sie Gottes Gebote übertraten und sich neue Gottesdienste zusammenschmiedeten. Daher berichtet auch die heilige Geschichte, daß die neu hinzugekommenen Einwohner, die der König von Babel herangeführt hatte, um Samaria zu bevölkern, von wilden Tieren zerrissen und gefressen worden seien, und zwar deshalb, weil sie die Rechte und Satzungen „des Gottes im Lande“ nicht gekannt hätten. Selbst wenn sie bei den Zeremonien nichts versehen hätten, so wäre Gott doch das inhaltlose Gepränge nicht wohlgefällig gewesen; aber er hat unterdessen nicht davon abgesehen, die Schändung seiner Verehrung zu strafen, weil die Menschen selbsterdachte Dinge aufbrachten, die mit seinem Worte nichts zu tun hatten. Deshalb heißt es hernach, sie hätten, durch diese Bestrafung erschreckt, die im Gesetz vorgeschriebenen Gebräuche angenommen; aber weil sie Gott noch nicht rein verehrten, so wird zweimal wiederholt, sie hätten Gott verehrt und doch auch wieder nicht verehrt (1. Kön. 17,24f.32f.41). Daraus entnehmen wir, daß die Ehrfurcht, die ihm erzeigt wird, zum Teil darin besteht, daß wir bei seiner Verehrung einfältig dem folgen, was er uns gebietet, und
keine eigenen Erfindungen hineinmengen. Deshalb werden auch die gottesfürchtigen Könige häufiger darum gelobt, weil sie nach allen Geboten gehandelt hätten und weder zur Rechten noch zur Linken abgewichen wären (2. Kön. 22,1f.; 1. Kön. 15,11; 22,43; 2. Kön. 12,3; 14,3; 15,3; 15,34; 18,3). Ich gehe noch weiter: selbst wenn in einer vom Menschen ersonnenen Gottesverehrung keine offenkundige Gottlosigkeit zutage tritt, so wird sie vom Heiligen Geiste doch streng verurteilt, weil man von Gottes Gebot abgewichen ist. Der Altar des Ahas, dessen Vorbild von Samaria herbeigebracht war, konnte den Eindruck erwecken, als ob er den Zierat des Tempels vermehrte; denn Ahas hatte die Absicht, auf ihm Gott allein Opfer darzubringen, und das konnte er hier glanzvoller tun als auf dem ersten, althergebrachten Altar; trotzdem aber sehen wir, daß der Heilige Geist diese Vermessenheit verflucht, und zwar aus keiner anderen Ursache, als weil Menschenfündlein bei der Verehrung Gottes unreine Verderbnisse darstellen (2. Kön. 16,10-18). Und je klarer uns der Wille Gottes offenbart ist, desto weniger ist die Frechheit zu entschuldigen, hier irgend etwas zu versuchen. Deshalb wird die Schuld des Manasse verdientermaßen durch den Umstand schwerer gemacht, daß er in Jerusalem einen neuen Altar aufgerichtet hatte, während doch Gott von der Stadt gesagt hatte: „Ich will meinen Namen zu Jerusalem setzen“ (2. Kön. 21,3f.). Denn jetzt bedeutete ja seine Tat geradezu eine vorsätzliche Schmähung der Autorität Gottes.
IV,10,24
Viele verwundern sich, warum denn der Herr so scharf droht, er wolle dem Volke, von dem er nach Menschengeboten verehrt würde, erstaunliche Dinge zufügen (Jes. 29,13f.), und warum er kundmacht, es sei umsonst, wenn man ihm nach Menschensatzungen diene (Matth. 15,9). Aber wenn diese Leute ihr Augenmerk darauf richteten, was es bedeutet, in Sachen der Religion, das heißt der himmlischen Weisheit, allein an Gottes Mund zu hängen, so würden sie zugleich sehen, daß keine geringfügige Ursache besteht, weshalb der Herr dergleichen verkehrte „Dienste“, die ihm nach der Willkür der menschlichen Vernunft geleistet werden, dermaßen verabscheut. Denn obgleich die Menschen, die solchen Gesetzen für die Verehrung Gottes Folge leisten, in diesem ihrem Gehorsam einen gewissen Schein von Demut haben, so sind sie doch vor Gott keineswegs demütig, weil sie ihm ja die gleichen Gesetze vorschreiben, die sie selber innehalten. Das ist aber der Grund, weshalb Paulus will, daß wir uns so fleißig davor hüten, uns von den Überlieferungen der Menschen betrügen zu lassen (Kol. 2,4) und von jener „selbsterwählten Geistlichkeit“, wie er sie nennt, das heißt also von dem eigenwilligen und abseits von Gottes Unterweisung durch Menschen ausgeklügelten Gottesdienst. So ist es in der Tat: sowohl unsere eigene als aller Menschen Weisheit muß uns zur Torheit werden, damit wir ihn allein weise sein lassen! Diesen Weg halten die aber in keiner Weise inne, die sich ihm mit frommen Übungen, die nach menschlichem Gutdünken ausgedacht sind, angenehm zu machen trachten und ihm gleichsam wider seinen Willen den verkehrten Gehorsam aufdrängen, der (tatsächlich) Menschen geleistet wird. So ist es früher manche Jahrhunderte lang und auch noch zu unseren Zeiten geschehen, und so geschieht es auch heute noch an jenen Orten, da man den Befehl des Geschöpfs höher achtet als den des Schöpfers, an jenen Orten, wo die Religion - wenn dergleichen trotz allem noch Religion genannt zu werden verdient - mit vielfältigerem und närrischerem Aberglauben verunreinigt ist als je irgendein Heidentum. Denn was sollte der Sinn der Menschen anders hervorbringen können als lauter fleischliche, törichte Dinge, die wahrhaftig das Ebenbild ihrer Urheber darstellen?
IV,10,25
Die Schutzmeister solcher abergläubischen Gebräuche berufen sich auch darauf, daß Samuel in Rama geopfert habe und daß dies, obwohl es gegen das Gesetz geschehen sei, doch Gottes Wohlgefallen gefunden habe (1. Sam. 7,17). Da ist nun die Lösung leicht: es handelt sich hier nicht um einen zweiten Altar, den er im Gegensatz zu dem einzig rechtmäßigen aufgerichtet hätte, sondern er hat, da für die Bundeslade noch keine Stätte verordnet war, die Stadt, in der er wohnte, für die Opfer bestimmt als die dazu am besten geeignete. Jedenfalls hatte der heilige Prophet nicht im Sinn, im Bezug auf die heiligen Handlungen irgendeine Neuerung einzuführen, wo doch Gott so streng verbot, etwas zuzufügen oder abzustreichen.
Was nun das Beispiel des Manoah betrifft, so behaupte ich, daß es sich da um etwas Außerordentliches und Einzigartiges gehandelt hat (Richt. 13,19). Manoah brachte als ein amtloser Mann Gott ein Opfer dar, und das geschah nicht ohne Gottes Billigung, weil er es eben nicht aus einer unüberlegten Regung seines Herzens heraus unternahm, sondern auf einen himmlischen Antrieb hin. Wie sehr aber Gott verabscheut, was die Sterblichen aus sich selbst ausklügeln, um ihn zu verehren, dafür dient uns ein anderer als augenfälliger Beweis, der nicht niedriger steht als Manoah, nämlich Gideon, dessen Ephod nicht nur ihm selbst und seiner Familie, fondern dem ganzen Volke zum Verderben geworden ist (Richt. 8,27). Kurzum, jegliches fremde Fündlein, mit dem die Menschen Gott zu verehren begehren, ist nichts anderes als eine Befleckung der wahren Heiligkeit.
IV,10,26
Weshalb, so fragen unsere Widersacher, wollte denn Christus, daß jene unerträglichen Lasten, welche die Schriftgelehrten und Pharisäer den Leuten aufbanden, doch getragen würden (Matth. 23,3)? Ja (antworte ich), warum hat denn der nämliche Christus an anderer Stelle verlangt, man solle sich vor dem Sauerteig der Pharisäer in acht nehmen (Matth. 16,6)? Und dabei versteht er nach der Erläuterung des Evangelisten Matthäus unter „Sauerteig“ alles, was die Pharisäer der Reinheit des Wortes Gottes an eigener Lehre beimischten (Matth. 16,12). Was wollen wir Deutlicheres, als daß er uns befiehlt, ihre ganze Lehre zu meiden und uns vor ihr zu hüten? Von daher wird es uns völlig gewiß, daß der Herr auch an der anderen Stelle (Matth. 23,3) nicht gewollt hat, daß die Gewissen der Seinigen mit den eigenen Satzungen der Pharisäer gepeinigt würden. Auch die Worte selbst ergeben, wenn man ihnen nur nicht Gewalt antut, nichts dergleichen. Denn da hatte der Herr im Sinn, gegen die Sitten der Pharisäer mit bitterer Schärfe loszufahren; dabei lehrte er nun aber seine Zuhörer von vornherein einfach, sie sollten, obwohl sie an dem Lebenswandel der Pharisäer nichts zu sehen bekamen, dem sie etwa hätten folgen sollen, doch nicht davon ablassen, das zu tun, was diese mit dem Wort lehrten, wenn sie „auf Moses Stuhl“ saßen, das heißt, wenn sie dasaßen, um das Gesetz auszulegen. Er wollte also nichts anderes als von vornherein verhüten, daß das Volk durch das schlechte Beispiel derer, die es lehrten, zur Verachtung der Lehre selbst verleitet würde. Aber weil sich manche Leute mit Gründen nicht im mindesten bewegen lassen, sondern immer nach einer Autorität fragen, so will ich noch Worte Augustins folgen lassen, in denen voll und ganz das gleiche gesagt wird. „Die Herde des Herrn“, sagt er, „hat zu ihren Vorstehern teils Kinder (Gottes), teils Mietlinge. Die Vorsteher, die Kinder sind, die sind die wahren Hirten; vernehmet aber, daß auch die Mietlinge notwendig sind, viele nämlich in der Kirche predigen Christus und jagen dabei nach irdischen Vorteilen; durch sie nun kommt die Stimme Christi zu Gehör, und die Schafe folgen nicht dem Mietling, sondern dem Hirten- durch den Mietling! Höret nun, wie die Mietlinge von dem Herrn selbst gekennzeichnet werden. ‚Auf Mose’s Stuhl’, spricht er, ‚sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer; was sie sagen, das tut, was sie aber tun, das tut nicht.’ Was hat er damit anders
gesagt als: höret durch die Mietlinge die Stimme des Hirten? Denn wenn sie auf dem ‚Stuhl’ sitzen, so lehren sie Gottes Gesetz; also lehrt Gott durch sie. Wenn sie aber ihre eigenen Dinge lehren wollen, so hört nicht darauf und tut nicht danach“ (Predigten zum Johannesevangelium 46,5f.). So Augustin.
IV,10,27
Es gibt nun aber viele unerfahrene Leute, die, wenn sie hören, daß durch die menschlichen Satzungen die Gewissen der Menschen gottlos gebunden werden und Gott vergebens verehrt wird, mit dem gleichen Zuge auch alle Gesetze durchstreichen, durch welche die Ordnung der Kirche geregelt wird. Es ist also angebracht, daß wir auch ihrem Irrtum hier entgegentreten. Man kann hier sicherlich überaus leicht ausgleiten und sich täuschen; denn es tritt nicht gleich auf den ersten Blick klar zutage, was für ein großer Unterschied zwischen jenen Menschensatzungen und den rechten kirchlichen Ordnungen besteht. Ich werde aber die ganze Sache mit wenigen Worten so deutlich auseinandersetzen, daß sich keiner mehr von der Ähnlichkeit betrügen läßt.
Da müssen wir zunächst dies wissen: wenn wir sehen, daß in jeglicher Gemeinschaft von Menschen eine bestimmte öffentliche Gewalt erforderlich ist, die in der Lage sein soll, den gemeinen Frieden zu fördern und die Eintracht aufrechtzuerhalten, und wenn wir sehen, daß bei allem Handeln stets ein gewisser Brauch herrscht, den nicht zu verschmähen der öffentlichen Ehrbarkeit und auch geradezu der Menschlichkeit dienlich ist, so muß es in besonderer Weise in den Kirchen so gehalten werden, die einerseits bei einer gutgeregelten Ordnung aller Dinge aufs beste erhalten bleiben, andererseits aber ohne Eintracht durchaus nicht bestehen können. Wenn wir also wollen, daß für das Wohlbestehen der Kirche gut gesorgt werde, so muß mit höchstem Eifer darauf Nachdruck gelegt werden, daß es nach der Anweisung des Paulus geht: „Lasset alles ehrbar und ordentlich zugehen“ (1. Kor. 14,40).
Da aber die Sitten der Menschen so verschieden, ihre Gemüter so vielartig und ihre Urteile und Einfälle so widersprechend sind, so ist keine öffentliche Gewalt stark genug, wenn sie nicht durch bestimmte Gesetze geregelt ist, und es kann auch kein Brauch irgendwelcher Art ohne eine festgelegte Form aufrechterhalten werden. Die Gesetze also, die dazu dienen, wollen wir so wenig verurteilen, daß wir vielmehr behaupten, daß mit ihrer Abschaffung die Kirchen von ihren Muskeln losgelöst und gänzlich verunstaltet und zerrüttet werden. Denn was Paulus fordert, nämlich daß „alles ehrbar und ordentlich zugehe“, das läßt sich nicht festhalten, wenn Ordnung und Ehrbarkeit nicht dadurch Bestand haben, daß man Regeln hinzufügt, die dann gleich Bändern wirken.
Nur muß man bei solchen Regeln stets die Bedingung machen: sie dürfen nicht für heilsnotwendig gehalten werden und dementsprechend die Gewissen mit heiliger Scheu binden, ebenso dürfen sie nicht auf die Verehrung Gottes bezogen werden, und deshalb darf die Frömmigkeit nicht auf ihnen beruhen.
IV,10,28
Wir haben also ein sehr gutes und höchst zuverlässiges Kennzeichen, das den Unterschied aufzeigt zwischen jenen gottlosen Satzungen, mit denen, wie bereits ausgeführt, die Religion verdunkelt wird und die Gewissen zu Fall gebracht werden, und den rechtmäßigen Lebensregeln der Kirche; (dies gewinnen wir) wenn wir bedenken, daß die letzteren stets einer von den beiden folgenden Aufgaben dienen sollen oder auch beiden zugleich, erstens soll bei der heiligen Versammlung der Frommen alles ehrbar und mit der gebührenden Würde zugehen, und zweitens soll die Gemeinschaft der Menschen selbst gleichsam durch Bande der Menschlichkeit und des Maßhaltens in Ordnung gehalten werden. Sobald man nämlich einmal begreift, daß ein Gesetz um der öffentlichen Ehrbarkeit willen ge-
geben ist, da ist auch schon der Aberglaube behoben, in den solche Leute verfallen, die die Verehrung Gottes nach menschlichen Fündlein bemessen. Und wiederum, wo man erkennt, daß das Gesetz dem gemeinen Nutzen dienen soll, da ist jener falsche Wahn von Verbindlichkeit und Notwendigkeit hinfällig geworden, der den Gewissen einen ungeheuren Schrecken einjagte, weil sie meinten, solche Satzungen seien zum Heil notwendig. Denn es wird hier nichts gesucht, als daß die Liebe unter uns durch gemeinsame Dienstleistung gefördert werde.
Es ist aber angebracht, daß wir noch deutlicher umschreiben, was unter jener „Ehrbarkeit“ die uns Paulus anbefiehlt, und ebenso unter jener „Ordnung“ verstanden ist (1. Kor. 14,40).
Die „Ehrbarkeit“ dient nun folgendem Zweck: einerseits sollen wir, indem fromme Gebräuche zur Anwendung kommen, um den heiligen Dingen Ehrfurcht zu verschaffen, durch derartige Hilfsmittel zur Frömmigkeit aufgemuntert werden, andererseits sollen dabei auch Bescheidenheit und Ernst, die bei allen ehrenhaften Verrichtungen zu sehen sein müssen, in höchstem Maße ans Licht treten. Bei der „Ordnung“ ist das erste dies, daß die, die zu leiten haben, die Regel und das Gesetz für eine gute Regierungsführung kennen, das Volk aber, das regiert wird, sich an den Gehorsam gegen Gott und an die rechte Zucht gewöhnt. Das zweite ist, daß durch einen wohlgeordneten Zustand der Kirche für Frieden und Ruhe gesorgt wird.
IV,10,29
„Ehrbarkeit“ werden wir also nicht das nennen, was nichts als eitle Ergötzlichkeit in sich trägt; ein Beispiel dafür sehen wir etwa in jenem schauspielartigen Gepränge, das die Papisten bei ihren heiligen Handlungen entfalten, in denen nichts in die Erscheinung tritt als die nutzlose Maske der Zierlichkeit und ein Prunk, der keine Frucht trägt. Nein, „Ehrbarkeit“ soll für uns das sein, was der Ehrfurcht vor den heiligen Geheimnissen in solcher Weise dient, daß es eine geeignete Übung zur Frömmigkeit darstellt, oder was wenigstens zu einer Ausschmückung beiträgt, die zu der betreffenden Handlung paßt, und zwar nicht ohne Frucht, sondern um die Gläubigen daran zu mahnen, mit wieviel Bescheidenheit, heiliger Scheu und Ehrerbietung sie die heiligen Dinge behandeln sollen. Um nun aber Übungen der Frömmigkeit zu sein, müssen uns die Zeremonien geraden Weges zu Christus hinführen.
Und ebenso werden wir unter „Ordnung“ nicht jenes läppische Gepränge verstehen, das nichts als eitlen Glanz besitzt, sondern vielmehr eine solche Regelung, die alle Verwirrung, Barbarei und Widerspenstigkeit, allen Zank und Streit behebt.
Für die erste Gruppe (also für Einrichtungen, die der „Ehrbarkeit“ dienen) gibt es Beispiele bei Paulus; so z.B. daß mit dem heiligen Abendmahl des Herrn nicht unheilige Gastmähler vermengt werden dürfen und daß die Frauen nur verhüllt in der Öffentlichkeit erscheinen sollen (1. Kor. 11,21.5). Sehr viele andere Beispiele dafür haben wir im täglichen Gebrauch; dazu gehört es, daß wir beim Beten die Knie beugen und das Haupt entblößen, daß wir die Sakramente des Herrn nicht unordentlich, sondern mit einer gewissen Würde austeilen, daß wir beim Begräbnis der Verstorbenen eine gewisse Ehrbarkeit walten lassen - und was sonst noch dazu kommt.
Zu der zweiten Gruppe (also zu den Satzungen, die der „Ordnung“ dienen) gehört es, daß für die öffentlichen Gebete, Predigten und heiligen Handlungen bestimmte Stunden festgesetzt sind, daß bei den Predigten Stille und Schweigen herrscht, daß bestimmte Plätze vorhanden sind, daß man Gesänge anstimmt, daß für die Feier des Herrnmahles bestimmte Tage vorher festgelegt werden; hierher gehört es auch, daß Paulus das Lehren der Frauen in der Kirche verbietet (1. Kor. 14,34), und ähnliches mehr. Vor allem aber ist hier das zu nennen, was die Zucht erhält, wie der kirchliche Unterricht, die Kirchenzucht, der Bann, das Fasten und was sonst in dieser Art noch aufzuzählen wäre.
So lassen sich alle kirchlichen Satzungen, die wir als heilig und heilsam annehmen, in zwei Hauptstücken zusammenfassen: die einen beziehen sich nämlich auf Gebräuche und Zeremonien, die anderen auf die Zucht und den Frieden.
IV,10,30
Aber es besteht hier die Gefahr, daß auf der einen Seite die falschen Bischöfe aus unseren Ausführungen einen Vorwand nehmen, um ihre gottlosen, tyrannischen Gesetze zu entschuldigen, auf der anderen Seite aber einige gar zu furchtsame Menschen stehen, die, durch die früheren Mißstände gewarnt, nun keinem einzigen Gesetz mehr Raum geben wollen, selbst wenn es noch so heilig wäre. Angesichts dieser Gefahr ist es angebracht, hier zu bezeugen, daß ich nur solche menschlichen Satzungen gutheiße, die auf Gottes Autorität gegründet, aus der Schrift entnommen und deshalb voll und ganz göttlich sind.
Als Beispiel will ich das Kniebeugen nehmen, das ja stattfindet, wenn feierliche Gebete gehalten werden. Die Frage ist nun, ob das eine menschliche Überlieferung ist, die jedermann verwerfen oder unterlassen darf. Ich behaupte: es ist menschlich, aber so, daß es zugleich göttlich ist. von Gott kommt es, sofern es ein Stück jener „Ehrbarkeit“ ist, für die wir, wie uns der Apostel anbefiehlt, sorgen und die wir innehalten sollen (1. Kor. 14,40). Von den Menschen kommt es, sofern es im besonderen aufzeigt, was (von dem Apostel) im allgemeinen mehr angedeutet als dargelegt worden war.
Von diesem einen Beispiel aus läßt sich ermessen, wie wir über diese ganze Gruppe zu urteilen haben: (1.) Da der Herr die ganze Hauptsumme der wahren Gerechtigkeit und alle Stücke der Verehrung seines gottheitlichen Wesens, dazu überhaupt alles, was zum Heil notwendig war, in seinen heiligen Offenbarungsworten getreulich zusammengefaßt und auch deutlich ausgelegt hat, so ist in diesen Dingen er allein als Meister zu hören. (2.) Weil er nun aber in der äußeren Zuchtübung und den Zeremonien nicht im einzelnen hat vorschreiben wollen, was wir da zu befolgen haben - er sah eben vor, daß dies von den Zeitumständen abhängig wäre, und war nicht des Urteils, daß eine und dieselbe Form für alle Zeiten passend wäre -, so müssen wir hier zu den allgemeinen Regeln unsere Zuflucht nehmen, die er uns gegeben hat, damit nach ihnen alles ausgerichtet werde, was die Notdurft der Kirche je an Vorschriften für „Ordnung“ und „Ehrbarkeit“ erforderlich machen wird. (3.) Und schließlich: er hat ja deshalb nichts Ausdrückliches vorgeschrieben, weil diese Dinge nicht heilsnotwendig sind und weil sie je nach den Sitten des einzelnen Volkes und der einzelnen Zeit in verschiedener Weise zur Auferbauung der Kirche angewendet werden müssen; daher wird es am Platze sein, je wie es der Nutzen der Kirche erfordert, sowohl im Gebrauch befindliche Einrichtungen abzuändern oder abzutun, als auch neue zu schaffen. Ich gebe zwar zu, daß man nicht unüberlegt, auch nicht immer wieder und auch nicht aus geringfügigen Ursachen zur Neuerung greifen darf. Aber was Schaden bringt oder was erbaut, das wird die Liebe am besten beurteilen; wenn wir sie unsere Meisterin sein lassen, so wird alles gut stehen.
IV,10,31
Nun ist es aber die Pflicht des christlichen Volkes, das, was nach dieser Richtschnur eingerichtet ist, zwar mit freiem Gewissen und ohne allen Aberglauben, aber doch mit frommer und gehorsamswilliger Neigung innezuhalten, es nicht verächtlich zu behandeln und nicht mit lässiger Nichtachtung zu übergehen. So wenig kann die Rede davon sein, daß es sie etwa aus Aufgeblasenheit oder Widerspenstigkeit offen verletzen dürfte!
Wieso kann nun aber, so wird man fragen, bei solcher Ehrerbietung und Behütsamkeit von einer Freiheit des Gewissens die Rede sein? Ja, allerdings! Sie wird herrlich bestehen, wenn wir in Betracht ziehen, daß es sich hier nicht um
unveränderliche, ewige Festsetzungen handelt, an die wir gebunden wären, sondern um äußerliche Übungen der menschlichen Schwachheit, die wir zwar nicht alle nötig haben, aber doch alle ausführen, weil wir es einer dem anderen schuldig sind, untereinander die Liebe zu pflegen. Das läßt sich an den weiter oben aufgeführten Beispielen erkennen, wieso, besteht die Religion etwa in dem Kopftuch der Frau, so daß es eine Sünde wäre, wenn sie mit bloßem Haupte ausginge? Ist jenes Gebot von dem Stillschweigen der Frau (in der Gemeinde) etwa heilig, so daß man es nicht verletzen kann, ohne die schlimmste Missetat zu begehen? Steckt etwa im Kniebeugen (beim Beten) oder im Begräbnis der Leichname ein Geheimnis, so daß man es nicht ohne Sünde unterlassen könnte? Durchaus nicht! Denn wenn eine Frau, um ihrem Nächsten zu helfen, so große Eile nötig hat, daß sie infolgedessen ihr Haupt nicht verhüllen kann, dann tut sie keine Sünde, wenn sie mit unverschleiertem Haupte herzueilt. Auch gibt es Gelegenheiten, wo ihr das Reden nicht weniger ansteht als sonstwo das Schweigen. Nichts verbietet auch, daß einer, der durch Krankheit verhindert ist, die Knie zu beugen, stehend betet. Und endlich: es ist besser, einen Verstorbenen frühzeitig zu begraben, als daß man, wenn kein Leichenkleid vorhanden ist oder keine Leute da sind, um ihn zu geleiten, solange wartet, bis er unbeerdigt in Verwesung übergeht. Nichtsdestoweniger aber steht es mit diesen Dingen so, daß uns die Landesgewohnheit, die bestehenden Einrichtungen und schließlich das menschliche Empfinden und die Regel der Bescheidenheit schon in den Sinn geben, was zu tun oder zu meiden ist. Hat da nun einer durch Unklugheit oder Vergeßlichkeit etwas verkehrt gemacht, so ist damit kein Verbrechen begangen, ist es aber aus Verachtung (der Ordnung) geschehen, so ist die (darin zutage tretende) Widerspenstigkeit zu mißbilligen. Ebenso macht es nichts aus, welches die (für den Gottesdienst vorgesehenen) Tage und Stunden sind, wie der Aufbau der Plätze (in der Kirche) sich gestaltet, und welche Psalmen an den einzelnen Tagen gesungen werden sollen. Daß dagegen (überhaupt) bestimmte Tage und festgesetzte Stunden bestehen, daß ein Raum vorhanden ist, um alle aufzunehmen, das ist erforderlich, wenn man irgendwie auf die Erhaltung des Friedens Bedacht nimmt. Denn zu was für großen Streitigkeiten würde die Verwirrung in diesen Dingen den Keim bilden, wenn jeder nach seinem Geschmack ändern dürfte, was doch dem gemeinsamen Wohlbestehen dienen soll! Denn wenn man die Dinge gleichsam in die Mitte stellt und sie dem Gutdünken des einzelnen überläßt, dann wird es nie und nimmer vorkommen, daß allen das gleiche zusagt. Wenn nun jemand Widerrede erhebt und hier klüger sein will, als es sich gehört, dann soll er selber zusehen, auf welche Art er dem Herrn seinen Eigensinn wohlgefällig macht! Uns aber soll das Wort des Paulus genug sein, wir hätten nicht die Gepflogenheit zu streiten, und die Kirchen Gottes auch nicht (1. Kor. 11,16).
IV,10,32
Man muß sich nun aber mit höchstem Eifer darum bemühen, daß sich nicht ein Irrtum einschleicht, der diesen reinen Gebrauch (der kirchlichen Satzungen) vergiftet und verfinstert. Das wird aber erreicht werden, wenn alle bestehenden Satzungen einen offenkundigen Nutzen an den Tag legen, wenn sie nur sehr sparsam zugelassen werden, vor allem aber, wenn die Unterweisung eines treuen Hirten dazukommt und allen verkehrten Meinungen den Zugang von vornherein verschließt. Diese Erkenntnis aber bewirkt, daß jeder in allen diesen Dingen seine Freiheit behält, und daß trotzdem jeder freiwillig seiner Freiheit einen gewissen Zwang auferlegt, sofern es jene „Ehrbarkeit“, von der wir sprachen, oder auch das Bedachtnehmen auf die Liebe erfordert. Ferner wird jene Einsicht zur Folge haben, daß wir bei der Beobachtung dieser Dinge ohne allen Aberglauben handeln und sie auch nicht gar zu eigensinnig von anderen verlangen, daß wir einen Gottesdienst nicht etwa um der Fülle der Zeremonien willen für besser halten und daß nicht eine Kirche die andere wegen der Verschiedenheit der äußeren Ordnung geringschätzt. Und endlich wird solche Erkenntnis dafür sorgen, daß wir uns
hier kein ewiges Gesetz aufrichten, sondern die ganze Übung solcher Gebräuche und auch ihren Zweck auf die Erbauung der Kirche beziehen und es für den Fall, daß sie es erheischt, ohne Anstoß ertragen, daß nicht nur das eine oder andere verändert wird, sondern auch alle Gebräuche, die zuvor bei uns in Übung standen, abgetan werden. Denn daß die Zeitumstände es mit sich bringen können, daß manche Gebräuche, die im übrigen nicht gottlos oder unziemlich waren, abgeschafft werden müssen, weil die Verhältnisse es erheischen, - dafür ist unsere Zeit ein wirksamer Beweis. Denn bei der großen Blindheit und Unwissenheit der vergangenen Zeit haben die Kirchen früher in solch verkehrtem Wahn und so hartnäckigem Eifer an den Zeremonien gehangen, daß sie kaum genugsam von dem ungeheuerlichen Aberglauben gereinigt werden konnten, ohne daß viele Zeremonien abgeschafft wurden, die in alter Zeit vielleicht nicht ohne Grund eingerichtet worden waren und an und für sich keine Gottlosigkeit erkennen ließen.
Elftes Kapitel
Von der Rechtsprechung der Kirche und deren Mißbrauch, wie er im Papsttum zu sehen ist
IV,11,1
Jetzt bleibt noch das dritte Stück der Kirchengewalt übrig, und zwar das, das bei einem wohlgeordneten Stand der Kirche das wichtigste ist: es liegt, wie wir bereits sagten, in der Rechtsprechung. Nun bezieht sich die gesamte kirchliche Rechtsprechung auf die Sittenzucht, von der wir bald noch zu reden haben werden. Wie nämlich keine Stadt und kein Dorf ohne Obrigkeit und öffentliches Regiment bestehen kann, so bedarf auch die Kirche Gottes, wie ich bereits dargelegt habe, aber jetzt abermals zu wiederholen genötigt bin, gewissermaßen ihres geistlichen Regiments, das aber von dem bürgerlichen völlig unterschieden ist und es keineswegs behindert oder schwächt, sondern ihm vielmehr wesentliche Hilfe und Förderung schafft. Diese kirchliche Rechtsprechungsgewalt wird also in ihrem wesentlichen Inhalt nichts anderes sein als eine Ordnung, die dazu eingerichtet ist, das geistliche Regiment zu erhalten.
Zu diesem Zweck hat man in der Kirche von Anfang an richterliche Behörden eingerichtet, um die Sittenzucht zu üben, gegen Laster strafend vorzugehen und das Amt der Schlüssel zu verwalten. Diesen Stand (d.h. die Ältesten) hat Paulus im (ersten) Korintherbrief im Auge, indem er von „Regierern“ spricht (1. Kor. 12,28). Und das gleiche meint er im Römerbrief, wenn er sagt: „Regiert jemand, so sei er sorgfältig“ (Röm. 12,8). Denn er redet da nicht die Obrigkeiten an - christliche Obrigkeiten gab es damals nicht -, sondern die, welche den „Hirten“ zum Zweck des geistlichen Regiments der Kirche beigeordnet waren. Auch im (ersten) Brief an Timotheus spricht er von zweierlei Ältesten, solchen, „die da arbeiten am Wort“, und anderen, die die Predigt des Wortes nicht üben, aber doch „wohl vorstehen“ (1. Tim. 5,17). Unzweifelhaft meint er nun mit dieser zweiten Gruppe die Männer, die zur Aufsicht über die Sitten und zum gesamten Gebrauch der Schlüssel eingesetzt waren.
Denn diese Gewalt, von der wir hier sprechen, hängt voll und ganz an den „Schlüsseln“, die Christus seiner Kirche übergeben hat, wie es bei Matthäus im achtzehnten Kapitel berichtet wird. Da gebietet der Herr, die, welche persönliche Ermahnungen verachtet haben, im Namen der ganzen Gemeinde ernstlich zu vermahnen, und lehrt, daß solche Leute bei verharren in ihrer Halsstarrigkeit aus der Gemeinschaft der Gläubigen auszustoßen sind (Matth. 18,15-18). Nun können aber solche Vermahnungen und Strafen nicht ohne vorherige Untersuchung des Falles vor sich gehen, und deshalb bedarf es eines richterlichen Verfahrens und einer gewissen Ordnung. Wenn wir also die Verheißung der Schlüssel nicht ungültig machen und Bann, feierliche Vermahnungen und dergleichen aus dem Wege räumen wollen, so müssen wir der Kirche eine gewisse Rechtsprechung zugestehen. Die Leser müssen beachten, daß es sich an jener Stelle (Matth. 18) nicht um die allgemeine Lehrautorität (der Kirche) handelt, wie das Matth. 16 (Vers 19) und Johannes 20 (Vers 23) der Fall ist, sondern daß hier das Recht des Synedriums für die Zukunft auf die Herde Christi übertragen wird. Bis zu jenem Tage hatten die Juden ihre eigene Regierungsweise; diese richtet nun Christus, soweit es die reine Einrichtung (als solche) betrifft, in seiner Kirche auf. Und zwar geschieht das mit einer ernsten Strafandrohung. So war es nämlich erforderlich, weil sonst das Urteil der unansehnlichen, verachteten Kirche von unbesonnenen und aufgeblasenen Leuten hätte in den Wind geschlagen werden können.
Damit es nun den Leser nicht stört, daß Christus mit den gleichen Worten zwei Dinge andeutet, die untereinander ziemlich verschieden sind, so wird es von Nutzen sein, diesen Knoten aufzulösen. Es gibt zwei Stellen, die vom Binden und Lösen reden. Die eine steht im 16. Kapitel bei Matthäus: da gibt Christus zunächst die Verheißung, er wolle dem Petrus „des Himmelreichs Schlüssel geben“, und dann fügt er gleich hinzu, was Petrus auf Erden gebunden oder gelöst hätte, das solle auch im Himmel so gelten (Matth. 16,19). Mit diesen Worten gibt der Herr nichts anderes zu erkennen als mit den anderen, die sich bei Johannes (Joh. 20,23) finden: da ist er im Begriff, die Jünger zur Predigt auszusenden, und, nachdem er sie „angeblasen“ hat, spricht er zu ihnen: „Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sollen sie erlassen sein, und welchen ihr sie behaltet, denen sollen sie auch im Himmel behalten sein“ (Joh. 20,23; nicht Luthertext). Ich will nun eine Deutung vorbringen, die nicht spitzfindig, nicht gezwungen und nicht verdreht, sondern vielmehr klar, eindeutig und leicht zugänglich ist. Dieser Auftrag (an die Jünger), Sünden zu erlassen und zu behalten, wie auch jene Verheißung an Petrus bezüglich des Bindens und Lösens (Matth. 16,19) dürfen auf nichts anderes bezogen werden als auf den Dienst am Wort: indem der Herr den Aposteln diesen Dienst anvertraute, rüstete er sie zugleich mit diesem Amte aus, zu binden und zu lösen. Denn was anders ist die Hauptsumme des Evangeliums, als daß wir alle, die wir Knechte der Sünde und des Todes sind, losgesprochen und frei gemacht werden durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist, daß aber die, die Christus nicht als Befreier und Erlöser annehmen und erkennen, zu ewigen Banden verurteilt und überantwortet sind? Als der Herr seinen Aposteln diese Botschaft übergab, damit sie sie zu allen Nationen trügen, da ehrte er sie, um zu bekräftigen, daß sie seine Botschaft und von ihm ausgegangen war, mit diesem herrlichen Zeugnis, und zwar zu außerordentlicher Stärkung der Apostel selbst wie auch aller, zu denen sie dringen sollte. Es war von Belang, daß die Apostel eine sichere und beständige Gewißheit für ihre Predigt bekamen; denn sie sollten nicht allein unendlichen Mühen, Sorgen, Unbequemlichkeiten und Gefahren entgegengehen, sondern diese Predigt auch schließlich mit ihrem Blute besiegeln! Damit sie nun, so meine ich, wußten, daß diese Botschaft nicht eitel und inhaltlos, sondern voller Gewalt und Kraft war, so war es von Belang, daß sie in so großer Bedrängnis, so großen Schwierigkeiten der Verhältnisse und so großen Gefahren die Überzeugung hatten, daß sie Gottes Sache trieben, es war von Belang, daß sie inmitten der Gegnerschaft und des Widerstandes der ganzen Welt erkannten, daß Gott ihnen zur Seite stand, es war von Belang, daß sie begriffen, daß Christus, den sie zwar dem Anblick nach nicht auf Erden bei sich gegenwärtig hatten, im Himmel sei, um die Wahrheit der Lehre zu bekräftigen, die er ihnen übergeben hatte! Auf der anderen Seite mußte es auch ihren Zuhörern aufs gewisseste bezeugt sein, daß jene Lehre des Evangeliums nicht das Wort der Apostel war, sondern Gottes eigenes Wort, daß sie nicht auf Erden entstanden, sondern vom Himmel herabgekommen war. Denn solche Dinge wie die Vergebung der Sünden, die Verheißung des ewigen Lebens und die Botschaft des Heils können ja nicht in der Gewalt des Menschen stehen. Christus hat also bezeugt, daß an der Predigt des Evangeliums den Aposteln nichts eigen war als der Dienst, daß dagegen er es war, der durch ihren Mund wie durch ein Werkzeug alles reden und verheißen wollte. Deshalb sei, so bezeugte er, die Vergebung der Sünden, die sie verkündigten, Gottes wahrhaftige Verheißung, die Verdammnis, die sie androhten, Gottes gewisses Urteil. Dieses Zeugnis aber ist für alle Zeiten gegeben, und es bleibt fest bestehen, um allen die Gewißheit und Sicherheit zu verleihen, daß das Wort des Evangeliums, von welchem Menschen es schließlich auch verkündigt werden mag, Gottes höchsteigener
Spruch ist, vor dem höchsten Richterstuhl verkündet, im Buche des Lebens aufgezeichnet und im Himmel gültig, fest und unwandelbar. Wir sehen also, daß die Schlüsselgewalt an jenen Stellen einfach die Predigt des Evangeliums ist, und daß sie, wenn wir auf die Menschen unser Augenmerk richten, nicht sowohl eine Gewalt, als vielmehr einen Dienst darstellt. Denn im eigentlichen Sinne hat Christus diese Vollmacht nicht Menschen gegeben, sondern seinem Worte, zu dessen Dienern er die Menschen gemacht hat.
IV,11,2
Es gibt dann, wie gesagt, noch eine zweite Stelle, die von der Vollmacht zum Binden und Lösen handelt. Diese findet sich Matthäus 18 (Matth. 18,17f.); da spricht Christus: „Wenn ein Bruder die Kirche nicht hört, so halt’ ihn als einen Heiden und Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr lösen werdet, das soll gelöst sein“ (Matth. 18,17f.; nicht immer Luthertext). Diese Stelle ist der erstgenannten nicht in jeder Hinsicht ähnlich, sondern in einem etwas verschiedenen Sinne zu verstehen. Freilich halte ich die beiden Stellen auch nicht für so verschieden, daß sie nicht miteinander viel Verwandtes hätten. Gemeinsam ist ihnen vor allem dies: es handelt sich bei beiden um allgemeine Aussagen, die Vollmacht zum Binden und Lösen ist in beiden Fällen von der gleichen Art - sie geschieht nämlich durch das Wort Gottes -, gleich ist der Auftrag und gleich ist auch die Verheißung. Dagegen unterscheiden sich die beiden Stellen darin, daß die erste in besonderer Weise von der Predigt handelt, die die Diener am Wort üben, die zweite sich dagegen auf die Bannzucht bezieht, die der Kirche zugestanden ist. Die Kirche „bindet“ nun den, den sie in den Bann tut - nicht, daß sie ihn in ewiges Verderben und ewige Verzweiflung stürzt, sondern daß sie sein Leben und seinen Wandel verurteilt und ihn, wofern er sich nicht bekehrt, schon jetzt an seine Verdammnis gemahnt. Sie „löst“ den, den sie wieder in ihre Gemeinschaft aufnimmt; denn sie macht ihn damit gleichsam zum Teilgenossen an der Einheit, die sie in Christo Jesu hat. Damit also niemand halsstarrig das Urteil der Kirche verachtet oder es gering anschlägt, daß er durch den Spruch der Gläubigen verurteilt ist, bezeugt der Herr, daß solch Urteil der Gläubigen nichts anderes ist als die Verkündung seines eigenen Spruchs, und daß das, was die Gläubigen aus Erden vollzogen haben, im Himmel als gültig angesehen wird. Denn die Gläubigen haben das Wort Gottes, um die Verkehrten zu verdammen, sie haben das Wort, um die, die da umkehren, wieder zu Gnaden anzunehmen. Irren aber können sie nicht, auch können sie nicht im Widerspruch zu Gottes Urteil stehen; denn sie urteilen allein auf Grund des Gesetzes Gottes, und das ist keine ungewisse oder irdische Meinung, sondern Gottes heiliger Wille und himmlisches Offenbarungswort!
Aus diesen beiden Stellen, die ich kurz und dazu auch verständlich und wahrheitsgemäß ausgelegt zu haben meine, versuchen nun jene Schwarmgeister (die Papisten) ohne Unterschied, je nachdem, wie sie ihr Schwindel treibt, bald die Beichte, bald den Bann, bald die Rechtsprechung, bald das Recht zur Gesetzgebung, bald den Ablaß zu begründen. Die erste Stelle führen sie auch noch an, um die Obergewalt des römischen Stuhls zu beweisen. So wissen sie ihre „Schlüssel“, je wie es ihnen gefällt, für alle Schlösser und Türen passend zu machen, so daß man sagen möchte, sie hätten ihr Leben lang das Schlosserhandwerk betrieben!
IV,11,3
Manche Leute bilden sich nun ein, all dies sei bloß zeitlich (und vorübergehend) gewesen, weil dazumal die Obrigkeiten dem Bekenntnis unserer Religion noch fremd gegenübergestanden hätten. Wer das meint, der täuscht sich, weil er nicht beachtet, was für ein großer Unterschied und was für eine erhebliche Ungleichartigkeit zwischen der kirchlichen und der bürgerlichen Gewalt besteht. Denn die Kirche besitzt nicht das Schwertrecht, um damit zu strafen und zu züchtigen, sie hat keine Befehlsgewalt, um einen Zwang auszuüben, sie hat keinen
Kerker und auch keine anderen Strafen, wie sie gewöhnlich von der Obrigkeit verhängt werden. Außerdem hat die Kirche nicht im Sinne, daß der, der sich vergangen hat, gegen seinen Willen gestraft werde, nein, er soll durch freiwillige (Hinnahme der) Züchtigung seine Bußfertigkeit erzeigen. Es handelt sich also um zwei ganz verschiedene Dinge; denn weder maßt sich die Kirche etwas an, das der Obrigkeit eigentümlich wäre, noch kann die Obrigkeit ausrichten, was die Kirche vollbringt. An einem Beispiel wird das leichter verständlich werden. Nehmen wir an, es hat sich jemand betrunken. In einer Stadt mit richtiger Ordnung wird er in diesem Fall mit Gefängnis bestraft. Oder nehmen wir an, er hat Unzucht getrieben. Dann wird er ähnlich oder auch noch härter bestraft. Damit ist den Gesetzen, der Obrigkeit und dem äußeren Gericht Genüge geschehen. Nun kann es aber vorkommen, daß der Betreffende kein Zeichen von Buße erkennen läßt, sondern vielmehr noch dagegen murrt und schimpft. Soll es nun die Kirche dabei bewenden lassen? Nun können aber solche Leute nicht zum Abendmahl zugelassen werden, ohne daß damit Christus und seiner heiligen Stiftung Schande erwächst. Auch erfordert es die Vernunft, daß einer, der der Kirche durch böses Beispiel Anstoß bereitet hat, dieses Ärgernis, das er erregt hat, durch feierliche Beteuerung seiner Bußfertigkeit behebt.
Die Ursache, die nun jene Leute, die entgegengesetzter Ansicht sind, für sich anführen, ist gar zu bedeutungslos. Sie sagen: Christus hat diese Aufgabe der Kirche aufgetragen, weil es keine Obrigkeit gab, um sie auszuführen. Aber es kommt doch häufig vor, daß die Obrigkeit einigermaßen nachlässig ist, ja vielleicht gar manchmal, daß sie selbst gestraft werden muß, wie es auch dem Kaiser Theodosius widerfahren ist. Zudem könnte das gleiche fast von dem gesamten Dienst am Wort gesagt werden. Nun laß also die Hirten einmal nach der Ansicht jener Leute aufhören, die offenbaren Laster zu strafen, daß sie aufhören, zu tadeln, zu beschuldigen und zu schelten! Denn es gibt ja christliche Obrigkeiten, die dergleichen mit den Gesetzen und mit dem Schwert strafen sollen! Ich sage jedenfalls trotzdem: wie die Obrigkeit mit Strafe und Zwangsübung die Kirche von den Ärgernissen reinigen muß, so muß der Diener am Wort wiederum der Obrigkeit beistehen, damit nicht so viele Leute sündigen. So müssen beide Dienste miteinander verbunden sein, so daß einer dem anderen behilflich und nicht hinderlich ist.
IV,11,4
Und wahrlich, wenn jemand Christi Worte (Matth. 18) genauer erwägt, dann wird er mit Leichtigkeit erkennen, daß in ihnen eine beständige und bleibende Ordnung in der Kirche beschrieben wird, nicht aber eine bloß zeitliche. Denn es ist nicht sinngemäß, daß wir die, die unseren (persönlichen) Vermahnungen nicht gehorchen wollen, bei der Obrigkeit anzeigen - und doch müßte es so geschehen, wenn die Obrigkeit inzwischen an die Stelle der Kirche getreten wäre! Christus gibt die Verheißung: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, was ihr binden werdet auf Erden ...”; sollen wir nun sagen, diese bezöge sich nur auf ein einziges Jahr oder auf einige wenige? Außerdem hat Christus an dieser Stelle nichts Neues eingerichtet, sondern er ist der Gewohnheit gefolgt, die in der alten Kirche seines Volkes stets innegehalten worden war, und damit gab er zu erkennen, daß die Kirche der geistlichen Rechtsprechung nicht entbehren kann, die seit Anbeginn bestanden hatte. Und das ist auch durch das einmütige Urteil aller Zeiten bekräftigt worden. Denn als die Kaiser und die Obrigkeiten anfingen, sich zu Christus zu bekennen, da hat man nicht etwa gleich die geistliche Rechtsprechung abgeschafft, sondern sie nur in der Weise geordnet, daß sie der bürgerlichen keinen Abbruch tat und mit ihr nicht durcheinandergebracht wurde. Und das mit Recht; denn eine Obrigkeit wird sich, wenn sie fromm ist, nicht etwa dem gemeinsamen Gehorsam der Kinder Gottes entziehen wollen, dessen nicht unwichtigstes Stück es ist, sich der Kirche, wenn sie nach Gottes Wort urteilt, zu unterwerfen -
geschweige denn, daß sie etwa solches Urteil abschaffen müßte! „Denn was gibt es Ehrenvolleres“, sagt Ambrosius, „als daß der Kaiser ein Sohn der Kirche genannt werde? Denn ein guter Kaiser steht innerhalb der Kirche und nicht über der Kirche“ (Predigt gegen Auxentius 36). Jene Leute also, die, um die Obrigkeit zu ehren, der Kirche solche Gewalt rauben, die verfälschen nicht nur durch unrichtige Auslegung Christi Wort, sondern sprechen zugleich über alle heiligen Bischöfe, deren es seit der Zeit der Apostel so viele gegeben hat, ein sehr hartes Verdammungsurteil, weil diese sich (dann) unter einem falschen Vorwand die Ehre und das Amt der Obrigkeit angemaßt hätten.
IV,11,5
Aber auf der anderen Seite ist es auch angebracht, daß wir zusehen, auf welche Weise man in alter Zeit die kirchliche Rechtsprechung geübt hat und was für ein großer Mißbrauch dann eingeschlichen ist. Das ist von Nutzen, damit wir erfahren, was abgeschafft und was aus der alten Zeit wiedereingeführt werden muß, wenn wir, nachdem das Reich des Antichrist gestürzt ist, das wahre Reich Christi wieder aufrichten wollen.
In erster Linie hat nun die kirchliche Rechtsprechung den Richtpunkt, daß den Ärgernissen gewehrt und daß ein etwa entstandenes Ärgernis aus dem Wege geräumt werde. Bei ihrer Ausübung sind vor allem zwei Dinge zu beachten: erstens muß diese geistliche Gewalt von dem (der Obrigkeit zustehenden) Schwertrecht voll und ganz geschieden werden, und zweitens darf ihre Ausübung nicht nach dem Ermessen eines einzelnen, sondern nur durch eine rechtmäßige Versammlung geschehen.
Beides ist bei der reineren Kirche so gehandhabt worden (1. Kor. 5,4f.).
(1.) Denn die heiligen Bischöfe haben ihre Gewalt nicht mit prügeln oder mit dem Kerker oder mit anderen bürgerlichen Strafen ausgeübt, sondern sie haben, wie es sich gebührte, allein das Wort des Herrn angewandt. Denn die strengste Strafe, die die Kirche anwenden kann, gleichsam der allerschlimmste Wetterstrahl, ist der Bann, der allein in der Not zur Anwendung kommt. Dieser aber erfordert nicht Gewalt noch Handanlegung, sondern begnügt sich mit der Gewalt des Wortes Gottes. Kurzum, die Rechtsprechung der alten Kirche war nichts anderes als sozusagen eine mit der Tat erfolgte (practica) Erklärung dessen, was Paulus über die geistliche Gewalt der Hirten lehrt. „Uns ist“, so sagt er, „eine Gewalt gegeben, um damit Befestigungen zu zerstören, um alle Höhe zu erniedrigen, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, um alle Erkenntnis zu unterwerfen und sie gefangenzunehmen unter den Gehorsam Christi; wir sind aber bereit, zu rächen allen Ungehorsam“ (2. Kor. 10,4-6; nicht überall Luthertext, teilweise ungenau). Wie nun aber dies durch die Predigt der Lehre Christi geschieht, so müssen andererseits die, die sich als Hausgenossen des Glaubens bekennen, eben auf Grund dessen, was gelehrt wird, auch beurteilt werden, damit die Lehre nicht zum Gespött wird. Das aber kann nicht geschehen, als wenn mit dem Amte zugleich das Recht verbunden ist, diejenigen aufzurufen, die persönlich vermahnt oder schärfer zurechtgewiesen werden müssen, und auch das Recht, diejenigen von der Gemeinschaft am Heiligen Abendmahl fernzuhalten, die nicht ohne Entheiligung dieses großen Geheimnisses (Sakraments) zugelassen werden könnten. Während also Paulus an anderer Stelle erklärt, es sei nicht unsere Sache, „die draußen“ zu „richten“ (1. Kor. 5,12), unterwirft er die Kinder der Kirche der Zuchtübung, durch die ihre Laster gestraft werden sollen, und deutet damit an, daß damals (in der Kirche) eine Gerichtsbarkeit bestand, der keiner unter den Gläubigen entnommen war.
IV,11,6
(2.) Solche Gewalt aber lag, wie wir bereits festgestellt haben, nicht bei einem einzelnen, so daß er nach seinem Gutdünken hätte tun können, was er wollte, sondern bei der Versammlung der Ältesten, die in der Kirche das darstellte, was in der Stadt der Rat ist. Wenn Cyprian erwähnt, durch welche Männer diese Gewalt zu seiner Zeit ausgeübt wurde, so pflegt er dem Bischof den gesamten „Klerus“ beizuordnen (Brief 16,2; 17,2). Jedoch zeigt er an anderer Stelle auch, wie zwar der „Klerus“ dabei die Leitung hatte, aber doch so, daß unterdessen das „Volk“ nicht von der Untersuchung ausgeschlossen wurde; er schreibt nämlich: „Seit dem Anfang meiner Wirksamkeit als Bischof habe ich mir vorgenommen, ohne den Rat des Klerus und die Einwilligung des Volkes nichts zu unternehmen“ (Brief 14,4). Die allgemeine und gebräuchliche Art und Weise war aber die, daß die Rechtsprechung der Kirche durch den Rat der „Presbyter“ (Ältesten) ausgeübt wurde. Unter diesen gab es, wie gesagt, zwei Gruppen; die einen waren nämlich zum Lehren bestimmt, die anderen dagegen waren bloß Aufseher über die Sitten. Allmählich ist diese Einrichtung von ihrer ursprünglichen Art abgekommen, so daß bereits zur Zeit des Ambrosius allein die „Kleriker“ in den kirchlichen Gerichten an der Untersuchung teilnahmen. Das beklagt Ambrosius selbst mit den Worten: „Die alte Synagoge und hernach die Kirche hatte Älteste, ohne deren Rat nichts unternommen wurde; das ist nun durch ich weiß nicht welche Nachlässigkeit heute in Abgang geraten - es müßte denn vielleicht die Lässigkeit oder besser die Hoffart der Lehrer daran schuld sein, indem diese allein den Eindruck machen wollen, als wären sie etwas“ (Pseudo-Ambrosius, über den ersten Timotheusbrief, 5,1). Da sehen wir, wie sehr dieser heilige Mann darüber zürnt, daß etwas von dem besseren Stande der Kirche in Zerfall geraten ist, während doch für die Menschen seiner Zeit eine wenigstens erträgliche Ordnung noch bestand. Was würde er also wohl sagen, wenn er die heutigen ungestaltigen Trümmer anschaute, die fast keine Spur des alten Bauwerks mehr erkennen lassen? Was für eine Wehklage würde er da erst halten?
Zunächst hat sich der Bischof gegen Recht und Gerechtigkeit allein angemaßt, was doch der Kirche gegeben war. Das ist nämlich genau so, als wenn ein Konsul den Senat vertriebe und die Herrschaft allein in Beschlag nähme! Obwohl der Bischof nun aber den anderen gegenüber an Ehre den Vorrang hat, so besitzt doch andererseits die gesamte Amtsgenossenschaft mehr Autorität als ein einzelner Mensch. Es war also eine gar zu schändliche Tat, daß ein einzelner Mensch die gemeinsame Gewalt (der Kirche) auf sich übertrug und dann sowohl tyrannischer Willkür den Zugang eröffnete, als auch die Kirche ihres Rechtes beraubte, als auch die von Christi Geist verordnete Versammlung unterdrückte und abschaffte.
IV,11,7
Aber - wie ja stets ein Übel aus dem anderen entsteht - die Bischöfe haben dann die Sache wieder geringschätzig von sich geschoben und auf andere übertragen, als ob sie ihrer Fürsorge nicht wert wäre. Infolgedessen hat man die „Offiziale“ eingesetzt, um dies Amt auszuüben. Ich rede noch nicht davon, was für eine Art Leute das sind, sondern behaupte nur dies, daß sie sich von den weltlichen Richtern in nichts unterscheiden. Und doch nennt man das noch „geistliche“ Rechtsprechung, obwohl da ausschließlich um irdischer Dinge willen prozessiert wird! Woher nehmen denn diese Leute, selbst wenn es dabei sonst keine Mißstände gäbe, die Frechheit, mit der sie einen solchen Gerichtshof, an dem man (wie sonst überall) seine Rechtsstreitigkeiten austrägt, als „Gericht der Kirche“ zu bezeichnen wagen?
Aber, so entgegnet man, es finden doch da auch Vermahnungen statt, auch gibt es dabei den Bann! Ja, wahrhaftig, so treibt man mit Gott seinen Spott. Wenn da also irgendein armer Mann Geld schuldig ist, so lädt man ihn vor. Erscheint er, so verurteilt man ihn. Wenn nun der Verurteilte nicht zahlt, so wird er „vermahnt“! Und nachdem man ihn zweimal „vermahnt“ hat, geht man noch einen Schritt weiter und tut ihn in den „Bann“. Erscheint er aber nicht, so wird er „ermahnt“, sich dem Gericht zu stellen; säumt er damit, so wird er (wieder) „gemahnt“ und dann alsbald in den „Bann“ getan! Ich frage nun: was hat das überhaupt noch mit der Einsetzung Christi oder mit der ursprünglichen Sitte oder mit kirchlicher Handlungsweise zu tun?
Aber, so entgegnet man abermals, bei diesen „Kirchengerichten” wird doch auch Sünde gestraft! Ja, wahrhaftig, Hurerei, Ungebundenheit, Trunksucht und dergleichen Schandtaten werden von diesen Leuten nicht nur geduldet, sondern gewissermaßen durch stillschweigende Billigung gar noch gefördert und bestärkt, und zwar nicht nur im Volke, sondern auch unter den „Klerikern“ selbst! Unter vielen (derartigen Missetätern) laden sie einige wenige vor, entweder, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ob sie im Übersehen gar zu lässig wären, oder aber, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich schweige noch von der Ausbeutung, der Räuberei, dem Diebstahl und der Heiligtumsschändung, die sich daraus ergeben. Ich schweige davon, was für Leute man zumeist für dieses Amt auswählt. Es ist übergenug, daß man, wenn die Römischen ihre „geistliche Rechtsprechung“ rühmen, leicht aufweisen kann, daß es nichts gibt, was zu dem von Christus eingerichteten Verfahren in größerem Gegensatz stünde, und daß ihre Sache mit der ursprünglichen Gepflogenheit nicht mehr Ähnlichkeit hat als die Finsternis mit dem Licht.
IV,11,8
Obwohl wir nicht alles gesagt haben, was hier hätte angeführt werden können, und obwohl das, was wir darlegten, nur mit wenigen Worten berührt wurde, so bin ich doch der guten Zuversicht, den Streit so weit gewonnen zu haben, daß jetzt niemand mehr einen Grund hat, darüber im unklaren zu sein, daß die „geistliche Gewalt“, auf die sich der Papst samt seinem ganzen Reiche hochmütig beruft, eine Tyrannei darstellt, die eine Gottlosigkeit gegen das Wort Gottes und eine Ungerechtigkeit gegen das Volk Gottes ist. Unter dem Namen „geistliche Gewalt“ begreife ich nun sowohl die Vermessenheit der Papisten im Zusammenschmieden von neuen Lehren, mit denen sie das arme Volk von der lauteren Reinheit des Wortes Gottes abgelenkt haben, als auch die unbilligen Satzungen, in die sie es verstrickt haben, als auch die zu Unrecht als „kirchlich“ bezeichnete Rechtsprechung, die sie durch ihre „Suffragane“ und „Offiziale“ ausüben. Denn wenn wir Christus unter uns herrschen lassen, so kann es nicht anders sein, als daß alle derartige Herrschaft sogleich zu Boden geworfen wird und zusammenbricht.
Das Schwertrecht aber, das sie sich auch zusprechen, gehört nicht in die hier vorliegende Erörterung hinein, weil es nicht an den Gewissen geübt wird. Doch ist es auch in diesem Stück angebracht, darauf zu achten, daß sie sich allezeit gleich bleiben, nämlich nichts weniger sind als das, wofür sie gehalten werden wollen: Hirten der Kirche.
Auch erhebe ich meine Beschuldigungen nicht gegen besondere Laster von (einzelnen) Menschen, sondern gegen die gemeinsame Ruchlosigkeit des ganzen Standes, ja, gegen die Pest dieses Standes selbst; denn dieser meint in seinen Rechten verkürzt zu sein, wenn er sich nicht durch Reichtum und hoffärtige Titel Ansehen verschafft hat. Wenn wir in dieser Sache nach Christi Autorität fragen, so besteht kein Zweifel, daß er die Diener an seinem Wort von bürgerlicher Herrschaft und irdischer Befehlsgewalt hat
fernhalten wollen, indem er sagte: „Die Könige der Völker herrschen über sie ... So soll es nicht sein unter euch ...“ (Matth. 20,25f.; Luk. 22,25f.). Denn damit gibt er nicht nur zu verstehen, daß das Amt eines Hirten von dem Amt eines Fürsten verschieden ist, sondern daß es sich hier um Dinge handelt, die zu sehr voneinander getrennt sind, als daß sie in einem einzigen Menschen zusammentreffen könnten.
Denn daß Mose beide Ämter zugleich innegehabt hat, ist erstens durch ein seltenes Wunder zustande gekommen, und zweitens war es etwas Zeitliches (und galt nur so lange), bis die Zustände besser geordnet waren. Als der Herr aber eine bestimmte Form vorschreibt, da wird dem Mose die bürgerliche Regierung überlassen, dagegen wird ihm befohlen, das Priesteramt an seinen Bruder (Aaron) abzutreten (Ex. 18,13-26). Und das mit Recht; denn es geht über die Natur, daß ein einziger Mensch diesen beiden Bürden Genüge tut.
So hat man es denn auch in der Kirche zu allen Zeiten fleißig gehalten. Auch ist, solange eine der Wahrheit entsprechende Gestalt der Kirche vorhanden blieb, unter den Bischöfen nicht ein einziger aufgetreten, der danach getrachtet hätte, sich das Schwertrecht anzumaßen, so daß es zur Zeit des Ambrosius ein allgemein übliches Sprichwort war, die Kaiser hätten mehr Begehren nach der Priesterwürde getragen als die Priester nach der Kaiserherrschaft (Ambrosius, Brief 20,23). Denn es war allen Leuten tief ins Herz gegraben, was er hernach ausspricht, zum Kaiser gehörten die Paläste, zum Priester die Kirchen (Brief 20,19).
IV,11,9
Nachdem man sich aber einmal das Verfahren ausgedacht hatte, kraft dessen die Bischöfe den Titel, die Würde und den Reichtum ihres Amtes behielten, aber ohne die damit verbundene Bürde und Mühewaltung, da hat man ihnen, um sie nicht ganz und gar müßig gehen zu lassen, das Schwertrecht gegeben oder vielmehr: sie haben es sich selber angemaßt. Mit welchem Vorwand werden sie nun diese Unverschämtheit eigentlich verteidigen? War es denn Sache der Bischöfe, sich mit der Untersuchung von Rechtssachen und der Verwaltung von Städten und Provinzen zu bemengen und sich in weitestem Umfange Geschäften zu widmen, die mit ihnen so rein nichts zu tun haben? Und das, wo sie in ihrem eigenen Amte soviel Arbeit und Beschäftigung haben, daß sie ihm, wenn sie sich dabei voll und ganz und ohne Unterlaß einsetzten und sich nicht durch irgendwelche Zerstreuungen davon ablenken ließen, doch kaum zu genügen vermöchten!
Trotzdem aber tragen sie in der ihnen eigenen Halsstarrigkeit kein Bedenken, noch rühmend den Anspruch zu erheben, auf solche Weise komme die Ehre des Reiches Christi nach Gebühr zur Blüte, und von den Aufgaben ihres Berufes würden sie unterdessen keineswegs zu sehr abgelenkt.
Was nun die erste Behauptung anbetrifft: wenn das der gebührende Schmuck des heiligen Amtes ist, daß sie bis zu einem solchen Gipfel emporgestiegen sind, daß sie selbst für die höchstgestellten Monarchen furchterregend sind - dann haben sie wirklich Grund, mit Christus zu rechten, der (wenn es so steht) in dieser Hinsicht ihre Ehre ernstlich verletzt hat. Denn er sagt doch: „Die Könige der Völker herrschen über sie ... So soll es nicht sein unter euch ...” (Matth. 20,25f.; Luk. 22,25f.; nicht Luthertext). Was hätte nun aber, nach ihrer Meinung wenigstens Verächtlicheres gesagt werden können als diese Worte? Und doch hat er seinen Knechten kein härteres Gesetz auferlegt, als er es selbst zuerst für sich gemacht und auf sich genommen hat. „Wer hat mich“, so spricht er, „zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?“ (Luk. 12,14). Wir sehen, daß er das Richtamt einfach von sich abweist, und das hätte er nicht getan, wenn es etwas wäre, das mit seinem Amte in Einklang stünde. Sollen sich nun die Knechte nicht unter die Schranke zwingen lassen, der sich ihr Herr gefügt hat?
Und was die zweite Behauptung angeht, so wollte ich wohl, daß sie sie ebensosehr mit der Tat bewiesen, als es ja leicht ist, sie immer wieder auszusprechen. Da es aber den Aposteln nicht richtig erschien, „das Wort Gottes zu unterlassen und zu Tische zu dienen“ (Apg. 6,2), so werden diese Bischöfe eben durch die Tatsache, daß sie sich nicht lehren lassen wollen, davon überführt, daß es nicht Sache desselben Mannes ist, einen guten Bischof und einen guten Fürsten abzugeben. Denn wenn die Apostel, die bei der Fülle der Gaben, mit denen sie ausgerüstet waren, weit mehr und weit schwereren Sorgen zu genügen vermochten als irgendwelche nach ihnen geborene Menschen, trotzdem bekannt haben, daß sie dem Dienst am Wort und dem Dienst zu Tische nicht zugleich obliegen konnten, ohne unter der Bürde zusammenzubrechen - wie sollten dann jene Leute, die im Vergleich mit den Aposteln doch ganz unbedeutende Menschlein sind, hundertmal mehr leisten können als sie? Das aber zu versuchen ist ein Zeichen von höchst unverschämtem und gar zu vermessenem Selbstvertrauen gewesen. Und doch sehen wir, daß es geschehen ist - mit welchem Ergebnis, liegt auf der Hand! Denn es konnte ja gar nichts anderes dabei herauskommen, als daß diese Bischöfe ihre eigene Amtsaufgabe verließen und sich auf ein fremdes Feld begaben.
IV,11,10
Es besteht auch kein Zweifel, daß sie aus geringen Anfängen heraus nach und nach so gewaltige Fortschritte gemacht haben. Denn sie konnten nicht gleich mit dem ersten Schritt auf eine solche Höhe emporklettern. Nein, bald haben sie sich durch Verschlagenheit und versteckte Künste insgeheim emporgehoben, so daß niemand vorhersah, was geschehen sollte, bis es soweit war, - bald haben sie von den Fürsten bei günstiger Gelegenheit mit Druck und Drohungen einige Vermehrung ihrer Macht erpreßt - bald auch, wenn sie sahen, daß die Fürsten bereitwillig geneigt waren, etwas herzugeben, haben sie ihre törichte und unberatene Gutwilligkeit mißbraucht.
Wenn in alter Zeit eine Meinungsverschiedenheit aufkam, dann übertrugen die Frommen, um die Notwendigkeit von Gerichtshändeln zu vermeiden, die Entscheidung dem Bischof, weil sie an seiner Aufrichtigkeit keinen Zweifel hatten. In derartige Entscheidungen wurden die alten Bischöfe öfters hineingezogen - und das mißfiel ihnen zwar, wie Augustin an einer Stelle bezeugt, aufs höchste; aber sie unterzogen sich wider ihren Willen dieser Mühsal doch, damit sich die Parteien nicht vor das Gericht mit seinem Hader begaben. Die Bischöfe der Papisten aber haben aus diesen auf Freiwilligkeit beruhenden Entscheidungen, die zu dem Gerichtslärm in völligem Gegensatz standen, eine ordentliche Rechtsprechung gemacht.
Als einige Zeit später Städte und Länder von vielfältigen Nöten bedrückt wurden, da stellten sie sich unter die Obhut der Bischöfe, um unter ihrem Schutz gedeckt zu sein - die papistischen Bischöfe aber haben sich mit bewundernswerter Kunstfertigkeit aus Beschützern zu Herren gemacht!
Daß sie einen wesentlichen Teil ihrer Macht durch gewalttätigen Aufruhr gewonnen haben, läßt sich nicht bestreiten. Die Fürsten aber, die aus freiem Entschluß den Bischöfen die Rechtsprechung übertragen haben, die wurden dazu durch verschiedenartige Beweggründe getrieben. Aber mag ihre Nachsicht auch einen Schein von Frömmigkeit an sich getragen haben, so haben sie doch dem Wohlergehen der Kirche durch diese falsch angebrachte Freigebigkeit nicht den besten Dienst erwiesen; denn sie haben damit die alte und der Wahrheit entsprechende Ordnung der Kirche verderbt, ja, um die Wahrheit zu sagen, sie haben sie ganz und gar abgeschafft. Die Bischöfe aber, die solche Güte der Fürsten zu ihrem eigenen Vorteil mißbraucht haben, die haben durch dies eine Beispiel übergenug bezeugt, daß sie keineswegs Bischöfe sind. Denn wenn sie auch nur ein Fünklein des apostolischen Geistes gehabt hätten, so hätten sie mit dem Wort des Paulus geantwortet:
„Die Waffen unserer Ritterschaft sind nicht fleischlich, sondern geistlich“ (2. Kor. 10,4; Schluß sehr ungenau). Aber indem sie sich von blinder Gier fortreißen ließen, haben sie sowohl sich selbst als auch ihre Nachkommen, als auch die Kirche verdorben.
IV,11,11
Schließlich hat der Bischof von Rom, nicht zufrieden mit mittelgroßen Herrschaftsgebieten, zunächst an Königreiche und schließlich gar an das Kaiserreich die Hand gelegt. Und um den durch reine Räuberei gewonnenen Besitz mit einigem Schein (des Rechts) zu behalten, so rühmt er bald, ihn nach „göttlichem Recht“ innezuhaben, bald gebraucht er die „Konstantinische Schenkung“, bald auch andere Rechtsgründe als Vorwand. Zunächst antworte ich da mit Bernhard: „Es mag sein, daß er seine Ansprüche im übrigen mit irgendwelchem Recht begründet, so tut er es jedenfalls nicht mit apostolischem Recht. Denn Petrus konnte nicht abgeben, was er gar nicht besaß, sondern er gab seinen Nachfolgern, was er hatte, nämlich die Sorge für die Kirchen“ (Bernhard von Clairvaux, Büchlein von der Besinnung an den Papst Eugen den Dritten, II,6,10). „Da aber der Herr und Meister sagt, er sei nicht zum Richter zwischen zwei Leuten gesetzt (Luk. 12,14), so darf der Knecht und Jünger nicht meinen, es sei seiner unwürdig, wenn er nicht alle Menschen richtete“ (Ebenda I,6,7). Bernhard redet aber (hier) von bürgerlichen Rechtssachen; denn er fährt gleich fort: „Eure Gewalt bezieht sich auf Sünden und nicht auf Besitztümer; denn um der Sünden und nicht um der Besitztümer willen habt ihr die Schlüssel des Himmelreichs empfangen. Welche Würde kommt dir nun größer vor, Sünden zu vergeben oder Güter zu verteilen? Da ist doch gar kein Vergleich möglich! Diese untergeordneten und irdischen Dinge haben ihre Richter, nämlich die Könige und Fürsten der Erde. Wozu brecht Ihr nun in fremdes Gebiet ein ...?” (Ebenda). Ebenso sagt er: „Du - er redet den Papst Eugen an - bist nun ein Oberer geworden. Wozu? Doch nicht zum Herrschen, meine ich. Wir wollen uns alle, so hoch wir auch von uns denken mögen, daran erinnern, daß uns ein Dienst auferlegt, nicht aber eine Herrschaft gegeben ist. Lerne es, daß du eine (Weinberg-)Hacke nötig hast, nicht aber ein Zepter, um das Werk eines Propheten zu verrichten“ (Ebenda II,6,9). Oder ebenso: „Es ist klar, daß den Aposteln Herrschaft verwehrt wird. Nun geh’ du also hin und wage es, dir als Herrschender das Apostelamt oder als Träger eines apostolischen Amtes die Herrschaft anzumaßen!“ (Ebenda, II,6,10f.). Und gleich darauf: „Die apostolische Art ist so beschaffen: Herrschaft wird verboten, Dienstschaft wird geboten“ (Ebenda II,6,11). Der Mann hat das doch so gesagt, daß es für jedermann offenkundig ist, daß er die Wahrheit selber ausspricht, ja, die Sache ist auch ohne jegliche Worte klar - trotzdem aber hat sich der römische Papst auf dem Konzil zu Arles (1234) nicht gescheut, die Entscheidung zu treffen, daß ihm die oberste Gewalt beider Schwerter (des „weltlichen“ und des „geistlichen“) nach „göttlichem Recht“ zustehe!
IV,11,12
Was nun die Konstantinische Schenkung betrifft, so bedürfen alle, die in der Geschichte jener Zeiten auch nur mittelmäßig bewandert sind, keiner Belehrung darüber, was für eine unglaubwürdige, ja geradezu lächerliche Sache das ist. Aber um die Geschichte beiseite zu lassen, so ist schon Gregor (I.) allein ein geeigneter und in höchstem Maße glaubwürdiger Zeuge dafür. Denn jedesmal, wenn er von dem Kaiser redet, nennt er ihn seinen „allergnädigsten Herrn“ und sich selbst seinen „unwürdigen Knecht“ (Brief I,5; IV,20; III,61). Ebenso sagt er an anderer Stelle: „Über die Priester aber möge sich unser Herr (der Kaiser!) um seiner irdischen Macht willen nicht so schnell erzürnen; nein, um des willen, dessen Knechte
sie sind (um Christi willen!), möge er in erhabener Bedachtsamkeit dergestalt über sie herrschen, daß er ihnen zugleich die gebührende Ehrerbietung erzeige“ (Brief V,36). Wir sehen, wie er mit Bezug auf den allgemeinen (von allen zu leistenden) Gehorsam wie einer aus dem Volke angesehen werden will. Denn an dieser Stelle betreibt er nicht die Sache von irgend jemand anders, sondern seine eigene. An einer anderen Stelle sagt er: „Ich habe zu dem allmächtigen Gott das Zutrauen, daß er den frommen Herren ein langes Leben bescheidet, damit er uns unter Eurer Hand nach seiner Barmherzigkeit leite“ (Brief V,39). Ich habe diese Äußerungen nicht etwa deshalb angeführt, weil ich die Absicht hätte, die Frage bezüglich der Konstantinischen Schenkung gründlich zu erörtern, sondern nur, damit die Leser im Vorbeigehen merken, wie kindisch die Römischen lügen, wenn sie sich bemühen, für ihren Papst auf die irdische Herrschaft Anspruch zu machen.
Um so schnöder war die Schamlosigkeit des Augustinus Steuchus, der es gewagt hat, dem römischen Papst in einer so hoffnungslosen Angelegenheit seine Arbeit und seine Zunge zu verkaufen. Valla hatte, was für einen gelehrten und scharfsinnigen Mann auch nicht schwierig war, jene Fabel (nämlich die „Konstantinische Schenkung“) gründlich widerlegt. Doch hatte er als ein Mann, der in kirchlichen Dingen zu wenig bewandert war, nicht alles gesagt, was zur Sache hätte dienen können. Da legte sich nun Steuchus ins Zeug und streute widerliche Possen aus, um das klare Licht zu verdunkeln. Und wahrlich, er hat die Sache seines Herrn nicht weniger unbedeutend geführt, als wenn irgendein Witzbold so täte, als ob er das gleiche betriebe, und damit (tatsächlich) dem Valla beipflichtete. Aber die Sache ist es eben wert, daß der Papst dafür derartige Beschützer um Lohn kauft, und diese gemieteten Zungendrescher sind es gleichfalls wert, daß sie die Hoffnung auf Gewinn betrügt - wie es ja dem Eugubinus widerfahren ist!
IV,11,13
Wenn jemand übrigens nach der Zeit fragt, seit der diese selbsterdachte (weltliche) Herrschaft (der Päpste) aufgekommen ist, so ist zu sagen: es sind noch nicht fünfhundert Jahre her, da verharrten die Päpste noch im Gehorsam gegen die Fürsten und da wurde kein Papst ohne Einwilligung des Kaisers gewählt. Eine Gelegenheit, diese Ordnung abzuändern, bot Gregor dem Siebenten der Kaiser Heinrich, seines Namens der vierte, ein leichtsinniger und unbesonnener Mann, ohne Bedachtsamkeit, von großer Verwegenheit und von unordentlichem Lebenswandel. Da dieser nun an seinem Hofe die Bistümer von ganz Deutschland teils zum Verkauf bot, teils auch dem Raub aussetzte, so benutzte Hildebrand, der von ihm geärgert worden war, einen Beifall erweckenden Vorwand, um sich zu rächen. Weil er aber eine gute und fromme Sache zu betreiben schien, so fand er in der Gunst vieler Leute Unterstützung. Auch war Heinrich im übrigen wegen seiner reichlich überheblichen Regierungsweise den meisten unter den Fürsten verhaßt. Schließlich ließ Hildebrand, der sich (als Papst) Gregor VII. nannte, als ein unsauberer und nichtsnutziger Mann die Bosheit seines Herzens offen hervortreten, und das war die Ursache dazu, daß er von vielen, die mit ihm gemeinsame Sache gemacht hatten, im Stich gelassen wurde. Trotzdem hat er es erreicht, daß seine Nachfolger ungestraft die Möglichkeit hatten, nicht nur das Joch von sich abzuschütteln, sondern auch die Kaiser von sich abhängig zu machen. Dazu kam noch, daß seither viele Kaiser dem Heinrich mehr glichen als dem Julius Caesar. Diese Kaiser zu unterwerfen war nicht schwierig, weil sie zu Hause saßen und sorglos und lässig alle Dinge fahren ließen, während es doch höchst notwendig war, die Gier der Päpste mit Tatkraft und mit rechtmäßigen Mitteln niederzuhalten.
Wir sehen also, mit was für einer Farbe jene berühmte „Konstantinische Schenkung“ überstrichen ist, von der der Papst so tut, als sei ihm durch sie das westliche (weströmische) Reich übergeben worden.
IV,11,14
In der Zwischenzeit haben die Päpste nicht davon abgelassen, bald mit Betrug, bald mit Treulosigkeit, bald mit Waffengewalt in fremde Herrschaft einzubrechen; auch haben sie die Stadt Rom selbst, die damals noch frei war, vor etwa hundertunddreißig Jahren unter ihre Gewalt gebracht, bis sie schließlich zu der Macht gelangt sind, die sie heute innehaben und zu deren Aufrechterhaltung und Vergrößerung sie den christlichen Erdkreis zweihundert Jahre lang - denn sie haben damit begonnen, ehe sie sich die Herrschaft über die Stadt Rom raubten - derart durcheinandergebracht haben, daß sie ihn darüber beinahe zugrunde richteten.
Als einst unter Gregor (I.) die Hüter des kirchlichen Besitzes an Güter, die nach ihrer Meinung der Kirche gehörten, die Hand legten und ihnen nach der Gepflogenheit behördlicher Besitzverwaltung eine Inschrift zum Zeichen des Eigentumsanspruchs aufprägten, da berief Gregor ein Konzil der Bischöfe zusammen, fuhr mit scharfem Tadel gegen dieses weltliche Verfahren los und fragte, ob sie denn einen Kleriker, der es unternommen habe, aus eigenem Antrieb durch Aufprägung einer Inschrift ein Besitztum mit Beschlag zu belegen, nicht für gebannt hielten, und ebenso einen Bischof, der zu solchem Geschehnis den Auftrag gegeben oder es, wofern es gegen seinen Befehl gegangen sei, nicht bestraft habe. Auf diese Frage hin erklärten alle Bischöfe: solch ein Mensch ist gebannt! (Gregor I., Brief V,57a). Wenn es bei einem Kleriker eine Schandtat ist, die den Bannfluch verdient, durch Aufprägung einer Inschrift den Eigentumsanspruch auf ein Grundstück zu erheben - wieviel Bannflüche können dann wohl zureichend sein, um solche Maßregeln zu bestrafen, wie sie die Päpste getroffen haben, die diese ganzen zweihundert Jahre lang nach nichts anderem getrachtet haben als nach Krieg und Blutvergießen, nach der Vernichtung von Kriegsheeren, nach der Ausplünderung und der Zerstörung von Städten, nach der Niederwerfung von Völkern und der Verwüstung von Königreichen, und das alles nur, um an fremde Herrschaft die Hand legen zu können? Jedenfalls ist es so deutlich wie nur möglich, daß sie nichts weniger suchen als die Ehre Christi. Denn wenn sie freiwillig auf schlechterdings alles verzichteten, was sie an weltlicher Gewalt besitzen, so würde dadurch die Ehre Gottes, die gesunde Lehre und das Heil der Kirche keinerlei Gefahr laufen. Aber sie werden allein von der Herrschsucht blind und jäh dahingerissen, weil sie meinen, es könne nichts wohl stehen, wenn sie nicht mit Härte, wie der Prophet sagt (Ez. 34,4), und mit Gewalt das Regiment ausübten.
IV,11,15
Mit der Rechtsprechung verbunden ist auch die „Immunität“, die sich die römischen Kleriker anmaßen (d.h. ihre Freiheit von steuerlichen und anderen Verpflichtungen sowie im weiteren Sinne ihr „Recht“, sich weithin zivil- und auch strafrechtlich dem bürgerlichen Richter zu entziehen). Sie sind nämlich der Meinung, es sei eine ihrer unwürdige Sache, wenn sie sich in Angelegenheiten, die ihre Person betreffen, vor dem bürgerlichen Richter verantworten sollten, und glauben, die Freiheit wie auch die Würde der Kirche liege darin, daß sie von den allgemeinen Gerichten und Gesetzen ausgenommen würden.
Die alten Bischöfe aber, die sonst in der Wahrung des Rechtes der Kirche sehr streng waren, haben in dieser Unterwerfung (unter die bürgerliche Gerichtsbarkeit) keinerlei Verletzung ihrer Person oder auch ihres Standes erblickt. Auch haben die frommen Kaiser, ohne daß jemand Einspruch erhob, stets Kleriker vor ihren Richterstuhl gefordert, sooft es erforderlich war. Denn Konstantin sagt in seinem Sendschreiben an die Einwohner von Nikomedia: „Wenn einer von den Bischöfen unbesonnen einen Aufruhr gemacht hat, so wird durch die Vollzugsgewalt des Dieners Gottes, das heißt: durch meine Vollzugsgewalt, seine Ver-
messenheit in ihre Schranken verwiesen werden“ (Bei Theodoret, Kirchengeschichte I,20). Und Valentinianus sagt: „Gute Bischöfe widersprechen der Macht des Kaisers nicht, sondern aufrichtig bewahren sie Gottes, des großen Königs, Gebote und gehorchen sie unseren Gesetzen“ (Bei Theodoret, Kirchengeschichte IV,8). Diese Überzeugung hatten damals alle, ohne daß jemand Widerspruch erhob.
Die kirchlichen Sachen wurden zwar vor das bischöfliche Gericht gezogen. Wenn sich also zum Beispiel ein Kleriker gegen die Gesetze nichts hatte zuschulden kommen lassen und nur nach den kirchlichen Rechtssatzungen einer Anklage verfiel, so wurde er nicht vor das allgemeine Gericht geladen, sondern hatte in dieser Sache den Bischof zu seinem Richter. Ebenso wurde die Untersuchung der Kirche übertragen, wenn eine Glaubensfrage zur Behandlung stand oder sonst eine Sache, die im eigentlichen Sinne mit der Kirche zu tun hatte. In diesem Sinne muß man verstehen, was Ambrosius an Valentinianus schreibt: „Dein Vater erhabenen Angedenkens hat nicht nur mit Worten ausgesprochen, sondern auch in Gesetzen festgelegt, daß in Glaubenssachen der urteilen soll, der durch sein Amt dazu befugt und dem Rechte nach dazu in der Lage ist“ (Brief 21,2). Ebenso schreibt er: „Wenn wir unser Augenmerk auf die Schrift oder auf die alten Beispiele lenken, wer will es dann bestreiten, daß in Glaubenssachen, ich sage: in Glaubenssachen, die Bischöfe über die christlichen Kaiser und nicht die Kaiser über die Bischöfe zu urteilen pflegen?“ (Brief 21,4). Oder wiederum: „Ich wäre, mein Kaiser, vor deinen Richterstuhl gekommen, wenn mich die Bischöfe und das Volk hätten ziehen lassen. Die sagten aber, eine Glaubenssache müsse in der Kirche vor versammeltem Volke zur Verhandlung kommen“ (Brief 21,17). Er behauptet zwar, daß eine geistliche, das heißt eine Religionssache, nicht vor das bürgerliche Gericht gezogen werden darf, wo weltliche Streitigkeiten zur Verhandlung kommen. In dieser Sache findet seine Standhaftigkeit verdientermaßen allseitiges Lob. Und doch geht er in seiner guten Sache so weit, daß er erklärt, er wolle weichen, wenn es zu Gewalt und Zwangsausübung kommen sollte. „Freiwillig“, sagt er, „werde ich das mir anvertraute Amt nicht verlassen; werde ich aber gezwungen, so weiß ich mich nicht zu widersetzen; denn unsere Waffen sind Gebete und Tränen“ (Predigt gegen Auxentius 1.2). Beachten wir die einzigartige Mäßigung und Weisheit dieses Mannes, die sich mit Hochgemutheit und Zuversicht verbindet! Justina, die Mutter des Kaisers, bemühte sich, weil sie ihn nicht auf die Seite der Arianer hatte herüberziehen können, ihn aus der Leitung der Kirche zu vertreiben. Und das wäre geschehen, wenn er auf die Vorladung zur Verantwortung hin in den Palast gekommen wäre. So bestreitet er also, daß der Kaiser geeignet sei, eine so große Streitfrage richterlich zu untersuchen. Das erforderte sowohl die in jener Zeit gegebene Notwendigkeit als auch die bleibende Natur der Sache. Er kam nämlich zu dem Urteil, daß er lieber sterben sollte, als daß mit seiner Einwilligung ein solches Beispiel auf seine Nachfahren übergehen (und also auch ihnen gegenüber vielleicht angewendet werden) dürfte. Und doch sinnt er für den Fall, daß Gewalt angewendet wird, nicht auf Widerstand. Denn er bestreitet, daß es zu bischöflicher Art gehöre, den Glauben und das Recht der Kirche mit Waffengewalt zu verteidigen. Im übrigen erklärt er sich in anderen Fällen bereit, alles zu tun, was der Kaiser befiehlt. „Wenn er Steuern verlangt“, sagt er, „so verweigern wir sie nicht; die Grundstücke der Kirche entrichten die Steuer. Verlangt er Grundstücke, so hat er die Macht, auf sie Anspruch zu erheben, und keiner von uns wird dagegen angehen“ (Ebenda 33). In der gleichen Weise redet auch Gregor; er sagt: „Ich kenne sehr wohl die Gesinnung unseres allergnädigsten Herrn: er pflegt sich nicht in die priesterlichen Streitsachen einzumischen, um sich in keiner Hinsicht mit unseren Sünden zu beschweren“ (Brief IV,20). Er schließt den Kaiser nicht etwa allgemein davon aus, über Priester zu urteilen, sondern erklärt nur, daß es bestimmte Fälle gibt, die er dem kirchlichen Gericht überlassen muß.
IV,11,16
Ja, mit dieser Ausnahme (vgl. Schluß der vorigen Sektion) haben die heiligen Männer nichts anderes gesucht, als Vorsorge dagegen zu treffen, daß minder gottesfürchtige Fürsten die Kirche in tyrannischer Gewalttätigkeit und Willkür an der Ausübung ihres Amtes behinderten. Denn sie mißbilligten es nicht, wenn die Fürsten gelegentlich in kirchlichen Angelegenheiten ihre Autorität ins Mittel legten, wenn das nur geschah, um die Ordnung der Kirche zu erhalten und nicht zu stören, und um die Zucht zu stärken und nicht aufzulösen. Denn die Kirche hat nicht die Macht, einen Zwang auszuüben, darf sie auch nicht begehren - ich rede vom bürgerlichen Zwang -, und deshalb ist es die Aufgabe frommer Könige und Fürsten, mit Gesetzen, Verordnungen und Urteilen die Religion zu erhalten. Aus diesem Grunde geschah es, daß Gregor, als der Kaiser Mauritius einigen Bischöfen den Auftrag gab, benachbarte Amtsgenossen, die von fremden Völkern vertrieben waren, bei sich aufzunehmen, diesen Befehl bekräftigte und die Bischöfe ermahnte, ihm zu gehorchen (Brief I,43). Und als Gregor selbst von dem nämlichen Kaiser aufgefordert wurde, sich mit dem Bischof Johannes von Konstantinopel wieder freundschaftlich zu vertragen, da legte er wohl Rechenschaft darüber, ab, weshalb man ihm keine Schuld geben dürfte, dagegen machte er keinen Anspruch auf eine „Freiheit“ vom weltlichen Gericht, sondern er versprach vielmehr, er wolle sich fügen, soweit es ihm um des Gewissens willen möglich wäre, und erklärte zugleich, Mauritius habe, indem er den Priestern dergleichen befahl, getan, was einem gottesfürchtigen Fürsten geziemte (Brief V,37; V,39; V,45).
Zwölftes Kapitel
Von der Zucht der Kirche, wie sie vornehmlich in den Strafen und im Bann geübt wird
IV,12,1
Die Kirchenzucht, deren Behandlung wir bis an diese Stelle aufgeschoben haben, muß mit wenigen Worten erörtert werden, damit wir endlich zu den anderen Lehrstücken übergehen können. Sie beruht nun zum größten Teil auf der Schlüsselgewalt und auf der geistlichen Rechtsprechung. Damit das nun leichter zu begreifen ist, wollen wir die Kirche wesentlich in zwei Stände einteilen: „Klerus“ und „Volk“ (Gemeinde). Unter „Klerikern“ verstehe ich nach der gebräuchlichen Bezeichnung solche, die in der Kirche ein öffentliches Amt ausüben. Wir wollen uns nun zunächst mit der allgemeinen Zucht befassen, der alle unterworfen sein müssen. Alsdann wollen wir auf den Klerus zu sprechen kommen, der außer der allgemeinen Zucht noch seine eigene hat.
Es gibt nun aber Leute, denen vor lauter Haß gegen die Zucht auch der Name schon widerwärtig ist. Die sollen nun folgendes wissen: Wenn keine Gemeinschaft, ja, kein Haus, in dem auch noch so wenige Hausgenossen miteinander leben, ohne Zucht im rechten Stande erhalten werden kann, so ist solche Zucht noch viel notwendiger in der Kirche, deren Zustand doch gebührenderweise so geordnet sein muß, wie nur eben möglich. Wie also die heilbringende Lehre Christi die Seele der Kirche ist, so steht die Zucht in der Kirche an der Stelle der Sehnen: sie bewirkt, daß die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben. Jeder also, der da begehrt, die Zucht sollte abgeschafft werden, oder der ihre Wiederherstellung hindert, der sucht, ob er das nun absichtlich tut oder aus mangelnder Überlegung, unzweifelhaft die völlige Auflösung der Kirche. Denn was soll wohl geschehen, wenn jeder tun darf, was ihm gefällt? Eben dies muß aber eintreten, wenn zur Predigt der Lehre nicht persönliche Einzelvermahnungen, Zurechtweisungen und andere Hilfsmittel dieser Art hinzutreten, welche die Unterweisung stützen und sie nicht wirkungslos bleiben lassen. Die Zucht ist also gleichsam ein Zügel, mit dem alle die zurückgehalten und gebändigt werden sollen, die sich trotzig gegen die Lehre Christi erheben, oder auch gleich einem Sporn, um die gar zu wenig Willigen anzutreiben, zuweilen aber auch gewissermaßen eine väterliche Rute, mit der solche, die sich ernstlicher vergangen haben, in Milde und im Einklang mit der Sanftmut des Geistes Christi gezüchtigt werden sollen. Weil wir denn nun in der Kirche bereits anfangsweise eine schreckliche Verwüstung hereinbrechen sehen, die darauf zurückgeht, daß man keine Sorgfalt und Überlegung darauf wendet, das Volk in Schranken zu halten, so sagt uns die Not selber schon laut und deutlich, daß ein Heilmittel vonnöten ist. Das einzige Heilmittel aber ist das, das Christus verordnet und das unter den Frommen allezeit im Gebrauch gewesen ist.
VI,12,2
Die erste Grundlage der Zucht besteht nun darin, daß persönliche Ermahnungen stattfinden, das bedeutet: daß der, der aus eigenem Antrieb heraus nicht seine Pflicht tut oder der sich frech aufführt oder dessen Lebenswandel an Ehrbarkeit zu wünschen übrigläßt oder der etwas Tadelnswertes begangen hat, sich ermahnen läßt, und daß ein jeder seinen Eifer daran wendet, seinem Bruder, wenn es die Sache erfordert, solche Ermahnung zukommen zu lassen. Vor allem aber sollen die Hirten (Pastoren) und Ältesten hierüber wachen; denn ihre Aufgabe ist es nicht allein, dem Volke zu predigen, sondern auch hin und her in den einzelnen Häusern Ermahnung und Ermunterung auszuteilen, wenn man irgendwo durch die allgemein geschehende Unterweisung nicht weit genug vorangekommen ist.
So lehrt es Paulus, wenn er berichtet, er habe einzeln und persönlich (privatim) wie auch in den Häusern gelehrt, und wenn er beteuert, daß er „rein sei von aller Blut“, weil er „nicht abgelassen habe ... Tag und Nacht, einen, jeglichen mit Tränen zu vermahnen“ (Apg. 20,20.26.31). Denn die Lehre gewinnt dann Kraft und Autorität, wenn der Diener der Kirche nicht nur allen zugleich darlegt, was sie Christus schuldig sind, sondern auch das Recht und die geordnete Möglichkeit besitzt, es von denen zu fordern, von denen er bemerkt hat, daß sie es am Gehorsam gegen die Lehre fehlen lassen oder daß sie recht träge sind.
Wenn nun jemand solche Ermahnungen halsstarrig von sich weist oder durch weiteres Fortschreiten in seinen Lastern bezeugt, daß er sie verachtet, so muß er nach der Anweisung Christi zunächst unter Zuziehung von Zeugen zum zweiten Male vermahnt und dann vor das Gericht der Kirche, das heißt: die Versammlung der Ältesten, geladen werden; dort muß man ihm eine ernstlichere, gleichsam unter öffentlicher Autorität ausgesprochene Vermahnung erteilen, er solle sich, wenn er Ehrfurcht vor der Kirche habe, unterwerfen und gehorchen. Wenn er sich aber auch daraufhin nicht beugt, sondern in seiner Bosheit verharrt, so soll er nach Christi Weisung aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgestoßen werden (Matth. 18,15-17).
IV,12,3
An dieser Stelle (Matth. 18) spricht Christus nun aber ausschließlich von den verborgenen Sünden. Es ist also erforderlich, hier zwei Gruppen zu unterscheiden: die Sünden sind teils persönlicher („privater“) Art, teils sind sie öffentlich oder vor aller Welt ruchbar geworden.
Was die ersteren betrifft, so sagt Christus einem jeglichen amtlosen Menschen: „Strafe ihn zwischen dir und ihm allein“ (Matth. 18,15). Was aber die öffentlich kundbar gewordenen Sünden angeht, so gibt Paulus dem Timotheus die Weisung: „Die strafe vor allen, auf daß sich auch die anderen fürchten“ (1. Tim. 5,20). Christus hatte nämlich zuvor gesagt: „Sündigt ... dein Bruder an dir ...” (Matth. 18,15). Diese beiden Wörtlein: „an dir“ kann man aber, wenn man nicht streitsüchtig sein will, nicht anders auffassen als in dem Sinne: „daß du es weißt, aber derart, daß nicht mehr Leute davon Kenntnis haben“. Die Regel aber, die Paulus dem Timotheus gibt, nämlich er solle die, die öffentlich sündigen, auch öffentlich zurechtweisen, hat er selbst dem Petrus gegenüber befolgt. Denn da dieser sich soweit verfehlt hatte, daß ein öffentliches Ärgernis daraus entstanden war, so vermahnte er ihn nicht einzeln für sich allein, sondern führte ihn vor das Angesicht der Kirche (Gal. 2,14).
Die rechte Reihenfolge des Verfahrens werden wir also innehalten, wenn wir bei der Bestrafung „verborgener“ Sünden nach jenen von Christus festgelegten Stufen vorgehen, bei „offenbaren“ dagegen gleich zur feierlichen Zurechtweisung durch die Kirche schreiten, sofern das Ärgernis öffentlich ist.
IV,12,4
Es muß nun auch noch eine weitere Unterscheidung eintreten: einige unter den Sünden sind Vergehen, andere dagegen Verbrechen oder Schandtaten. Zur Bestrafung der letzteren ist nicht nur Vermahnung oder scharfer Tadel anzuwenden, sondern auch noch eine schärfere Arznei; darauf weist uns Paulus, der den blutschänderischen Korinther nicht nur mit Worten züchtigt, sondern auch mit dem Bann straft, sobald er von seinem Verbrechen Kenntnis erlangt hat (1. Kor. 5,3ff.). Jetzt beginnen wir also besser einzusehen, wieso die geistliche Rechtsprechung der Kirche, die auf Grund des Wortes Gottes strafend gegen die Sünden vorgeht, das beste Mittel zur Gesundheit, das beste Fundament der Ordnung und das beste Band der Einheit darstellt. Wenn die Kirche also offenbare Ehebrecher, Hurer, Diebe, Räuber, Anführer, Meineidige, Falschzeugen und andere Leute dieser Art und gleichfalls die Widerspenstigen, die auch wegen geringerer Sünden vermahnt
worden sind, aber Gottes und seines Gerichts gespottet haben - wenn sie solche Leute aus ihrer Gemeinschaft entfernt, so maßt sie sich nichts Ungebührliches an, sondern übt die Rechtsprechung, die ihr der Herr übertragen hat. Damit nun ferner niemand solch Urteil der Kirche verachtet oder es gering anschlägt, daß er durch einen Spruch der Gläubigen verurteilt ist, so hat der Herr bezeugt, daß eben dies Urteil nichts anderes ist als die Verkündigung seines eigenen Richterspruchs, und daß, was die Gläubigen auf Erden vollzogen haben, im Himmel gültig sein soll. Denn sie haben das Wort des Herrn, um damit die Verkehrten zu verurteilen, sie haben das Wort, um die Reuigen wieder zu Gnaden anzunehmen (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23). Wer die Hoffnung hat, die Kirchen könnten ohne dies Band der Zucht lange bestehen bleiben, der täuscht sich in seiner Meinung - es sei denn, daß wir etwa ungestraft das Hilfsmittel entbehren könnten, das der Herr als für uns notwendig vorgesehen hat! Und in der Tat, wie notwendig es für uns ist, das werden wir noch besser ersehen, wenn wir seinen vielfältigen Nutzen ins Auge fassen.
IV,12,5
Es ist nun ein dreifacher Zweck, welchen die Kirche mit solchen Strafen und mit dem Bann verfolgt.
Erstens: zu den Christen sollen nicht unter Verächtlichmachung Gottes solche Leute gezählt werden, die einen schandbaren und lasterhaften Lebenswandel führen - als ob Gottes heilige Kirche eine Verschwörerrotte von nichtsnutzigen und ruchlosen Leuten wäre (Eph. 5,25f.). Denn die Kirche ist der Leib Christi (Kol. 1,24), und deshalb kann sie nicht mit solchen stinkenden, faulen Gliedern befleckt werden, ohne daß auch das Haupt eine Schändung erfährt. Damit es nun in der Kirche nichts gibt, wodurch seinem heiligen Namen das Brandmal der Schande aufgedrückt wird, so müssen aus seiner Hausgenossenschaft solche Leute ausgeschlossen werden, aus deren Ruchlosigkeit sich für den Christennamen ein übler Ruf ergeben müßte. Hier muß man nun auch auf das Abendmahl des Herrn Bedacht nehmen, daß es nicht durch wahllose Austeilung entheiligt werde. Denn es ist sehr wahr: wenn einer, dem die Austeilung des Abendmahls anvertraut ist, mit Wissen und Willen einen Unwürdigen zugelassen hat, den er mit Recht hätte zurückweisen können, so macht er sich genau so der Schändung des Heiligen schuldig, als wenn er den Leib des Herrn den Hunden vorgeworfen hätte. Deshalb fährt Chrysostomus mit scharfem Tadel gegen die Priester los, die aus Angst vor der Macht der Großen niemanden vom Abendmahl auszuschließen wagen. „Das Blut“, so sagt er, „wird von euren Händen gefordert werden (Ez. 3,18; 33,8). Wenn ihr den Menschen fürchtet, so wird er euch verlachen. Fürchtet ihr aber Gott, so werdet ihr auch für die Menschen ehrfurchtgebietend sein. Wir wollen doch vor Zepter, Purpur und Diadem keine Angst haben; denn hier ist unsere Vollmacht größer! Ich jedenfalls würde lieber meinen Leib in den Tod geben und mein Blut vergießen lassen, als mich solcher Befleckung teilhaftig zu machen“ (Predigten zum Matthäusevangelium 82,6). Damit also diesem hochheiligen Geheimnis (Sakrament) keine Schmach angetan wird, so ist es bei seiner Austeilung hoch vonnöten, eine Auswahl walten zu lassen; diese kann aber nur durch die Rechtsprechung der Kirche vorgenommen werden.
Zum zweiten hat die Zuchtübung der Kirche den Zweck, daß nicht die Guten, wie es zu geschehen pflegt, durch den fortgesetzten Umgang mit den Bösen verdorben werden. Denn bei unserer Neigung zum Abbiegen vom Wege geschieht nichts leichter, als daß wir durch schlechte Vorbilder von der rechten Lebensrichtung weggeleitet werden. Diesen Nutzen der Kirchenzucht hatte der Apostel im Auge, als er den Korinthern die Weisung gab, sie sollten den Blutschänder aus ihrer Gemeinschaft verweisen. „Ein wenig Sauerteig“, so heißt es da, „versäuert den ganzen Teig“ (1. Kor. 5,6). Und die Gefahr, die er hier drohen sah, war so groß,
daß er ihnen jeglichen Verkehr mit dem Sünder untersagte. „So jemand sich läßt einen Bruder nennen“, sagt er, „und ist ein Hurer oder ein Geiziger oder ein Abgöttischer oder ein Trunkenbold oder ein Lästerer, mit dem sollt ihr auch nicht essen“ (1. Kor. 5,11; Reihenfolge nicht ganz genau).
Drittens bezweckt die Kirchenzucht, daß die Sünder selbst in Scham geraten und dadurch anfangen, über ihre Ruchlosigkeit Reue zu empfinden. So nutzt es auch den Betroffenen, daß ihre Bosheit gezüchtigt wird; (es geschieht ja), damit sie durch das Fühlen der Rute aufgeweckt werden, während sie durch Nachsicht nur noch widerspenstiger geworden wären. Das gibt der Apostel zu erkennen, wenn er sich folgendermaßen ausspricht: „So aber jemand ... nicht gehorsam ist unsrem Wort, den zeiget an ... und habt nichts mit ihm zu schaffen, auf daß er schamrot werde“ (2. Thess. 3,14). Das gleiche meint er an anderer Stelle, indem er schreibt, er habe den (blutschänderischen) Korinther „übergeben dem Satan, auf daß der Geist selig werde am Tage des Herrn ...” (1. Kor. 5,5). Das heißt, wenigstens nach meiner Auslegung: er hat ihn in eine zeitliche Verdammnis dahingegeben, damit er ewig selig werde. Wenn er aber sagt, daß er ihn „dem Satan“ übergibt, so geschieht das darum, weil außerhalb der Kirche der Teufel ist, wie in der Kirche Christus (Augustin). Denn die Ansicht mancher Leute, die diese Wendung auf eine gewisse Peinigung des Fleisches beziehen wollen, kommt mir höchst ungewiß vor.
IV,12,6
Nachdem wir diesen dreifachen Zweck der Kirchenzucht dargelegt haben, bleibt uns noch übrig zuzusehen, in welcher Weise die Kirche diesen Teil der Zucht, der in der Rechtsprechung besteht, ausübt.
Zunächst wollen wir die oben festgestellte Unterscheidung festhalten, nach der die Sünden teils öffentlich, teils auch privat oder einigermaßen verborgen sind. „Öffentlich“ sind die Sünden, die nicht nur den einen oder anderen zum Zeugen haben, sondern auf die man vor aller Welt und zum Ärgernis der ganzen Kirche mit Fingern weist. Als „verborgen“ bezeichne ich nicht solche Sünden, die Menschen überhaupt unbekannt wären, so wie es die Sünden der Heuchler sind - denn diese sind dem Urteil der Kirche entzogen -, sondern eine mittlere Gruppe: es sind solche, die nicht ganz ohne Zeugen, aber doch auch nicht öffentlich sind.
Die erstere Art von Sünden erfordert nicht die (Einhaltung der) Stufen, die Christus (Matth. 18,15-17) aufführt, sondern die Kirche muß, wo sich dergleichen ereignet, ihre Amtspflicht erfüllen, indem sie den Sünder vorlädt und ihn nach dem Maß seiner Verfehlung bestraft. Bei der zweiten Art von Sünden bringt man die Sache nach jener Regel Christi erst dann vor die Kirche, wenn (zur Verfehlung) die Widerspenstigkeit hinzutritt.
Ist man nun einmal zur Untersuchung geschritten, so ist jetzt, die zweite Unterscheidung zu beachten: es ist die zwischen Verbrechen und Vergehen. Denn bei leichteren Verfehlungen soll man nicht solch große Strenge walten lassen, sondern da genügt eine Züchtigung mit Worten, und zwar eine milde und väterliche Züchtigung, die den Sünder nicht verhärten oder aus der Fassung bringen, sondern ihn wieder zu sich selbst führen soll, so daß er sich über die ihm widerfahrene Züchtigung eher freut als darüber trauert. Schandtaten dagegen soll man mit schärferer Arznei strafen; denn da ist es nicht genug, wenn der, der durch eine als schlechtes Beispiel wirkende Übeltat die Kirche schwer gekränkt hat, bloß mit Worten zurechtgewiesen wird, nein, er muß eine Zeitlang der Gemeinschaft am heiligen Abendmahl verlustig gehen, bis er einen glaubhaften Beweis seiner Reue geliefert hat. Denn Paulus übt gegenüber jenem Korinther nicht bloß eine Zurechtweisung mit Worten, sondern er schließt ihn aus der Kirche aus und tadelt die Korinther, daß sie ihn so lange geduldet hätten (1. Kor. 5,1-7).
Dies Verfahren hat die alte, bessere Kirche, als die rechtmäßige (Art der) Kirchenleitung noch in Kraft stand, festgehalten. Denn wenn jemand eine Übeltat begangen hatte, aus der ein Anstoß erwachsen war, so gebot man ihm erstens, sich der Teilnahme am heiligen Abendmahl zu enthalten, und zweitens, sich sowohl vor Gott zu demütigen als auch vor der Kirche seine Buße zu bezeugen. Dabei gab es feierliche Gebräuche, die man den Gefallenen als Zeichen ihrer Buße aufzuerlegen pflegte. Sobald der Sünder sie derart vollbracht hatte, daß der Kirche Genugtuung gegeben war, wurde er durch Handauflegung wieder zu Gnaden angenommen. Diese Wiederaufnahme wird von Cyprian häufig als „Friede“ bezeichnet (Brief 57). Cyprian gibt uns auch eine kurze Beschreibung einer solchen Zeremonie. Er berichtet: „Sie (die Sünder) tun eine gebührende Zeit hindurch Buße; dann kommen sie zum (Sünden-) Bekenntnis und empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht zur Gemeinschaft (am Abendmahl)“ (Brief 16,2; 17,2). Allerdings übte der Bischof mit dem Klerus, wie Cyprian an anderer Stelle berichtet, die Leitung bei diesem Versöhnungsakt in der Weise aus, daß dazu zugleich die Einwilligung des Volkes (d.h. der Gemeinde) erforderlich war.
IV,12,7
Von dieser Zucht wurde niemand ausgenommen, so daß sich zusammen mit Leuten aus dem Volke auch Fürsten darein fügten, sie auf sich zu nehmen. Und das mit Recht; denn es stand ja fest, daß es sich hier um die Zucht Christi handelte, dem alle Zepter und Kronen der Könige billigerweise unterstellt werden müssen. Ein Beispiel bietet uns Theodosius. Als ihm Ambrosius wegen eines in Thessalonich angerichteten Blutbades die Berechtigung zur Gemeinschaft (am heiligen Abendmahl) entzogen hatte, da warf er alle Zeichen seiner königlichen Würde, die er an sich trug, zu Boden, beweinte öffentlich in der Kirche seine Sünde, in die er durch die Treulosigkeit anderer geraten war, und bat unter Seufzen und Tränen um Verzeihung (Ambrosius, Brief 51,13; Rede beim Leichenbegängnis des Theodosius 28.34). (So war es richtig:) Denn große Könige dürfen es sich nicht zur Schande anrechnen, wenn sie sich vor Christus, dem König der Könige, demütig niederwerfen, und es darf ihnen nicht mißfallen, daß sie von der Kirche gerichtet werden. Denn da sie an ihrem Hofe nahezu nichts zu hören bekommen als lauter Schmeichelworte, so haben sie es mehr als nötig, vom Herrn durch den Mund der Priester zurechtgewiesen zu werden. Ja, sie sollen vielmehr wünschen, daß die Priester ihrer nicht schonen - damit der Herr ihrer schone! (Ebenda 11,6).
An dieser Stelle übergehe ich die Frage, durch wen solche Rechtsprechung zu üben sei; denn davon war schon an anderer Stelle die Rede (vgl. Kap. 11, Sekt. 6). Ich füge nur hinzu: wenn es sich darum handelt, einen Menschen in den Bann zu tun, so ist dabei das rechte Verfahren jenes, das Paulus uns zeigt, nämlich daß die Ältesten den Bann nicht allein üben, sondern unter Vorwissen und Billigung der Kirche, und zwar in der Weise, daß die Menge des Volkes die Handlung nicht regiert, sondern sie als Zeuge und Wächter unter Augen hat, damit nicht etwa einige wenige etwas in Willkür unternehmen. Der ganze Gang der Handlung aber soll, neben der Anrufung des Namens Gottes, jenen gemessenen Ernst an sich tragen, bei dem man die Gegenwart Christi spürt, damit es keinem Zweifel unterliegt, daß er selbst bei seinem Gericht die Leitung ausübt.
IV,12,8
Doch dürfen wir es nicht übergehen, daß der Kirche eine solche Strenge geziemt, die sich mit dem Geiste der Milde verbindet. Denn wir müssen uns, wie es Paulus gebietet, allezeit fleißig davor hüten, daß der, gegen den man mit Strafe vorgeht, „in allzu große Traurigkeit versinke“ (2. Kor. 2,7). Denn wenn das geschähe, so würde aus der Arznei das Verderben werden. Aber die Regel für eine maßvolle Handhabung der Zucht läßt sich besser aus dem dabei obwaltenden Zweck entnehmen. Beim Bann geht es doch darum, daß der Sünder zur Buße geleitet
wird und üble Beispiele weggeräumt werden, damit Christi Name nicht in üblen Ruf kommt und andere nicht zur Nachahmung angereizt werden. Wenn wir das im Auge behalten, so werden wir leicht entscheiden können, wie weit die Strenge gehen und wo sie aufhören soll. Sobald also der Sünder der Kirche ein Zeichen seiner Bußfertigkeit gibt und durch dieses Zeichen, soweit es bei ihm steht, das Ärgernis ausräumt, darf man ihn unter keinen Umständen weiter drängen; denn wenn man ihn drängt, so geht die Strenge bereits über das Maß hinaus.
In diesem Stück läßt sich auf keinerlei Weise die maßlose Strenge der Alten entschuldigen, die mit der Weisung des Herrn durchaus nicht im Einklang stand und außergewöhnlich gefährlich war. Denn wenn sie dem Sünder bald für sieben, bald für vier, bald für drei Jahre, bald für das ganze Leben eine öffentliche Buße und die Enthaltung vom heiligen Abendmahl auferlegten - was konnte daraus folgen, als entweder eine furchtbare Heuchelei oder die schlimmste Verzweiflung? Ebenso: daß niemand, der zum zweiten Male in Sünde gefallen war, zur „zweiten Buße“ zugelassen wurde, sondern daß man ihn bis zum Ende seines Lebens aus der Kirche verstieß, das war weder nützlich noch sinngemäß. Daher wird jeder, der die Sache mit gesundem Urteil erwägt, zu der Einsicht kommen, daß die Alten es hier an Weisheit haben fehlen lassen.
Doch mißbillige ich hier mehr den allgemeinen Brauch, als daß ich alle verklagte, die ihn angewandt haben. Denn es steht fest, daß manche ihr Mißfallen daran gehabt haben; sie duldeten ihn aber, weil sie ihn nicht bessern konnten. Jedenfalls erklärt Cyprian, daß er nicht aus eigenem Antrieb so streng gewesen ist. „Unsere Geduld, Gutwilligkeit und Menschlichkeit“, sagt er, „steht allen offen, die da kommen. Ich wünsche, daß sie alle in die Kirche zurückkommen. Ich möchte wohl, daß alle unsere Streitgenossen innerhalb des Lagers Christi und der Wohnstatt Gottes, des Vaters, zusammengeschlossen würden. Ich vergebe alles, ich übersehe vieles. Aus dem Eifer und Wunsch heraus, die Bruderschaft zusammenzuführen, untersuche ich auch die Verfehlungen, die gegen Gott begangen sind, nicht mit völlig scharfem Gericht. Durch mein mehr als zulässiges Vergeben der Missetaten verfehle ich mich fast selber, mit bereitwilliger und völliger Liebe komme ich allen denen entgegen, die in Bußfertigkeit zurückkehren und ihre Sünde durch demütige und schlichte Genugtuung bekennen“ (Brief 59, an Cornelius). Chrysostomus ist schon etwas härter, aber er sagt doch: „Wenn Gott so gütig ist, wozu will dann sein Priester so hart erscheinen?“ Zudem wissen wir, welche Gutwilligkeit Augustin gegenüber den Donatisten hat walten lassen, so daß er sich nicht scheute, solche, die aus der Abspaltung zurückkehrten, wieder ins Bischofsamt aufzunehmen, und zwar unmittelbar nach ihrer Umkehr. Da sich aber die entgegengesetzte Gepflogenheit durchgesetzt hatte, so waren sie gezwungen, von ihrem eigenen Urteil Abstand zu nehmen, um sich ihr anzuschließen.
IV,12,9
Wie aber im ganzen Leibe der Kirche eine solche Sanftmut erforderlich ist, daß sie die Gefallenen mit Milde und nicht bis zur äußersten Strenge straft, sondern lieber nach der Weisung des Paulus ihre Liebe gegen sie bekräftigt (2. Kor. 2,8), so muß sich auch jeder einzelne für sich allein dieser Milde und Freundlichkeit einfügen. Es ist also nicht unsere Sache, solche, die aus der Kirche ausgeschlossen sind, aus der Zahl der Auserwählten zu tilgen oder an ihnen zu verzweifeln, als ob sie bereits verloren wären. Wir haben wohl das Recht zu dem Urteil, daß sie nun von der Kirche und infolgedessen auch von Christus abgeschnitten sind - aber nur für so lange Zeit, als sie in ihrer Abspaltung verharren! Selbst wenn sie dann auch dem Anschein nach mehr Hartnäckigkeit als Milde an den Tag legen, so wollen wir sie doch dem Urteil des Herrn anbefehlen und dabei für die Zukunft Besseres von ihnen erhoffen, als wir gegenwärtig zu sehen bekommen, auch deshalb nicht ablassen, für sie zu Gott zu bitten. Und wir wollen, um es mit einem
Wort zusammenzufassen, nicht die Person, die sich allein in Gottes Hand und Gewalt befindet, zum Tode verdammen, sondern nur aus dem Gesetz des Herrn heraus darüber urteilen, welcher Art eines jeglichen Werke sind. Wenn wir dieser Regel folgen, so bleiben wir bei dem göttlichen Urteil stehen, statt das unsere vorzubringen. Mehr Freiheit sollen wir uns im Urteilen nicht anmaßen, wenn wir nicht Gottes Macht Grenzen setzen und seiner Barmherzigkeit ein Gesetz auferlegen wollen. Denn so oft es ihm gefällt, da werden die Schlechtesten in Beste verwandelt, da werden Fremde in die Kirche eingefügt und Draußenstehende in sie aufgenommen. Und das tut der Herr, um so die Meinung der Menschen zu verspotten und ihren Vorwitz zu dämpfen. Denn wenn dieser nicht in seine Schranken verwiesen wird, so wagt er, sich das Recht zum Urteilen über das gebührende Maß hinaus anzumaßen.
IV,12,10
Denn wenn Christus verheißt, was die Seinen auf Erden gebunden hätten, das solle auch im Himmel gebunden sein (Matth. )S,16), so beschränkt er dadurch die Vollmacht zum „Binden“ auf das Strafurteil der Kirche, und kraft dieses Strafurteils werden die Gebannten nicht etwa in ewiges Verderben und ewige Verdammnis verstoßen, sondern sie hören, daß ihr Lebenswandel und ihre Sitten verurteilt werden, und damit wird ihnen für den Fall, daß sie nicht umkehren, ihre eigene ewige Verdammnis zur Kenntnis gebracht. Denn das ist der Unterschied zwischen Verfluchung (anathema) und Bann, daß die Verfluchung jegliche Vergebung ausschließt und den Menschen zu ewigem Verderben verwünscht und verdammt, während sich der Bann rächend und strafend eher gegen seinen Lebenswandel richtet. Und obwohl auch der Bann den Menschen straft, so tut er es doch so, daß er ihn durch die warnende Erinnerung an seine künftige Verdammnis zum Heile zurückruft. Wo das erreicht ist, da liegt die Aussöhnung und die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft schon bereit. Die Verfluchung aber wird höchst selten oder überhaupt nicht angewandt. Obwohl uns also die kirchliche Zuchtordnung nicht gestattet, mit den Gebannten vertrauteren Umgang oder näheren Verkehr zu pflegen, so müssen wir doch mit allen uns möglichen Mitteln danach streben, daß sie sich zu einem besseren Wandel bekehren und zur Gemeinschaft und Einheit der Kirche zurückkehren. So lehrt es auch der Apostel. „Betrachtet solche Leute nicht als Feinde“, sagt er, „sondern vermahnet sie als Brüder“ (2. Thess. 3,15; ungenau). Wenn wir diese Milde nicht einzeln wie auch gemeinsam walten lassen, so besteht Gefahr, daß wir von der Zucht alsbald in Quälerei abgleiten!
IV,12,11
Insonderheit gehört auch das zur maßvollen Handhabung der Zucht, was Augustin in seiner Auseinandersetzung mit den Donatisten betont: wenn amtlose Leute sehen, daß die Versammlung der Ältesten die Sünden nicht besonders nachdrücklich straft, so dürfen sie sich deshalb nicht gleich von der Kirche abscheiden, oder wenn die Hirten selbst nicht in der Lage sind, nach dem Wunsch ihres Herzens alles auszufegen, was der strafenden Besserung bedürfte, so dürfen sie deshalb nicht ihr Amt von sich werfen oder die ganze Kirche durch ungewöhnliche Schärfe in Wirren stürzen. Denn es ist sehr richtig, wenn er schreibt: „Wer durch Zurechtweisung bessert, was er kann, und, was er nicht zu bessern vermag, unter Wahrung des Friedensbandes ausschließt, und endlich das, was er unter Wahrung des Friedensbandes nicht ausschließen kann, in Billigkeit rügt und mit Standhaftigkeit erträgt - der ist vom Fluche frei und ledig“ (Gegen den Brief des Parmenian II,1,3). Die Ursache dafür gibt er an anderer Stelle an: es soll eben jede gottesfürchtige Art und Gestaltung der kirchlichen Zucht ihr Augenmerk stets auf die „Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ richten (Eph. 4,3), das uns der Apostel durch gegenseitiges „Vertragen“ zu „halten“ aufgegeben hat (Eph. 4,2f.); wird dies Band nicht „gehalten“, so beginnt die Arznei der Strafe nicht nur überflüssig, sondern auch verderblich zu werden und hört deshalb auf, eine Arznei zu sein (Ebenda III,1,1).
„Wer das mit Fleiß bedenkt“, sagt er, „der vernachlässigt über der Erhaltung der Einheit nicht die Strenge der Zucht, aber er bricht auch nicht durch maßloses Strafen das Band der Gemeinschaft entzwei“ (Ebenda III,2,15). Er gibt zwar zu, daß nicht nur die Hirten darauf dringen müßten, daß in der Kirche keine Sünde bestehen bleibt, sondern daß auch jeder einzelne (also auch der, der nicht Hirte ist) mit aller Kraft danach streben muß. Auch verschweigt er nicht, daß einer, der es unterläßt, die Bösen zu ermahnen, zurechtzuweisen und zu strafen, vor dem Herrn schuldig ist, auch wenn er ihnen nicht günstig gesinnt ist und nicht mit ihnen zusammen sündigt; denn - das verkennt er nicht - wenn solch ein Mensch nun einmal ein Amt bekleidet, kraft dessen er sie auch von der Gemeinschaft am Sakrament fernhalten könnte, und tut das nicht, so sündigt er nicht aus fremder, sondern aus eigener Schuld. Nur wünscht er, daß dies unter Anwendung jener Vorsicht geschehe, die auch der Herr verlangt, damit nicht beim Ausraufen des Lolchs zugleich das Korn beschädigt wird (Ebenda III,1,2; Matth. 13,29). Von da aus kommt er mit einem Wort des Cyprian zu dem Ergebnis: „Der Mensch soll also in Barmherzigkeit strafen, was er vermag, was er aber nicht zu strafen vermag, das soll er geduldig ertragen und mit Liebe darüber seufzen und klagen“ (Ebenda III,2,15; Cyprian, Brief 59,16).
IV,12,12
Augustin hat nun mit seinen Worten den Starrsinn der Donatisten im Auge. Diese bemerkten in den Kirchen Sünden, die die Bischöfe zwar mit Worten tadelten, aber nicht mit dem Bann straften, weil sie nicht glaubten, auf diesem Wege etwas ausrichten zu können; und deshalb fuhren sie wüst gegen die Bischöfe als Verräter der Zucht los und schieden sich von der Herde Christi in gottloser Spaltung ab. Ebenso machen es heute die Wiedertäufer: sie erkennen keine Gemeinde als diejenige Christi an, wenn an ihr nicht in jedem Betracht eine engelgleiche Vollkommenheit sichtbar ist, und machen nun unter dem Vorwand ihres Eifers jegliche Erbauung zunichte. Solche Leute, sagt Augustin, „lassen sich nicht etwa vom Haß gegen die Ungerechtigkeiten der anderen, sondern vom Eifer um ihre eigenen Streitereien leiten und setzen nun alles daran, um schwache Leute, die sie mit dem Ruhm ihres Namens betört haben, entweder ganz zu sich hinüberzuziehen oder sie doch jedenfalls abzuspalten. Geschwollen von Hoffart, rasend vor Halsstarrigkeit, heimtückisch in ihren Lästerungen und ruhelos in ihrem Aufruhr, möchten sie nun doch nicht, daß man ihnen nachweisen könnte, daß ihnen das Licht der Wahrheit fehlt, und deshalb verstecken sie sich im Schatten einer rücksichtslosen Strenge; und was nach der Weisung der Heiligen Schriften in recht glimpflicher Behandlung, unter Wahrung der Lauterkeit der Liebe und unter Aufrechterhaltung der Einheit des Friedens geschehen soll, um die brüderlichen Gebrechen zu strafen, das reißen sie an sich, um den Frevel der Kirchenspaltung zu begehen und um eine Gelegenheit zum Abscheiden zu haben. So ‚verstellt sich’ der Satan ‚zu einem Engel des Lichts’ (2. Kor. 11,14), indem er nämlich eine angeblich gerechte Strenge zum Anlaß nimmt, ein grausames Wüten anzustiften, und zwar in keiner anderen Absicht, als um das Band des Friedens und der Einheit zu zerstören und zu zerreißen; denn wenn dies Band fest ist unter den Christen, so verlieren alle seine Kräfte ihre Macht, um Schaden zu stiften, alle Fallstricke seiner heimtückischen Nachstellungen zergehen, und all seine Zerstörungspläne fallen dahin“ (Gegen den Brief des Parmenian III,1,1. 3).
IV,12,13
Dabei empfiehlt Augustin von allem dies eine: wenn die Menge von einer Sünde wie von einer ansteckenden Krankheit befallen ist, so ist die strenge Barmherzigkeit einer kräftigen Zucht vonnöten. „Denn die Ratschläge zur Abscheidung“, sagt er, „sind eitel, verderblich und frevlerisch; sie werden nämlich gottlos und hoffärtig und bewirken eher eine Verwirrung der schwachen Guten, als eine Besserung der beherzten Bösen“ (Ebenda III,2,14). Und was er an dieser Stelle anderen vorschreibt, das hat er selbst treulich befolgt. Denn in einem Schreiben
an den Bischof Aurelius von Karthago beklagt er es, daß in Afrika die Prunksucht ungestraft um sich greife, obwohl sie doch in der Schrift so scharf verurteilt werde, und rät, man solle ein Konzil der Bischöfe einberufen und ein Mittel dagegen schaffen (Brief 22,1,4). Dann fährt er fort: „Solche Dinge behebt man meines Erachtens nicht mit Härte, nicht mit Schärfe, nicht in gebieterischer Weise, sondern mehr durch Unterweisung als durch Weisung, mehr durch Mahnen als durch Drohen. Denn so muß man mit dem großen Haufen derer, die sich vergehen, verfahren. Strenge dagegen muß man gegen die Sünde weniger walten lassen“ (Ebenda 1,5). Trotzdem ist er dabei, wie er selbst nachher auseinandersetzt, nicht der Meinung, daß die Bischöfe deshalb durch die Finger sehen oder schweigen müßten, weil sie nicht in der Lage wären, öffentliche Schandtaten strenger zu bestrafen (Gegen den Brief des Parmenian, III,2,15). Nein, er will, daß man bei der Art und Weise der Strafe solche Mäßigung walten läßt, daß man dem Leibe, soweit es möglich ist, Gesundheit schafft statt Verderben (Ebenda). Und deshalb kommt er schließlich zu folgendem Ergebnis: „Wir dürfen also einerseits die Weisung des Apostels, die Bösen abzusondern, in keinem Betracht vernachlässigen, wenn das ohne die Gefahr einer Verletzung des Friedens vor sich gehen kann; denn nur in dieser Weise wollte er, daß es geschähe. Andererseits aber müssen wir auch darauf halten, daß wir durch gegenseitiges Ertragen danach trachten, ‚zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens’“ (Ebenda III,2,16; 1. Kor. 5,3-7; Eph. 4.2.3).
IV,12,14
Der übrige Teil der Zucht, der nicht eigentlich unter die Schlüsselgewalt fällt, besteht darin, daß die Hirten das Volk (die Gemeinde), je nach Erfordernis der Zeit, zum Fasten, zu feierlichen Gebeten oder zu anderen Übungen der Demut, der Buße und des Glaubens ermahnen sollen, deren Zeit, Art und Form im Worte Gottes nicht vorgeschrieben, sondern dem Urteil der Kirche überlassen wird. Die Übung auch dieses Stücks der Kirchenzucht ist segensreich, und sie ist dementsprechend in der Alten Kirche schon seit der Zeit der Apostel stets gebräuchlich gewesen. Allerdings haben nicht einmal die Apostel den ersten Anfang damit gemacht, sondern sie haben das Vorbild dazu aus dem Gesetz und den Propheten entnommen. Denn wie wir da lesen, wurde jedesmal, wenn sich ein ernsterer Fall ereignete, das Volk zusammengerufen, und dann wurden öffentliche Gebete und Fasten angesetzt. Die Apostel haben sich also einem Brauch angeschlossen, der dem Volke Gottes nicht neu war und von dem sie vorhersahen, daß er sich segensreich auswirken werde. Ähnlich ist es mit den anderen Übungen bestellt, durch die das Volk zu seiner Pflicht ermuntert oder bei Pflicht und Gehorsam erhalten werden kann. Beispiele dafür treten uns in den heiligen Geschichten immer wieder entgegen, und es ist nicht nötig, sie aufzuzählen. Zusammenfassend müssen wir festhalten: jedesmal, wenn sich ein Streit über Religionsfragen erhebt, der von einer Synode oder einem kirchlichen Gericht entschieden werden muß, wenn es darum geht, einen Diener zu wählen, kurz, wenn eine schwierige oder bedeutungsvolle Sache vorliegt oder wenn umgekehrt die Zorngerichte des Herrn, wie Pestilenz, Krieg oder Hungersnot, in die Erscheinung treten, dann ist es eine heilige und für alle Zeiten heilbringende Ordnung, daß die Hirten das Volk zu öffentlichen Fasten und außerordentlichen Gebeten ermahnen. Wenn jemand die Beispiele, die man aus dem Alten Testament vorbringen kann, nicht annimmt, weil sie nach seiner Meinung auf die christliche Kirche weniger paßten, so steht es jedenfalls fest, daß auch die Apostel so gehandelt haben. Freilich wird sich meiner Ansicht nach schwerlich jemand finden, der wegen der Gebete Bedenken erhebt. Wir wollen also einiges über das Fasten sagen; denn es gibt sehr viele Leute, die nicht begreifen, welchen Nutzen es hat, und die deshalb der Meinung sind, es sei nicht so nötig, ferner sind andere da, die es als etwas überflüssiges gänzlich verwerfen, und endlich verfällt man, wenn man die Übung des Fastens nicht richtig versteht, leicht in Aberglauben.
IV,12,15
Ein heiliges und rechtmäßiges Fasten hat nun einen dreifachen Zweck. Denn wir wenden es an, (1.) um das Fleisch zu zähmen und zu unterwerfen, damit es sich nicht ungebunden gehen läßt, oder (2.), um zu Gebeten und heiligen Betrachtungen besser bereitet zu sein, oder endlich (3), um ein Zeichen unserer Demütigung vor Gott zu geben, wenn wir unsere Schuld vor ihm bekennen wollen.
Der erstgenannte Zweck kommt bei dem öffentlichen Fasten nicht besonders häufig in Betracht, weil nicht alle Leute von gleicher leiblicher Verfassung und Kraft sind; dieser Zweck paßt also mehr für das persönliche Fasten des einzelnen.
Der zweite Zweck findet sich beim öffentlichen wie beim privaten Fasten; denn die gesamte Kirche hat solche Bereitung zum Beten ebenso nötig wie jeder einzelne unter den Gläubigen für sich allein.
Auch von dem dritten Zweck gilt Ähnliches. Denn es wird zuweilen vorkommen, daß Gott ein bestimmtes Volk mit Krieg, Pestilenz oder irgendwelcher Not schlägt. Unter solch gemeinsamer Züchtigung soll sich das ganze Volk als schuldig anerkennen und auch seine Schuld bekennen. Trifft aber die Hand des Herrn einen einzelnen Menschen, so soll er allein oder mit seiner Hausgenossenschaft das gleiche tun. Nun beruht solches Anerkennen und Bekennen der Schuld zwar vornehmlich auf der inneren Regung des Herzens. Aber wo das Herz die rechte Empfindung hat, da kann das kaum geschehen, ohne daß es auch in eine äußere Beteuerung ausbricht, und zwar namentlich dann, wenn es zur allgemeinen Erbauung dient, daß alle miteinander durch öffentliches Bekenntnis ihrer Sünde Gott den Lobpreis der Gerechtigkeit zollen und jeder den anderen durch sein Beispiel dazu ermuntert.
IV,12,16
Daher findet das Fasten, weil es ein Zeichen der Demütigung ist, im öffentlichen Leben häufiger Anwendung als bei den einzelnen Menschen - obwohl es, wie gesagt, in beiden Fällen im Gebrauch steht. Was also die Zucht betrifft, um die es sich ja hier handelt, so wird es wohl, sooft es gilt, wegen eines wichtigen Anliegens zu Gott zu beten, angezeigt sein, mit dem Gebet zusammen auch ein Fasten anzusetzen. So geschah es, als die Antiochener dem Paulus und dem Barnabas die Hände auflegten: um den Dienst dieser Männer, der von so großer Bedeutung war, Gott desto besser ans Herz zu legen, verbanden sie mit ihrem Gebet das Fasten (Apg. 13,3). Ebenso haben diese beiden Männer nachher, als sie für die Kirchen hin und her Diener einsetzten, die Gewohnheit gehabt, unter Fasten zu beten (Apg. 14,23). Mit dieser Art von Fasten verfolgten sie keinen anderen Zweck, als eifriger und freier zum Beten zu werden. Denn wir machen ja unzweifelhaft die Erfahrung, daß bei vollem Bauche der Geist nicht derart zu Gott emporgerichtet ist, daß er von ernstlicher, heißer Empfindung zum Gebet getrieben werden und in ihm verharren könnte. So ist es auch zu verstehen, wenn Lukas von der Hanna berichtet, sie habe dem Herrn „mit Fasten und Beten gedient“ (Luk. 2,37). Denn damit macht er das Fasten nicht etwa zu einem Bestandteil des Gottesdienstes, sondern gibt nur zu verstehen, daß die heilige Frau sich auf diese Weise zu beständigem Eifer im Gebet geübt habe. Von dieser Art war auch das Fasten des Nehemia, als er Gott mit gespanntem Eifer um die Befreiung seines Volkes bat (Neh. 1,4). Aus diesem Grunde sagt Paulus, die Gläubigen täten recht daran, wenn sie sich zeitweilig des ehelichen Umgangs enthielten, um desto freier „zum Fasten und Beten Muße zu haben“ (1. Kor. 7,5); er verbindet hier das Fasten als ein Hilfsmittel mit dem Gebet und macht dadurch darauf aufmerksam, daß es an und für sich nur soweit Bedeutung hat, als es diesem Zweck dienstbar ist. Außerdem gibt er an dieser Stelle (Vers 3) den Eheleuten die Weisung, sich gegenseitig „die schuldige Freundschaft“ zu leisten (d.h.: was in Vers 5 gesagt ist, stellt eine Ausnahme dar!), und daraus ergibt sich deutlich, daß er (Vers 5) nicht von den täglichen Gebeten redet, sondern von solchen, die eine besonders ernste Aufmerksamkeit erfordern.
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Auf der anderen Seite: wenn Pestilenz oder Hungersnot oder Krieg zu wüten beginnen oder wenn sonst einem Land oder Volk ein Verderben zu drohen scheint, so ist es auch in solchem Falle die Amtspflicht der Hirten, die Kirche zum Fasten zu ermahnen, um den Herrn demütig um Abwendung seines Zorns zu bitten. Denn wenn er eine Gefahr auftreten laßt, so kündigt er damit an, daß er sich zur Strafe bereitet und gleichsam wappnet. Wie sich also früher die Angeklagten mit lang herabhängendem Barte, mit ungeschorenem Haupthaar und im Trauergewand demütig vor ihrem Richter niederzuwerfen pflegten, um von ihm Barmherzigkeit zu erlangen, so ist es sowohl der Ehre Gottes und der allgemeinen Erbauung dienlich als auch für uns selbst nützlich und heilsam, daß wir ihn in erbarmungswürdiger Haltung um Abwendung seiner Strenge bitten, wenn wir vor seinem Richterstuhl als Angeklagte erscheinen. Und daß dies im Volke Israel gebräuchlich gewesen ist, das läßt sich leicht aus den Worten des Joel entnehmen; denn wenn er gebietet, man solle mit Posaunen blasen, die Gemeinde zusammenrufen, ein Fasten ausschreiben und so weiter (Joel 2,15f.), so spricht er wie von Dingen, die durch allgemeine Übung in Aufnahme gekommen waren. Kurz vorher hatte er gesagt, über die Schandtaten des Volkes solle jetzt Untersuchung gehalten werden, er hatte auch angekündigt, daß der Tag des Gerichtes bereits bevorstehe, und er hatte die Schuldigen zur Rechenschaft gerufen (Joel 2,1). Und dann ruft er laut, das Volk solle zu Sack und Asche, zu Weinen und Fasten eilen, das heißt: es solle sich auch mit äußeren Zeichen vor dem Herrn niederwerfen (Joel 2,12). Nun paßten Asche und Sack vielleicht mehr für jene Zeiten; aber die Zusammenberufung des Volkes, das Weinen und das Fasten und was sonst dergleichen ist, das gehört unzweifelhaft in gleicher Weise auch in unsere Zeit, und zwar jedesmal, wenn es die Lage unserer Verhältnisse erfordert. Denn es ist doch eine heilige Übung zur Demütigung der Menschen wie auch zum Bekenntnis solcher Demut - und weshalb sollten wir es da weniger anwenden als die Alten in gleicher Not? Wir lesen doch, daß nicht nur die israelitische Kirche, die nach Gottes Wort gestaltet und eingerichtet war, zum Zeichen der Trauer gefastet hat (1. Sam. 7,6; 31,13; 2. Sam. 1,12), sondern daß auch die Einwohner von Ninive das gleiche getan haben, die doch keine andere Unterweisung besaßen als allein die Predigt des Jona (Jona 3,5). Was für ein Grund besteht also, daß wir nicht dasselbe tun sollten?
Aber, so könnte man einwenden, es handelt sich doch hier um eine äußerliche Zeremonie, die mit den anderen zusammen in Christus ihr Ende gefunden hat! Nein, das Fasten ist, wie es das stets gewesen ist, für die Gläubigen auch heute noch ein sehr gutes Hilfsmittel und eine segensreiche Mahnung, sich selber aufzumuntern, damit sie Gott in ihrer allzu großen Sorglosigkeit und Lässigkeit nicht mehr und mehr reizen, wenn sie von seinen Geißeln gezüchtigt werden. Deshalb sagt Christus, als er seine Apostel wegen ihrer Unterlassung des Fastens entschuldigt, auch nicht etwa, das Fasten sei abgeschafft, sondern er bestimmt es für notvolle Zeiten und verbindet es mit der Trauer; „es wird die Zeit kommen“, sagt er, „daß der Bräutigam von ihnen genommen wird“ (Matth. 9,15; Luk. 5,34f.).
IV,12,18
Damit aber an dem Namen kein Irrtum entsteht, so wollen wir bestimmen, was Fasten bedeutet. Denn unter Fasten verstehen wir nicht etwa einfach Enthaltsamkeit im Essen und Trinken, sondern etwas anderes. Gewiß soll das Leben der Frommen dermaßen von Einfachheit und Schlichtheit regiert werden, daß es, soweit das möglich ist, in seinem ganzen Verlauf eine bestimmte Art von Fasten an den Tag legt. Aber es gibt außerdem noch ein anderes, zeitliches Fasten, wobei wir uns etwas von der gewohnten Lebensweise abziehen, und zwar entweder für einen Tag oder für bestimmte Zeit, und wobei wir uns im Essen und Trinken eine Enthaltsamkeit auferlegen, die schärfer und strenger ist als
die sonst gewöhnliche. Dies Fasten besteht nun in drei Stücken: in der Zeit, in der Art der Speisen und in der Einschränkung (bezüglich der Menge). Unter der „Zeit“ verstehe ich dies, daß wir die Handlungen, um derentwillen das Fasten verordnet wird, nüchtern vollbringen. So zum Beispiel: wenn jemand um des öffentlichen Gebets willen fastet, so soll er sich dazu einfinden, ohne gegessen zu haben. Die „Art“ besteht darin, daß wir alle Leckereien beiseite lassen und, mit gewöhnlicher, einfacher Nahrung zufrieden, unseren Gaumen nicht mit köstlicher Speise reizen. Das (sparsame) Bedachtnehmen auf das „Maß“ bedeutet, daß wir uns spärlicher und leichter ernähren, als wir es sonst gewohnt sind, und unsere Nahrung nur der Notdurft, nicht aber zugleich dem Ergötzen dienen lassen.
IV,12,19
Stets aber müssen wir uns in erster Linie davor hüten, daß sich irgendwelcher Aberglaube einschleicht, wie das vor unserer Zeit zum großen Schaden der Kirche eingetreten ist. Denn es wäre viel besser, wenn überhaupt keinerlei Fasten geübt würde, als wenn man es zwar fleißig übt, aber unterdessen mit falschen und schädlichen Vorstellungen verdirbt, in die die Welt leicht hineingleitet, wenn die Hirten nicht mit größter Treue und Vorsicht dagegen auftreten.
Zuerst haben sie die Pflicht, stets darauf zu dringen, was Joel lehrt: „Zerreißet eure Herzen und nicht eure Kleider“ (Joel 2,13). Das bedeutet: sie müssen das Volk darauf aufmerksam machen, daß Gott dem Fasten an und für sich keinen großen Wert beimißt, wenn nicht eine innerliche, Regung des Herzens dabei ist, ein wahres Mißfallen an der Sünde und an sich selbst wahre Demütigung und wahrer Schmerz, wie er aus der Furcht Gottes entsteht. Ja, sie müssen darauf hinweisen, daß das Fasten aus keinem anderen Grunde von Nutzen ist, als weil es als untergeordnetes Hilfsmittel zu jenen inneren Empfindungen hinzutritt. Denn Gott verabscheut nichts mehr, als wenn ihm die Menschen Zeichen und einen äußeren Schein statt der Unschuld des Herzens vorhalten und ihn dadurch zu betrügen versuchen. Deshalb fährt Jesaja mit äußerster Schärfe gegen die Heuchelei los, daß die Juden meinten, Gott sei schon Genüge geschehen, sobald sie bloß gefastet hätten, so sehr sie auch Gottlosigkeit und unreine Gedanken in ihrem Herzen nährten. „Sollte das ein Fasten sein“, sagt er, „das der Herr erwählt hat ...?” (Jes. 58,5; ungenau). Solch heuchlerisches Fasten ist also nicht nur eine nutzlose und überflüssige Bemühung, sondern der furchtbarste Greuel.
Noch vor einem zweiten Übel, das mit diesem ersten verwandt ist, müssen wir uns aufs höchste in acht nehmen, nämlich, daß das Fasten nicht etwa für ein verdienstliches Werk oder für eine Erscheinungsform des Gottesdienstes gehalten werde. Denn es ist doch an und für sich ein Mittelding und hat keinerlei Bedeutung als allein um der Zwecke willen, auf die es sich beziehen soll, und deshalb ist es der verderblichste Aberglaube, wenn man es mit den Werken durcheinandermengt, die Gott geboten hat und die an und für sich, nicht erst im Blick auf etwas anderes, notwendig sind. Von dieser Art war einst der Aberwitz der Manichäer, und bei ihrer Widerlegung setzt Augustin deutlich genug auseinander, daß das Fasten einzig und allein von den oben genannten Zwecken her beurteilt werden darf und daß es von Gott nur dann gutgeheißen wird, wenn es sich auf diese bezieht (Von den Gebräuchen der Manichäer II,13; Gegen den Manichäer Faustus XXX,5).
Der dritte Irrtum ist zwar nicht gar so gottlos, aber trotzdem gefährlich. Er besteht darin, daß man das Fasten als eine der wichtigsten Pflichten ansieht und es dann gar zu hartnäckig und streng fordert und mit maßlosen Lobsprüchen derart erhebt, daß die Menschen meinen, sie hätten etwas ganz Hervorragendes getan, wenn sie gefastet hätten. In diesem Stück wage ich die Alten nicht völlig zu entschuldigen (und zu behaupten), daß sie nicht gewisse Samenkörner
des Aberglaubens ausgestreut und der hernach aufgekommenen Tyrannei eine Gelegenheit gegeben hätten. Freilich begegnen uns zuweilen auch gesunde und verständige Aussagen über das Fasten, aber später findet man dann von Zeit zu Zeit maßlose Lobsprüche darüber, die es unter die vornehmsten Tugenden erheben.
IV,12,20
Und dann hat sich allenthalben das abergläubische Halten des vierzigtägigen Fastens durchgesetzt (also ein Fasten während der Passionszeit, vierzig Tage vor Ostern), weil einerseits das Volk der Meinung war, Gott damit einen ganz besonders hervorragenden Gehorsam zu leisten, und weil es andererseits von den Hirten als heilige Nachfolge Christi empfohlen wurde. Und dabei liegt es doch auf der Hand, daß Christus nicht in der Absicht gefastet hat, um anderen ein Beispiel vorzuzeichnen, sondern um dadurch, daß er die Predigt des Evangeliums damit (d.h. mit einem vierzigtägigen Fasten) begann, durch die Tat zu beweisen, daß dies Evangelium nicht eine menschliche Lehre darstellte, sondern vom Himmel ausgegangen war (Matth. 4,2). Es ist auch ein Wunder, daß sich eine solch grobe Phantasterei bei Leuten mit scharfem Urteil einschleichen konnte, obwohl sie mit so vielen und so klaren Gründen widerlegt wird. Denn Christus fastet nicht häufiger - und das hätte doch geschehen müssen, wenn er ein Gesetz für solch ein jährlich wiederkehrendes Fasten hätte erlassen wollen -, sondern nur ein einziges Mal, als er sich zur Verkündigung des Evangeliums rüstet. Auch fastet er nicht nach menschlicher Weise, was er doch billigerweise hätte tun müssen, wenn er Menschen zur Nachahmung hätte auffordern wollen, sondern er läßt vielmehr ein Werk sichtbar werden, mit dem er alle Menschen zur Bewunderung fortreißt, statt sie zum Trachten nach Nacheiferung anzureizen. Und schließlich ist es mit diesem Fasten nicht anders bestellt als mit jenem, das Mose geübt hat, als er aus der Hand des Herrn das Gesetz empfing (Ex. 24,18; 34,28). Denn da jenes Wunder an der Person des Mose dazu gegeben war, die Autorität des Gesetzes zu bekräftigen, so konnte es bei Christus nicht unterbleiben, damit nicht Eindruck entstünde, als stehe das Evangelium hinter dem Gesetz zurück. Von jener Zeit an aber ist es nie jemandem in den Sinn gekommen, unter dem Vorwand einer Nachahmung des Mose eine solche Form des Fastens (wie er sie geübt) im Volke Israel einzuführen. Auch hat sich unter den heiligen Propheten und Vätern kein einziger diesem Fasten des Mose angeschlossen, obgleich sie doch zu allen frommen Übungen Neigung und Eifer genug hatten. Denn was von Elia berichtet wird, nämlich er habe vierzig Tage ohne Speise und Trank zugebracht (1. Kön. 19,8), das diente keinem anderen Zweck, als daß das Volk erkennen sollte, daß er zum Schützer des Gesetzes erweckt war, von dem gemeinhin das ganze Israel abgewichen war. Es war also lauter verkehrte, abergläubische Nachahmung, daß man dies Fasten mit dem Titel und der Deckfarbe der Nachfolge Christi schmückte.
Allerdings bestand dazumal in der Art und Weise des („vierzigtägigen“) Fastens eine außerordentliche Verschiedenheit, wie Cassiodor im neunten Buche seiner (Kirchen-) Geschichte (Historia tripartita IX,38) auf Grund des Socrates berichtet. Denn die Römer hatten, so sagt er, bloß drei (Fast-) Wochen, aber in diesen fasteten sie ununterbrochen mit Ausnahme des Sonntags und des Samstags. Die Illyrer und Griechen hatten sechs Wochen, andere wieder sieben, aber dann wurde das Fasten durch Zwischenzeiten unterbrochen. Nicht weniger groß war die Verschiedenheit im Bezug auf die Unterscheidung der Speisen: die einen nährten sich (in der Fastenzeit) ausschließlich von Brot und Wasser, andere setzten Gemüse hinzu, wieder andere verschmähten auch Fisch und Geflügel nicht, wieder andere machten überhaupt keinen Unterschied in den Speisen. Diese Verschiedenheit erwähnt auch Augustin in seinem zweiten (tatsächlich im ersten) Brief an Januarius (Brief 54).
IV,12,21
Dann sind schlimmere Zeiten gekommen, und zu dem unangebrachten Eifer des Volkes gesellte sich einerseits die Unwissenheit und mangelnde Bildung der Bischöfe, andererseits ihre Herrschsucht und tyrannische Härte. Man hat gottlose Gesetze erlassen, die die Gewissen mit verderblichen Fesseln binden. So hat man das Essen von Fleisch verboten, als ob es den Menschen befleckte. Eine frevlerische Meinung wurde an die andere gereiht, bis man in einen Abgrund aller Irrtümer geraten ist. Und um nun ja keine Schlechtigkeit ungeschehen zu lassen, hat man angefangen, unter dem völlig albernen Vorwand der Enthaltsamkeit mit Gott seinen Spott zu treiben. Denn man sucht den Ruhm des Fastens in den ausgesuchtesten Leckerbissen, keine Köstlichkeiten sind dann genug, nie ist die Fülle, die Vielfältigkeit und der Wohlgeschmack der Speisen größer (als ausgerechnet in der Fastenzeit). Mit solchem kostbaren Aufwand meint man dann Gott recht zu dienen! Ich schweige noch davon, daß sich Leute, die als die Allerheiligsten angesehen werden wollen, nie schmählicher überladen (als beim „Fasten“). Kurzum, diese Leute halten es für den höchsten Gottesdienst, sich (in der Fastenzeit) des Fleisches zu enthalten - und dann mit dessen Ausnahme an Leckereien aller Art Überfluß zu haben! Und umgekehrt gilt es ihnen als die schlimmste Gottlosigkeit, die kaum mit dem Tode gesühnt werden kann, wenn jemand zu seinem Schwarzbrot auch nur ein kleines Stücklein Speck oder altes Fleisch genießt. Hieronymus erzählt, daß es schon zu seiner Zeit einige Leute gegeben hat, die durch dergleichen Albernheiten mit Gott ihren Spott trieben: das waren Leute, die nur ja kein Öl zu ihrer Nahrung gebrauchen wollten, sich aber eben deshalb von allen Seiten die kostbarsten Speisen zubringen ließen, ja, die sich, um der Natur Gewalt anzutun, des Wassertrinkens enthielten, aber dafür sorgten, daß sie wohlschmeckende, köstliche Tränklein bekamen, die sie dann nicht aus einem Becher, sondern aus einer Muschel tranken (Brief 52,12; an Nepotian). Dieser Mißstand herrschte dazumal nur bei einigen wenigen Menschen, heutzutage ist er bei allen reichen Leuten üblich: sie fasten allein zu dem einen Zweck, dabei um so köstlicher und glänzender zu schmausen! Aber ich will an diesen Gegenstand, der nicht eben mit Ungewißheit beladen ist, nicht viel Worte verschwenden. Ich behaupte nur dies: weder bei dem Fasten noch bei den anderen Teilen der Zucht besitzen die Papisten etwas Rechtschaffenes, Aufrichtiges oder recht Gestaltetes und Geordnetes, so daß sie etwa einen Anlaß zu hoffärtigem Selbstruhm hätten, als ob bei ihnen etwas übrig wäre, das Lob verdiente.
IV,12,22
Jetzt folgt der zweite Teil der Zucht, der sich in besonderer Weise auf den „Klerus“ bezieht. Dieser Teil ist in den „Canones“ (Regeln) enthalten, welche die alten Bischöfe sich selbst und ihrem Stande (d.h. dem Klerus) auferlegt haben. So etwa: ein Kleriker darf sich nicht der Jagd widmen, auch nicht dem Würfelspiel, er darf nicht an Zechgelagen teilnehmen, kein Kleriker darf Geldgeschäfte und Kaufmannschaft betreiben, keiner darf bei ausgelassenen Tänzen zugegen sein, und dergleichen mehr. Zu diesen Regeln fügte man dann auch Strafen hinzu, durch welche die Autorität der „Canones“ ihre Sicherung erfuhr, damit sie niemand ungestraft verletzte. Zu diesem Zweck wurde nun jedem einzelnen Bischof die Leitung seines Klerus anvertraut: er sollte die ihm unterstellten Kleriker nach diesen „Canones“ regieren und bei ihrer Amtspflicht halten. Zu diesem Zweck waren auch jährliche Aufsichtsbesuche (inspectiones, Visitationen) und Synoden eingerichtet: wenn jemand in seiner Pflicht nachlässig war, so sollte er vermahnt werden, und wenn sich jemand vergangen hatte, so sollte man ihn nach dem Maß seines Vergehens strafen. Auch die Bischöfe selbst hatten Jahr für Jahr ihre Provinzialsynode, in alter Zeit sogar jährlich zwei, und auf diesen Synoden wurde über sie Gericht gehalten, wenn sie etwas gegen ihre Pflicht unternommen hatten. Denn wenn ein Bischof gegen seinen Klerus zu hart oder zu gewalttätig war, so bestand für diesen das Recht, sich auf jene Synode zu berufen, und
zwar auch dann, wenn sich nur ein einziger beschwerte. Die strengste Strafe bestand darin, daß der, der sich vergangen hatte, seines Amtes entsetzt und eine Zeitlang vom Abendmahl ausgeschlossen wurde. Bei diesen Synoden handelte es sich um eine dauernde Ordnung, und deshalb pflegte man nie eine auseinandergehen zu lassen, ohne Ort und Zeit der folgenden festzusetzen. Ein allgemeines Konzil einzuberufen war nämlich allein Sache des Kaisers, wie alle alten Ausschreibungen bezeugen.
Solange diese Strenge in Kraft blieb, verlangten die Kleriker mit dem Wort nicht mehr vom Volke, als sie mit eigenem Beispiel und Werk leisteten. Ja, sie waren gegen sich selbst viel schärfer als gegen den gemeinen Mann. Und in der Tat gehört es sich so, daß das Volk mit milderer und sozusagen loserer Zucht regiert wird, die Kleriker dagegen untereinander schärfere Strafen üben und sich selbst viel weniger durch die Finger sehen als anderen.
Wie nun das alles in Abgang gekommen ist, das brauche ich nicht zu berichten; denn heutzutage kann man sich nichts Zügelloseres und Ungezogeneres denken als den Klerikerstand, und er ist in eine solche Ungebundenheit geraten, daß das ganze Erdenrund darüber schreit. Damit man nun aber nicht den Eindruck gewinnt, als sei bei ihnen das ganze alte Wesen begraben, so täuschen sie, das gebe ich zu, die Augen einfältiger Leute mit Schattenbildern, die aber mit den alten Sitten ebensowenig zu tun haben wie die Nachahmung, die die Affen treiben, mit dem, was Menschen mit Verstand und Bedacht tun. Es gibt bei Xenophon eine denkwürdige Stelle, an der er lehrt, daß die Perser, obwohl sie von den Einrichtungen ihrer Vorfahren schmählich abgekommen und von der harten Lebensweise in Weichheit und Vergnügungen verfallen waren, dennoch die früheren Gebräuche eifrig bewahrten, um jene Schande zu verdecken. Während sich nämlich zur Zeit des Kyrus die Enthaltsamkeit und Mäßigkeit so weit auswirkte, daß es nicht nötig war und auch als Schande galt, auszuschneuzen, erhielt sich bei den Späteren zwar die heilige Scheu, die es verbot, die Nase zu schneuzen, aber unterdessen galt es als erlaubt, den stinkenden Speichel, den sie von ihrer Völlerei bekommen hatten, herunterzuschlucken und bis zum Verfaulen in sich zu behalten. Ebenso betrachteten sie es auf Grund alter Vorschrift als unschicklich, Krüge an den Tisch zu bringen, dagegen hielten sie es für erträglich, sich dermaßen an Wein zu überladen, daß man sie betrunken von dannen tragen mußte. Die Vorschrift besagte, daß man einmal (am Tage) essen durfte, und das hatten diese braven Nachfolger auch nicht abgeschafft - nur so, daß sie nun ihre Gelage vom Mittag bis zur Mitternacht durchgehen ließen! Einen Tagesmarsch nüchtern zu machen, das galt bei ihnen als dauernde Gepflogenheit - aber, um Ermüdung zu vermeiden, so nahmen sie sich aus gewohnter Übung die Freiheit und den Brauch, den Marsch nicht über zwei Stunden auszudehnen! (Xenophon, Cyropaedia, VIII, 8). Wenn nun die Papisten ihre entarteten Regeln zum Vorwand nehmen, um den Nachweis zu erbringen, daß sie mit den heiligen Vätern verwandt wären, so wird dies Beispiel jedesmal ihre lächerliche Nachahmung genugsam an den Tag kommen lassen, so daß kein Maler in der Lage wäre, sie lebenswahrer zum Ausdruck zu bringen.
IV,12,23
In einer einzigen Sache sind die Papisten mehr als hart und unerbittlich, nämlich darin, daß sie den Priestern die Ehe nicht gestatten wollen. Was für eine straflose Freiheit zur Hurerei sich bei ihnen breitmacht, das brauche ich nicht zu sagen. Sie sind im Vertrauen auf ihren stinkigen „Zölibat“ auch für alle Schandtaten gefühllos geworden. Dies Verbot aber zeigt deutlich, wie verderbenbringend alle Menschensatzungen sind; denn es hat nicht nur die Kirche der rechtschaffenen und brauchbaren Hirten beraubt, sondern eine greuliche Schmutzflut von Freveltaten herbeigeführt und viele Seelen in den Schlund der Verzweiflung gestürzt.
Auf jeden Fall ist das Verbot der Priesterehe aus gottloser Tyrannei erfolgt, nicht nur im Gegensatz zum Worte Gottes, sondern auch gegen jegliche Billigkeit. Zunächst war es den Menschen in keiner Weise erlaubt, zu verbieten, was der Herr frei gelassen hatte. Und dann: es ist so klar, daß es eines langen Nachweises nicht bedarf, daß Gott in seinem Wort Vorsorge gegen jeden Bruch dieser Freiheit getroffen hat. Ich übergehe es, daß Paulus an mehreren Stellen den Willen äußert, daß ein Bischof „eines Weibes Mann“ sei (1. Tim. 3,2; Tit. 1,6). Aber was hätte Nachdrücklicheres gesagt werden können, als wenn er auf Antrieb des Heiligen Geistes ankündigt, „in den letzten Zeiten“ würden gottlose Menschen auftreten, „die da gebieten, nicht ehelich zu werden“, und wenn er diese Menschen nicht nur „verführerisch“, sondern „Teufel“ nennt (1. Tim. 4,1.3)? Es ist also eine Weissagung, es ist ein heiliges Offenbarungswort des Heiligen Geistes, mit dem er die Kirche von Anfang an gegen solche Gefahren wappnen wollte, daß das Verbot der Ehe eine Teufelslehre ist!
Die Papisten aber meinen, sie wären fein säuberlich entkommen, indem sie diesen Spruch verdrehen und auf Montanus, die Nachfolger des Tatian, die Enkratiten und andere Ketzer der Alten Kirche beziehen. Nur diese, so sagen sie, haben den Ehestand verdammt, wir dagegen verdammen ihn durchaus nicht, sondern halten nur den „kirchlichen Stand“ von ihm fern, weil wir der Meinung sind, daß er sich für diesen nicht recht gehört. Als ob diese Weissagung sich nicht selbst dann, wenn sie in jenen Ketzern erfüllt wäre, auch auf diese Leute bezöge! Und als ob diese kindische Spitzfindigkeit, daß sie erklären, sie träfen ja gar kein Verbot, weil sie es eben nicht für alle treffen, auch nur wert wäre, angehört zu werden! Denn das ist doch genau so, als wenn ein Tyrann von einem seiner Gesetze behaupten wollte, es sei gar nicht unbillig, weil es in seiner Unbilligkeit eben nur einen Teil der Bürgerschaft bedrückte!
IV,12,24
Sie machen nun den Einwurf, es müsse doch irgend ein Kennzeichen geben, an dem sich der Priester von dem Volke unterscheide. Als ob der Herr nicht auch vorgesehen hätte, mit welcherlei Zierat die Priester sich auszeichnen sollten! Damit beschuldigen sie doch den Apostel, er habe den kirchlichen Stand in Verwirrung gebracht und die kirchliche Ehre verletzt, indem er es wagte, bei dem Umriß, in dem er uns das vollkommene Bild eines Bischofs gezeichnet hat, unter den anderen Gaben, die er bei einem Bischof fordert, auch den Ehestand zu nennen. Ich weiß, in welcher Weise die Papisten diese Stellen (1. Tim. 3,2; Tit. 1,6) auslegen; nämlich so: man dürfe einen Mann, der eine zweite Frau gehabt habe, nicht zum Bischof wählen. Ich gebe auch zu, daß diese Auslegung nicht neu ist. Aber daß sie falsch ist, das ergibt sich bereits aus dem Zusammenhang mit aller Klarheit. Denn Paulus gibt gleich darauf eine Vorschrift, von welcher Art die Ehefrauen der Bischöfe und Diakonen sein sollten (1. Tim. 3,11). Paulus nennt unter den Tugenden eines Bischofs auch die Ehe - die Papisten erklären sie beim kirchlichen Stande für ein unerträgliches Laster! Und zudem geben sie sich, mit Gottes Gunst zu reden, mit solcher allgemeinen Herabsetzung der Ehe nicht zufrieden, sondern nennen sie in ihren Rechtssatzungen auch eine „Unreinigkeit“ und „Befleckung“ (So Siricius, Brief 1, an Himerius; Decretum Gratiani I, 82,3f.)! Nun möge jeder bei sich selbst erwägen, aus was für einer Werkstatt das stammt! Christus würdigt den Ehestand solcher Ehre, daß er nach seinem Willen ein Ebenbild seiner heiligen Verbindung mit der Kirche ist. Was hätte wohl Herrlicheres gesagt werden können, um die Würde des Ehestandes zu preisen? Mit welcher Frechheit will man also einen Stand „unrein“ und „befleckt“ nennen, in dem ein Gleichnis der geistlichen Gnade Christi hervorleuchtet?
IV,12,25
Obwohl nun aber ihr (Ehe-) Verbot so deutlich zu Gottes Wort im Widerspruch steht, finden sie doch in der Schrift etwas, um es zu verteidigen. Die levitischen Priester, so sagen sie, mußten sich doch, sooft die Reihe des Dienstes an sie kam, ihrer Frauen enthalten, um die heiligen Handlungen rein und unbefleckt zu verrichten. Da nun aber unsere heiligen Handlungen viel edler sind und zudem alle Tage stattfinden, so wäre es sehr ungebührlich, wenn sie von Verheirateten verrichtet würden. Als ob der Dienst am Evangelium die gleiche Stellung hätte wie einst das levitische Priestertum! Denn die levitischen Priester waren gleichsam ein Abbild und sollten Christus bedeuten, der als der Mittler zwischen Gott und den Menschen (1. Tim. 2,5) einst durch seine vollkommene Reinheit den Vater mit uns versöhnen sollte. Da sie aber als sündige Menschen das Bild seiner Heiligkeit nicht in jeder Hinsicht zur Darstellung bringen konnten, so erhielten sie, um es doch wenigstens mit einigen Umrissen nachzubilden, das Gebot, sich über die Sitten der Menschen hinaus zu reinigen, wenn sie in das Heiligtum eingingen; denn dann stellten sie ja im eigentlichen Sinne ein Abbild Christi dar, weil sie, gleichsam als Friedensbringer, zur Versöhnung des Volkes mit Gott in der „Hütte“ erschienen, die ein Gleichnis des himmlischen Richterstuhls war. Diese Stellung haben die Kirchenhirten heutzutage nicht, und deshalb ist es vergebens, wenn man sie mit jenen Priestern vergleicht. Deshalb erklärt der Apostel, ohne eine Ausnahme zu machen, die Ehe sei bei allen etwas „Ehrliches“, der Hurer und Ehebrecher aber warte Gottes Gericht (Hebr. 13,4). Und die Apostel haben es selbst durch ihr Beispiel erhärtet, daß der Heiligkeit keiner auch noch so hervorragenden Amtsstellung durch die Ehe Eintrag geschieht. Denn, wie Paulus bezeugt, haben sie nicht nur ihre Frauen behalten, sondern sie auch mit sich umhergeführt (1. Kor. 9,5).
IV,12,26
Ferner war es auch eine verwunderliche Schamlosigkeit, daß sie jene (äußerliche) Schicklichkeit eines keuschen Lebens als etwas Notwendiges ausgaben - zu höchster Schmähung der Alten Kirche, die überreich war an herrlicher Erkenntnis Gottes, aber doch noch mehr durch ihre Heiligkeit hervorragte. Denn wenn sie sich schon nicht um die Apostel kümmern - sie pflegen sie ja zuweilen wacker zu verachten -, so möchte ich doch immerhin gern wissen, was sie mit all den Vätern der Alten Kirche machen wollen, die ohne Zweifel beim Stande der Bischöfe die Ehe nicht nur geduldet, sondern sogar gebilligt haben. Die haben dann wohl eine „schnöde Entweihung“ der heiligen Handlungen gefördert; denn die Geheimnisse des Herrn empfingen ja bei ihnen nicht die „rechte“ Verehrung! Man hat zwar auf der Synode von Nicäa darüber verhandelt, den Zölibat vorzuschreiben - wie es ja nie an abergläubischen Leutchen fehlt, die sich stets etwas Neues erdenken, um sich dadurch Bewunderung zu verschaffen. Aber was hat man in Nicäa beschlossen? Nun, man ist der Meinung des Paphnutius beigetreten, der erklärte, Keuschheit sei der Umgang mit der eigenen Frau (Historia tripartita II,14). Es blieb also der heilige Ehestand bei ihnen bestehen, und das hat ihnen keine Schande gebracht, auch hat man nicht geglaubt, daß dadurch ihr Amt mit irgendeinem Makel behaftet würde.
IV,12,27
Hernach sind Zeiten gekommen, in denen eine gar zu abergläubische Bewunderung des Zölibats mehr und mehr zugenommen hat. Daher rührten auch die immer neu und ohne Maß hergesungenen Lobsprüche über die Jungfräulichkeit, die soweit gingen, daß man allgemein der Überzeugung war, es gäbe keine andere Tugend, die mit ihr zu vergleichen wäre. Und obwohl der Ehestand nicht als Unreinheit verdammt wurde, so hat man seine Würde doch dermaßen herabgesetzt und seine Heiligkeit derart verdunkelt, daß einer, der sich der Ehe nicht enthielt, nicht mit genügend wackerem Willen zur Vollkommenheit zu streben schien. Daher kommen
dann auch jene Kirchensatzungen, in denen man zunächst untersagte, daß die, die den Rang eines Priesters erreicht hatten, die Ehe eingingen, und dann auch verordnete, daß in den Priesterstand nur Ehelose aufgenommen wurden oder aber solche, die zusammen mit ihrer Frau auf den ehelichen Umgang verzichteten. Das ist, wie ich gestehe, auch in alter Zeit mit großem Beifall aufgenommen worden, weil es dem priesterlichen Stande Ehrfurcht zu verschaffen schien. Wenn mir aber unsere Widersacher die alte Zeit vorhalten, so antworte ich erstens, daß sowohl unter den Aposteln als auch einige Jahrhunderte nach ihnen die Freiheit bestanden hat, daß die Bischöfe verheiratet waren, von dieser Freiheit, so antworte ich ferner, haben die Apostel selbst und auch andere Hirten von erstrangiger Autorität, die später ihre Stelle einnahmen, ohne Schwierigkeiten Gebrauch gemacht. Das Beispiel der älteren Kirche aber, so sage ich weiter, muß bei uns verdientermaßen mehr gelten, als daß wir das, was damals mit Lob angenommen und im Gebrauch war, für uns als unerlaubt oder unschicklich ansehen könnten. Zweitens gebe ich unseren Widersachern zur Antwort: jene Zeit, die aus maßloser Hochschätzung der Jungfräulichkeit den Ehestand recht unbillig zu behandeln begann, hat den Priestern das Gesetz des Zölibats doch nicht dergestalt auferlegt, als ob es etwas an und für sich Notwendiges wäre, sondern sie hat es getan, weil sie die Ehelosen über die Verheirateten stellte. Und schließlich sage ich: man hat den Zölibat nicht so gefordert, daß man solche, die nicht in der Lage waren, Enthaltsamkeit zu üben, mit Zwang oder Gewalt dazu genötigt hätte. Denn obwohl man die Hurerei mit den strengsten Gesetzen strafte, traf man für die, welche die Ehe eingingen, nur die Bestimmung, sie sollten ihr Amt niederlegen.
IV,12,28
Sooft also die Verteidiger dieser neuen Tyrannei zum Schutz für ihren Zölibat die alte Zeit als Vorwand zu benutzen suchen, muß man ihnen die Forderung entgegenhalten, sie sollten bei ihren Priestern die alte Keuschheit wiederherstellen und die Ehebrecher und Hurer entfernen, sollten es auch nicht geschehen lassen, daß die Leute, bei denen sie einen ehrbaren und keuschen Gebrauch des ehelichen Verkehrs nicht zugeben wollen, sich nun ungestraft in Zuchtlosigkeit jeder Art hineinstürzen. Man muß ihnen sagen, sie sollten jene in Abgang geratene Zucht wiederherstellen, durch die aller Ausschweifung gesteuert wird, und sie sollten die Kirche von jener so schmachvollen Schandbarkeit befreien, von der sie nun schon lange entstellt ist. Haben sie das zugestanden, so muß man sie wiederum daran mahnen, nicht eine Sache als notwendig auszugeben, die an und für sich frei ist und vom Nutzen für die Kirche abhängt.
Ich sage das nun aber nicht etwa, weil ich der Meinung wäre, man sollte überhaupt unter irgendwelcher Bedingung jenen Kirchensatzungen Raum geben, die dem Kirchenstande das Joch des Zölibats auf den Hals legen, sondern ich sage es, damit verständigere Leute erkennen, mit welcher Frechheit unsere Feinde den heiligen Ehestand bei den Priestern in Verruf bringen, und das, indem sie den Namen der Alten Kirche als Vorwand brauchen!
Was nun die Kirchenväter betrifft, so haben auch diese, wenn sie auf Grund ihres eigenen Urteils reden, die Ehrbarkeit des Ehestandes nicht in solcher Boshaftigkeit herabgesetzt, mit Ausnahme des Hieronymus. Wir wollen uns mit einem einzigen Wort des Chrysostomus begnügen; denn er war ja der vornehmste Bewunderer der Jungfräulichkeit, und es ist deshalb nicht anzunehmen, daß er in Lobeserhebungen des Ehestandes verschwenderischer gewesen wäre als andere. Er sagt nun: „Die erste Stufe der Keuschheit ist reine Jungfräulichkeit, die zweite eine treue Ehe. Keusche eheliche Liebe ist also eine zweite Gestalt der Jungfräulichkeit“ (Predigt über die Auffindung des Kreuzes).
Dreizehntes Kapitel
Von den Gelübden, durch deren unbesonnenes Aussprechen sich jedermann jämmerlich in Stricke gelegt hat
IV,13,1
Es ist zwar eine beklagenswerte Sache, daß die Kirche, der doch um den unschätzbaren Preis des Blutes Christi die Freiheit erkauft worden ist, dermaßen von grausamer Tyrannei unterdrückt ist und unter einem gewaltigen Haufen von Menschensatzungen fast verschüttet liegt. Jedoch zeigt unterdessen auch der persönliche Aberwitz jedes einzelnen, daß Gott dem Satan und seinen Dienern nicht ohne gerechteste Ursache soweit die Zügel hat schießen lassen. Denn es war noch nicht genug, daß man (allgemein) unter Außerachtlassung der Herrschaft Christi alle und jegliche Lasten ertrug, die einem von falschen Lehrern auferlegt wurden, nein, es hat sich auch jeder einzelne noch seine eigenen Lasten obendrein verschafft und sich so, indem er sich selber eine Grube aushob, nur noch tiefer sinken lassen. Das ist geschehen, indem man sich um die Wette Gelübde ausdenkt, so daß von diesen her zu den alle gemeinsam umschlingenden Fesseln auch noch eine größere und härtere Verpflichtung tritt. Da wir nun dargelegt haben, daß durch die Vermessenheit derer, die in der Kirche unter dem Namen von „Hirten“ die Herrschaft ausgeübt haben, die Verehrung Gottes verdorben worden ist, indem sie die armen Seelen mit ihren unbilligen Gesetzen in Stricke gelegt haben, wird es nicht unangebracht sein, hier einen ähnlich gearteten Mißstand anzufügen, damit es offenbar wird, daß die Welt in der Bosheit ihres Wesens mit allen ihr zur Verfügung stehenden Widerständen allezeit die Hilfsmittel von sich gestoßen hat, mit denen sie hätte zu Gott geführt werden sollen.
Damit es nun deutlicher zutage tritt, daß sich aus den Gelübden ein sehr schlimmer Schaden ergeben hat, muß der Leser die bereits oben aufgestellten Grundsätze festhalten. Wir haben nämlich erstens dargelegt, daß alles, was man für eine fromme und heilige Gestaltung des Lebens (an Anweisungen) verlangen mag, im Gesetz zusammengefaßt ist. Zweitens haben wir gelehrt, daß der Herr, um uns desto besser davon abzuhalten, uns neue „Werke“ zu ersinnen, alles Lob der Gerechtigkeit in dem schlichten Gehorsam gegen seinen Willen beschlossen hat. Ist das aber wahr, so ist damit unmittelbar das Urteil gegeben, daß aller ersonnene Gottesdienst, den wir uns selbst zusammendichten, um uns bei Gott ein Verdienst zu erwerben, ihm durchaus nicht wohlgefällig ist, so sehr wir auch unsere Lust daran haben mögen. Und fürwahr, der Herr verwirft diesen „Gottesdienst“ nicht nur klar und deutlich an vielen Stellen, sondern er ist ihm ernstlich ein Greuel.
Hieraus ergibt sich nun mit Bezug auf die Gelübde, die außerhalb des ausdrücklichen Wortes Gottes geschehen, die Frage, welche Stellung ihnen beizumessen ist, ob ein Christenmensch sie rechtmäßig leisten kann und wie weit er an sie gebunden ist.
Denn was unter den Menschen ein „Versprechen“ heißt, das nennt man im Blick auf Gott ein Gelübde. Menschen versprechen wir nun das, was ihnen nach unserem Dafürhalten angenehm sein wird oder was wir ihnen pflichtmäßig zu leisten schuldig sind. Es gehört sich also, daß wir bei den Gelübden eine noch viel größere Aufmerksamkeit walten lassen, weil sie sich ja an Gott selber richten, mit dem wir doch in höchstem Ernste zu verkehren haben.
Hier hat sich nun zu allen Zeiten der Aberglaube auf wunderliche Weise breitgemacht, so daß die Menschen ohne Urteil und ohne Unterschied alles, was ihnen in den Sinn oder auch in den Mund kam, sogleich Gott gelobten. Daher kommen jene albernen Gelübde, ja, jene ungeheuerlichen Widersinnigkeiten bei den Heiden, mit denen sie auf gar zu freche Weise mit ihren Göttern Spott getrieben haben. Und
wollte Gott, daß nicht auch die Christen diese Vermessenheit der Heiden nachgeahmt hätten! Das gehörte sich zwar durchaus nicht, aber wir sehen doch, daß mehrere Jahrhunderte hindurch nichts weiter verbreitet war als diese Schelmerei, daß das Volk in allgemeiner Verachtung des Gesetzes voll und ganz in wahnwitzigem Eifer entbrannt war, alles zu geloben, was ihm im Traum Wohlgefallen hatte. Ich will nicht häßlich übertreiben, will auch nicht im einzelnen aufzählen, wie schwer und auf wie vielfältige Weise man hier gesündigt hat, sondern ich habe es nur richtig gefunden, dies im Vorbeigehen auszusprechen, damit es deutlicher zutage tritt, daß wir keineswegs eine Untersuchung über eine überflüssige Sache anstellen, wenn wir uns jetzt die Gelübde vornehmen.
IV,13,2
Wenn wir nun bei unserem Urteil darüber, welche Gelübde rechtmäßig und welche verkehrt sind, nicht in die Irre geraten wollen, so müssen wir drei Fragen erwägen. (1.) Wer ist der, dem wir solch Gelübde leisten? (2.) Wer sind wir, die wir ein Gelübde tun? (3.) In welcher Gesinnung sprechen wir ein Gelübde aus?
Die erste Frage will uns darauf hinweisen, daß wir es mit Gott zu tun haben, der solches Wohlgefallen an unserem Gehorsam hat, daß er alle „selbsterwählte Geistlichkeit“, so köstlich und glanzvoll sie auch in den Augen der Menschen sein mag, für verflucht erklärt (Kol. 2,23). Wenn aller eigenwillige Gottesdienst, den wir uns selbst ohne Gottes Gebot ausdenken, vor ihm ein Greuel ist, so ergibt sich daraus, daß ihm kein anderer Gottesdienst wohlgefällig sein kann als der, den sein Wort gutheißt. Deshalb wollen wir uns nicht soviel willkürliche Freiheit herausnehmen, daß wir es wagen, Gott etwas zu geloben, das kein Zeugnis darüber besitzt, wie es von ihm beurteilt wird. Denn wenn das Wort des Paulus: „Was ... nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde“ (Röm. 14,23), sich auf alle und jegliche Werke erstreckt, so hat es jedenfalls in besonderer Weise seine Bedeutung, wo man seine Gedanken geraden Weges auf Gott selber richtet. Ja, wenn wir auch bei den geringsten Dingen - Paulus redet ja an jener Stelle von der Unterscheidung der Speisen - zu Fall kommen und in die Irre geraten, wo uns die Gewißheit des Glaubens nicht voranleuchtet, wieviel Bescheidenheit müssen wir dann erst walten lassen, wo wir an eine Sache von allerhöchster Wichtigkeit herantreten? Denn es gebührt sich doch, daß uns nichts ernster am Herzen liegt als die Pflichten der Religion. Wir müssen also bei unseren Gelübden in erster Linie behutsam darauf achten, daß wir uns niemals daran geben, etwas zu geloben, ohne daß unser Gewissen zunächst sicher davon überzeugt ist, daß es keinen unbesonnenen Schritt tut. vor der Gefahr der Unbesonnenheit wird es aber dann sicher sein, wenn es Gott den sein läßt, der ihm vorangeht und ihm gleichsam aus seinem Wort heraus eingibt, was gut oder was unnütz ist zu tun.
IV,13,3
Bei dem zweiten Punkt, den wir nach unseren obigen Ausführungen hier zu erwägen haben, geht es darum, daß wir (1.) unsere Kräfte messen, (2.) unseren Beruf im Auge behalten und (3.) das Gnadengeschenk der Freiheit, das uns Gott gewährt hat, nicht beiseite lassen. Denn wer etwas gelobt, das nicht in seinem Vermögen steht oder das seinem Beruf widerspricht, der ist vorwitzig, und wer Gottes Freundlichkeit verachtet, die ihn zum Herrn über alle Dinge einsetzt, der ist undankbar. Wenn ich so rede, so meine ich damit nicht, es wäre irgend etwas dergestalt in unsere Hand gelegt, daß wir es, gestützt auf das Vertrauen zu unserer eigenen Kraft, Gott zu geloben vermöchten. Denn es war in höchstem Maße wahrheitsgemäß, wenn man auf dem Konzil zu Orange (529) den Beschluß faßte, wir könnten Gott nichts rechtmäßig geloben, als was wir aus seiner Hand empfangen hätten, weil ja alles, was wir ihm darbrächten, seine reine Gabe sei (Kap. 11). Aber da uns das eine aus Gottes Freundlich-
keit gegeben, das andere aus seiner Billigkeit verweigert ist, so soll jeder nach der Weisung des Paulus das Maß der ihm gewährten Gnade berücksichtigen (Röm. 12,3; 1. Kor. 12,11).
(1.) Ich habe also hier nichts anderes im Sinn, als daß man seine Gelübde dem Maß angleicht, das einem Gott durch sein Geschenk vorgezeichnet hat, damit man nicht mehr wagt, als er zugestanden hat, und dabei ins Verderben rennt, indem man sich gar zu viel anmaßt. Ich will es an einem Beispiel deutlich machen. Bei Lukas werden Meuchelmörder erwähnt, die ein Gelübde taten, keine Speise zu sich zu nehmen, ehe sie den Paulus umgebracht hätten (Apg. 23,12). Selbst wenn es sich hier nun nicht um einen frevelhaften Ratschlag gehandelt hätte, so wäre doch der Vorwitz dieser Männer in keiner Weise zu ertragen, weil sie ja Leben und Tod eines Menschen ihrer eigenen Gewalt unterstellten. Ebenso wurde auch Jephthah für seine Torheit bestraft, als er in überstürztem Eifer ein unbedachtes Gelübde tat (Richt. 11,30f.). Bei dieser Gruppe von Gelübden steht der Zölibat in wahnwitziger Vermessenheit an oberster Stelle. Denn die Priester, Mönche und Nonnen vergessen ihre Schwachheit und trauen sich zu, sie seien in der Lage, den Zölibat innezuhalten. Welches Offenbarungswort aber hat die denn gelehrt, sie sollten ihr ganzes Leben in beständiger Keuschheit verbringen, wie sie ja solche Keuschheit bis zum Ende ihres Lebens geloben? Sie vernehmen doch über den allgemeinen Zustand der Menschen Gottes Stimme, die da spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“ (Gen. 2, 18)! Sie erkennen es, und wollte Gott, sie erführen es nicht auch, daß die Sünde, die in uns bleibt, nicht ohne sehr scharfe Stacheln ist. Woher nehmen sie denn die Zuversicht, jenen allgemeinen Beruf (der uns in die Ehe weist) für ihr ganzes Leben von sich zu werfen? Und das, wo doch die Gabe der Enthaltsamkeit zumeist nur für bestimmte Zeit gewährt wird, je, wie es die Gelegenheit erfordert! Sie sollen nicht erwarten, daß ihnen Gott in solcher Halsstarrigkeit als Helfer zur Seite stehen werde, nein, sie sollen sich lieber an das Wort erinnern: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Deut. 6,16; Luthertext richtig: Einzahl). Das aber heißt Gott versuchen, wenn man sich gegen die Natur stemmt, die er uns eingegeben hat, und wenn man seine gegenwärtigen Gaben verachtet, als hätten sie mit uns nichts zu tun. Die Papisten aber tun nicht nur dies, sondern sie wagen es auch noch, die Ehe eine Befleckung zu nennen, obwohl es Gott nicht im Widerspruch zu seiner Majestät befunden hat, sie einzurichten, obwohl er sie bei allen für ehrbar erklärt hat (Hebr. 13,4), obwohl Christus, unser Herr, sie mit seiner Gegenwart geheiligt und sich herbeigelassen hat, sie mit seinem erstem Wunder zu ehren (Joh. 2,2.6-11). Und jene entehrende Bezeichnung für die Ehe brauchen die Papisten nur, um mit wunderlichen Lobreden jedweden Zölibat zu erheben. Als ob sie nicht selbst mit ihrem Lebenswandel einen deutlichen Beweis dafür erbrächten, daß Zölibat und Jungfräulichkeit zwei verschiedene Dinge sind! Trotzdem nennen sie ihr Leben in höchster Unverschämtheit „engelgleich“. Damit tun sie den Engeln ganz sicher furchtbares Unrecht an, indem sie Hurer, Ehebrecher und noch etwas viel Schlimmeres und Gemeineres mit ihnen vergleichen. Hier bedarf es nun in der Tat durchaus keines Beweises, da sie durch die Sache selbst klar und deutlich überführt werden. Denn wir sehen es offen vor uns, mit was für furchtbaren Strafen der Herr allerorten solche Anmaßung und solche aus gar zu großem Selbstvertrauen stammende Verachtung seiner Gaben ahndet. Dabei will ich aus Schamgefühl die verborgeneren Dinge noch mit Schonung übergehen; denn schon das, was man von ihnen weiß, geht zu weit.
(2.) Unzweifelhaft dürfen wir nichts geloben, was uns daran hindern könnte, unserem Beruf zu dienen. Das wäre z.B. der Fall, wenn ein Hausvater das Gelübde täte, Weib und Kind zu verlassen und andere Lasten auf sich zu nehmen, oder wenn einer, der geschickt ist, ein obrigkeitliches Amt zu führen, und auch dazu erwählt wird, das Gelübde tun wollte, amtlos zu bleiben.
(3.) Wir sprachen dann auch davon, daß wir unsere Freiheit nicht verachten sollen. Was das bedeutet, ist einigermaßen schwierig, wenn es nicht näher entfaltet wird. Hierüber möge man also folgende kurze Ausführungen vernehmen. Da uns Gott zu Herren über alle Dinge gesetzt und sie uns dergestalt Untertan gemacht hat, daß wir sie alle zu unserem Vorteil gebrauchen sollen, so haben wir keinen Anlaß zu der Erwartung, es werde ein Gott wohlgefälliger Dienst sein, wenn wir uns zu Knechten der äußeren Dinge machen, die uns doch als Hilfen dienen sollen. Das sage ich deshalb, weil manche Leute das Lob der Demut daraus zu erlangen trachten, daß sie sich in die strenge Innehaltung vieler Satzungen verstricken, von denen wir doch nach Gottes nicht grundlosem Willen frei und ledig sein sollen. Wollen wir also dieser Gefahr entgehen, so müssen wir stets bedenken, daß wir von der Ordnung, die der Herr in der christlichen Kirche eingerichtet hat, in keiner Weise abweichen dürfen.
IV,13,4
Jetzt komme ich auf das zu sprechen, was ich oben an dritter Stelle nannte: es kommt sehr darauf an, in welcher Gesinnung man ein Gelübde tut, wenn anders man wünscht, daß es Gott wohlgefällig sei. Denn der Herr sieht das Herz an und nicht die äußere Erscheinung, und daher kommt es, daß ihm die gleiche Sache bei verändertem Vorsatz unseres Herzens bald gefällt und angenehm ist, bald auch heftig mißfällt. Wenn man ein Gelübde leistet, keinen Wein zu trinken, und dabei so tut, als ob darin irgendwelche Heiligkeit läge, so ist man ein abergläubischer Mensch; hat man aber bei solchem Gelübde einen anderen, nicht verkehrten Zweck im Auge, so kann es niemand mißbilligen.
Es gibt nun, soweit ich zu beurteilen vermag, vier Zwecke, auf die unsere Gelübde rechtmäßig gerichtet sein können; zwei von ihnen beziehe ich zu besserer Unterweisung auf die Vergangenheit, die beiden übrigen auf die Zukunft.
Auf die Vergangenheit beziehen sich erstens die Gelübde, mit denen wir unsere Dankbarkeit gegen Gott für empfangene Wohltaten bezeugen, zweitens solche, mit denen wir um begangener Missetaten willen an uns selber Strafe üben, um Gottes Zorn abzubitten. Die Gelübde der ersten Art wollen wir, wenn man will, als Übungen der Dankbarkeit (Dankgelübde) bezeichnen, die der zweiten Art als Übungen der Buße (Bußgelübde).
Ein Beispiel für die erste Gruppe haben wir in dem Zehnten, den Jakob gelobte, wenn der Herr ihn wohlbehalten aus der Verbannung in die Heimat zurückführen würde (Gen. 28,20.22). Ein weiteres Beispiel bieten uns die Friedensopfer des Alten Bundes, wie sie fromme Könige und Feldherrn, die im Begriff standen, einen gerechten Krieg zu führen, darzubringen gelobten, wenn sie den Sieg erlangen würden, oder jedenfalls, wie sie sie unter dem Druck einer größeren Not gelobten, wenn der Herr sie frei machen würde. In diesem Sinne müssen wir alle Stellen in den Psalmen verstehen, die von Gelübden handeln (Ps. 22,26; 56,13; 116,14.18). Derartige Gelübde können auch heutzutage bei uns in Übung stehen, sooft uns der Herr aus einer Niederlage oder aus einer schweren Krankheit oder aus irgendeiner anderen Gefahr errettet hat. Denn dann steht es nicht im Widerspruch zu der Pflicht eines frommen Menschen, Gott ein Gelübdeopfer als feierliches Zeichen seiner Dankbarkeit zu weihen, um seiner Freundlichkeit gegenüber nicht undankbar zu erscheinen.
Um zu zeigen, von welcher Art die Gelübde der zweiten Gruppe sind, wird ein einziges bekanntes Beispiel genügen. Wenn jemand durch seine Schlemmerei in eine Schandtat geraten ist, so besteht kein Hindernis dagegen, daß er sich zur Strafe für seine Unmäßigkeit eine Zeitlang alle Leckerbissen versagen könnte und das dann auch unter Anwendung eines Gelübdes täte, um sich dadurch mit einem festeren Bande zu verpflichten. Damit stelle ich aber für solche, die sich in solcher Weise vergangen haben, kein bleibendes Gesetz auf, sondern ich zeige nur, was diejenigen tun dürfen, die zu der Überzeugung gekommen sind, daß ihnen ein derartiges Gelübde von
Nutzen sei. Ich sehe also ein solches Gelübde als erlaubt an, jedoch so, daß ich es unterdessen frei bleiben lasse.
IV,13,5
Die Gelübde, die sich auf die Zukunft beziehen, haben teilweise (1.), wie gesagt, den Zweck, daß wir vorsichtiger werden, teilweise (2.) sollen sie uns auch gleichsam als Ansporn dienen, um uns zu unserer Pflicht aufzumuntern.
(1.) Wenn jemand sieht, daß er zu einem bestimmten Laster dermaßen geneigt ist, daß er sich bei einer sonst nicht schlechten Sache nicht im Zaum zu halten vermag, sondern gleich in etwas Böses gerät, so tut er nichts Widersinniges, wenn er sich durch ein Gelübde den Gebrauch dieser Sache für eine Zeitlang entzieht. Wenn also zum Beispiel jemand erkennt, daß ihm dieser oder jener leibliche Zierat gefährlich ist, und wenn er dann doch, von der Gier verlockt, heftig danach verlangt, was könnte der Besseres tun, als daß er sich einen Zaum anlegt, das heißt: sich den Zwang zum Verzicht auferlegt und sich dadurch von allen Bedenken befreit?
(2.) Oder ebenso: wenn jemand vergeßlich oder träge ist zur Erfüllung der notwendigen Pflichten der Frömmigkeit, weshalb soll der nicht ein Gelübde tun und dadurch sein Gedächtnis auffrischen und seine Faulheit austreiben?
In diesen beiden Arten von Gelübden, das gebe ich zu, kommt eine Art Kindererziehung zum Vorschein; aber eben deshalb, weil sie Stützen für die Schwachheit sind, werden sie von Unerfahrenen und Unvollkommenen nicht ohne Nutzen angewandt.
Wir werden also sagen, daß Gelübde, die einem unter diesen Zwecken dienen, vor allem in äußerlichen Dingen, rechtmäßig sind, wenn sie nur auf Gottes Billigung gestützt sind, zu unserem Beruf passen und nach dem Vermögen begrenzt sind, das uns die von Gott uns dargereichte Gnade verleiht.
IV,13,6
Nun ist es auch nicht schwer, aus dem Obigen zu entnehmen, was wir allgemein von den Gelübden zu halten haben. Ein Gelübde ist allen Gläubigen gemeinsam: das ist bei der Taufe gesprochen, und es wird von uns bekräftigt und gleichsam unverbrüchlich verbürgt, wenn wir den Katechismus lernen (daraufhin unseren Glauben bekennen) und das Abendmahl empfangen. Denn die Sakramente sind gleichsam Verschreibungen, in denen der Herr uns seine Barmherzigkeit und daraus das ewige Leben schenkt und wir ihm wiederum Gehorsam versprechen. Die Formel oder jedenfalls der Hauptinhalt dieses Gelübdes sieht so aus: wir schwören dem Satan ab und begeben uns Gott zu Knechten, um seinen heiligen Geboten zu gehorchen, nicht aber den bösen Gelüsten unseres Fleisches zu folgen. Da dieses Gelübde ein Zeugnis von der Schrift her besitzt, ja, von allen Kindern Gottes gefordert wird, so darf man nicht daran zweifeln, daß es heilig und heilsam ist. Dem steht auch nicht entgegen, daß niemand in diesem Leben den vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz leistet, den Gott von uns verlangt. Denn dieses Gelübde ist in den Gnadenbund mit eingeschlossen, in dem auch die Vergebung der Sünden und die Heiligung des Geistes enthalten ist, und deshalb ist das versprechen, das wir dabei ablegen, mit dem Flehen um Vergebung und dem Verlangen nach Hilfe verbunden.
Bei der Beurteilung der besonderen Gelübde ist es erforderlich, die drei oben genannten Regeln im Gedächtnis zu behalten; von daher wird man mit Sicherheit entscheiden können, von welcher Art jedes einzelne Gelübde ist. Trotzdem aber soll man nicht meinen, ich wollte die Gelübde, von denen ich behaupte, daß sie heilig sind, dergestalt anempfehlen, daß ich den Wunsch hätte, sie geschähen alle Tage. Denn obwohl ich es nicht wage, eine Vorschrift über Zahl oder Zeit der Gelübde zu geben, so wird man doch, wenn man meinem Rate folgt, solche Gelübde nur in mäßiger Zurückhaltung und zeitlicher Begrenzung leisten. Denn wenn man immer wieder dazu übergeht, zahlreiche Gelübde zu tun, dann wird eben
durch solche fortgesetzte Wiederholung die ganze Religion gemein werden, und man wird sehr leicht in Aberglauben verfallen. Bindet man sich durch ein fortwährendes Gelübde, so wird man es entweder (bloß) mit viel Beschwernis und Ärger ableisten oder auch, durch die lange Dauer ermüdet, von Zeit zu Zeit zu durchbrechen wagen.
IV,13,7
Nun ist es nicht verborgen, mit was für einem großen Aberglauben sich die Welt in diesem Stück manche hundert Jahre lang herumgeschlagen hat. Der eine tat das Gelübde, keinen Wein mehr zu trinken, als ob der Verzicht auf den Wein einen Gottesdienst darstellte, der Gott an und für sich wohlgefällig wäre. Der andere verpflichtete sich für bestimmte Tage zum Fasten oder zum Verzicht auf Fleisch, weil er sich in eitlem Wahn vormachte, in diesen Dingen läge mehr als in anderen ein einzigartiger Gottesdienst. Manche Gelübde tat man auch, die noch viel kindischer waren - wenn es auch nicht Kinder waren, die sie leisteten! Man hielt es nämlich für große Weisheit, auf ein Gelübde hin Wallfahrten zu heiligen Stätten zu unternehmen und zuweilen auch die Reise zu Fuß oder mit halbnacktem Leibe zurückzulegen, um sich mit der Ermüdung desto mehr Verdienst zu erwerben. Wenn wir solche und ähnliche Gelübde, um welche die Welt eine Zeitlang mit unglaublichem Eifer entbrannt war, nach den oben aufgestellten Regeln prüfen, so werden sie nicht nur sinnlos und läppisch befunden werden, sondern auch erfüllt von offenkundiger Gottlosigkeit. Denn wie das Fleisch auch urteilen mag, so ist vor Gott doch nichts mehr ein Greuel als selbstersonnener Gottesdienst. Dazu kommen dann noch jene verderblichen und verfluchten Wahnmeinungen, daß die Heuchler, sobald sie solch Possenzeug fertiggebracht haben, nun des Glaubens sind, sie hätten sich eine ungewöhnliche Gerechtigkeit erworben, den wesentlichen Bestand der Frömmigkeit in dem Einhalten solch äußerlicher Dinge erblicken und alle anderen Menschen verachten, die sich anscheinend um dergleichen Sachen weniger Mühe geben.
IV,13,8
Die einzelnen Formen (solcher falschen Gelübde) aufzuzählen wäre ohne Belang. Da nun aber die Klostergelübde eine höhere Wertschätzung genießen, weil es den Anschein hat, sie wären durch das öffentliche Urteil der Kirche gebilligt, so muß ich auf sie doch noch kurz eingehen.
Zunächst: damit niemand das Mönchtum, wie es heute ist, unter dem Vorwand alter Herkunft verteidigt, so muß ich darauf hinweisen, daß früher in den Klöstern eine wesentlich andere Lebensweise geherrscht hat. In die Klöster begaben sich solche Leute, die sich zu höchster Strenge und Geduld üben wollten. Denn eben solche Zucht, wie sie nach unseren Berichten bei den Lakedämoniern unter den Gesetzen des Lykurg bestanden haben soll, herrschte auch unter den Mönchen, ja, eine noch viel strengere. Sie schliefen auf dem Erdboden, tranken nur Wasser, aßen Brot, Kräuter und Wurzeln, ihre vornehmsten Leckerbissen bestanden in Öl und Erbsen. Auf alle köstlicheren Lebensmittel und auf alle feinere Wartung des Leibes verzichteten sie. Diese Schilderung könnte übertrieben erscheinen, wenn es nicht von Zeugen so berichtet würde, die es gesehen und erfahren haben, nämlich von Gregor von Nazianz, Basilius und Chrysostomus. Was ich nun eben berichtete, das waren aber nur die Anfängerübungen, mit denen sich die Mönche zu wichtigeren Aufgaben vorbereiteten. Denn die Mönchsgenossenschaften waren damals gleichsam Pflanzstätten des kirchlichen Standes (d.h. des „Klerus“). Ein hinreichend deutlicher Beweis dafür sind einerseits die oben genannten Männer (Gregor, Basilius, Chrysostomus) - denn sie sind allesamt in Klöstern erzogen und dann von da aus in das Bischofsamt berufen worden -, andererseits aber auch zahlreiche andere bedeutende und hervorragende Männer ihrer Zeit. Und Augustin bezeugt, daß es auch zu seiner Zeit üblich gewesen ist, daß die Klöster der Kirche ihre Kleriker lieferten; denn er redet die Mönche von der Insel Capraria folgendermaßen an: „Euch aber, ihr Brüder, ermahnen wir in dem Herrn, daß ihr
eurem Vorsatz treu bleibet und bis ans Ende dabei beharret; und wenn einst eure Mutter, die Kirche, eures Dienstes begehren wird, so übernehmt ihn nicht in herrschsüchtiger Überheblichkeit und verschmäht ihn auch nicht in schmeichlerischer Bequemlichkeit, sondern leistet Gott mit sanftmütigem Herzen Gehorsam. Stellet auch nicht eure Muße über die Erfordernisse der Kirche; denn wenn es keine guten Leute gegeben hätte, die ihr in ihren Geburtswehen hätten dienend beistehen wollen, so hättet ihr auch keine Möglichkeit gehabt, zur Welt zu kommen“ (Brief 48; an Eudoxius). Er spricht hier nämlich von dem Amt, durch das die Gläubigen geistlich wiedergeboren werden. Ebenso schreibt er an Aurelius: „Wenn Leute das Kloster verlassen und man dann solche zum Kriegsdienst des Klerikeramtes erwählt, so bietet man ihnen selbst Gelegenheit zum Fall und läßt dem Stande der Kleriker empörendstes Unrecht widerfahren. Denn wir pflegen doch aus dem Kreise derer, die im Kloster bleiben, nur die besterprobten und tüchtigsten in den Klerus aufzunehmen. Sonst müßte es schon zugehen, wie der Volksmund sagt: ‚Ein schlechter Pfeifer ist ein guter Musikant in der Kapelle’, und man müßte von uns spottend sagen: ‚Ein schlechter Mönch ist ein guter Kleriker’. Es wäre doch gar zu beklagenswert, wenn wir die Mönche zu einer so verderbenbringenden Hoffart wollten emporsteigen lassen und die Kleriker einer so harten Schmähung für würdig erachteten. Denn manchmal gibt auch ein guter Mönch kaum einen guten Kleriker, nämlich wenn er zwar genügend Enthaltsamkeit besitzt, aber es doch an der notwendigen Gelehrsamkeit fehlen läßt“ (Brief 60; an Aurelius). Aus diesen Stellen ergibt sich deutlich, daß sich fromme Männer unter der klösterlichen Zucht auf die Leitung der Kirche vorzubereiten pflegten, um dann mit besserer Eignung und besserer Bildung solch wichtiges Amt zu übernehmen. Nicht, daß alle zu diesem Ziel gelangt wären oder auch nur hätten gelangen wollen - denn die Mönche waren zum größeren Teil wissenschaftlich ungebildete Leute -, sondern es wurden diejenigen ausgewählt, die dazu geeignet waren.
IV,13,9
Es gibt aber vor allem zwei Stellen, an denen Augustin die Gestalt des alten Klosterlebens schildert. Das geschieht einmal in seinem Buche „Von den Sitten der katholischen Kirche“, in welchem er den Schmähungen der Manichäer die Heiligkeit des Mönchsberufs entgegenstellt, und dann zum anderen in einem weiteren Buch, dem er den Titel „Von dem Werk der Mönche“ gegeben hat und in dem er gegen einige entartete Mönche, die diese Einrichtung zu verderben begannen, scharf losfährt. Ich will also hier den wesentlichen Inhalt der von ihm uns gebotenen Berichte wiedergeben, und zwar so, daß ich dabei auch, soweit es angeht, seine eigenen Worte gebrauche. Er sagt: „Unter Verachtung der Lockungen dieser Welt schließen sich die Mönche zu einem gemeinsamen Leben von höchster Keuschheit und Heiligkeit zusammen, sie führen ihr Dasein nun miteinander, leben in Gebeten, Lesungen und Lehrgesprächen, sind von keiner Hoffart aufgeblasen, von keiner Halsstarrigkeit aufrührerisch und von keinem Neid scheelsüchtig. Keiner hat irgendwelchen eigenen Besitz, keiner fällt irgend jemand zur Last. Mit den Händen erarbeiten sie sich, was dazu dient, ihren Leib zu erhalten, und was ihren Geist doch nicht von Gott fernhalten kann. Ihr Werk stellen sie unter die Leitung von solchen, die sie ‚Dekane’ nennen. Diese ‚Dekane’ aber ordnen alles mit großer Sorgfalt an und geben wiederum einem Manne Rechenschaft, den sie als ‚Vater’ bezeichnen. Diese ‚Väter’ sind nun nicht nur von höchster Heiligkeit in ihren Sitten, sondern auch von hervorragender Kenntnis der göttlichen Lehre und ausgezeichnet in allen Dingen; sie sorgen ohne jeglichen Hochmut für die anderen, die sie ‚Söhne’ nennen, und zwar durch ihre große Autorität im Gebieten und durch deren große Willigkeit im Gehorchen. Gegen Ende des Tages - und das ist eine Zeit, wo sie noch nichts zu sich genommen haben! - kommen sie nun zusammen, jeder aus seiner Behausung, um den Worten jener ‚Väter’ zu lauschen, und es versammeln sich bei jedem ‚Vater’ dreitausend oder wenigstens tausend Menschen - Augustin redet vornehmlich von Ägypten und vom Osten. Danach stärken sie dann den Leib, soweit es für Wohlergehen und Gesundheit erforder-
lich ist, und dabei hält jeder einzelne seine Begehrlichkeit im Zaum, um sich auch bei den spärlichen und äußerst schlichten Nahrungsmitteln nicht gehen zu lassen, die zur Verfügung stehen. So verzichten sie nicht nur auf Fleisch und Wein, um ausreichend in der Lage zu sein, ihre Begierden zu bändigen, sondern auch auf solche Dinge, die um so mehr dazu dienen, den Magen und den Gaumen zu heftiger Begehrlichkeit zu reizen, je mehr sie manchem als rein erscheinen. Denn unter diesem Namen („rein“) pflegt man ja die schmählichste Begierde nach auserlesenen Speisen lächerlich und schändlich zu verteidigen, weil sie doch mit dem Fleischgenuß nichts zu tun habe. Was über den notwendigen Lebensunterhalt hinaus vorhanden ist - und es bleibt bei ihrer Hände Arbeit und bei ihrer Einschränkung im Essen sehr viel übrig -, das wird mit einer Sorgfalt an die Bedürftigen ausgeteilt, die noch größer ist als jene, mit der es die, welche diese Verteilung vornehmen, erworben haben. Denn es kommt ihnen nicht entscheidend darauf an, daß sie an solchen Dingen Überfluß haben, sondern sie mühen sich in jeder Weise darum, daß das, woran sie Überfluß haben, nicht bei ihnen verbleibt“ (Von den Sitten der katholischen Kirche 31,67). Dann erwähnt er die Strenge der Mönche, für die er selbst in Mailand und an anderen Orten Beispiele zu sehen bekommen hatte, und sagt: „Unterdessen wird niemand zu harten Übungen gedrängt, die er nicht zu ertragen vermag, keinem wird etwas auferlegt, dessen er sich weigert, es wird auch keiner von den anderen verdammt, weil er bekennt, nicht in der Lage zu sein, um es ihnen gleichzutun; denn sie bedenken, wie sehr uns die Liebe anempfohlen wird, sie behalten im Gedächtnis, daß dem Reinen alles rein ist ... (Tit. 1,15). All ihren Fleiß verwenden sie wachsam darauf, nicht etwa bestimmte Arten von Speisen zu verwerfen, als ob sie befleckt wären, sondern die Gier zu bändigen und die brüderliche Liebe zu erhalten. Sie gedenken an das Wort: ‚Die Speise dem Bauche und der Bauch der Speise ...’ (1. Kor. 6,13). Jedoch üben viele Starke die Enthaltsamkeit um der Schwachen willen. Viele haben keine Ursache, dergleichen zu tun; (sie tun es aber) weil es ihnen gefällt, sich mit recht einfacher und ganz billiger Speise zu erhalten. So kommt es, daß die gleichen Leute, die bei voller Gesundheit Enthaltsamkeit üben, die betreffenden Speisen im Falle der Krankheit ohne Bedenken annehmen, wenn es ihr Gesundheitszustand erfordert. Viele trinken keinen Wein; aber sie meinen nicht, sich damit zu beflecken; denn sie sorgen in größter Freundlichkeit dafür, daß den Schwachen und denen, die ohne ihn die Gesundheit ihres Leibes nicht zu erhalten vermögen, Wein gereicht wird; auch ermahnen sie manche Leute, die den Wein töricht ablehnen, in brüderlicher Weise, sie sollten nicht durch eitlen Aberglauben eher schwächer als heiliger werden. So wenden sie allen Fleiß daran, Frömmigkeit zu üben, und dabei wissen sie, daß sich die Übung des Leibes nur auf kurze Zeit erstreckt. Vor allem aber wird die Liebe gewahrt; der Liebe wird der Lebensunterhalt, der Liebe das Reden, der Liebe die Kleidung und der Liebe der Gesichtsausdruck dienstbar gemacht. Zu einer Liebe kommt man zusammen, und zu einer Liebe verschwört man sich; sie zu verletzen, das gilt als Frevel, wie wenn man Gott selber schändete, wer sich ihr widersetzt, der wird ausgestoßen und gemieden, wer sie bricht, der darf nicht einen einzigen Tag mehr bei ihnen bleiben“ (Ebenda 33,70-73). Mit diesen Worten scheint mir jener heilige Mann wie in einem Bilde den einstigen Zustand des Klosterlebens dargestellt zu haben, und deshalb hat es mich nicht verdrossen, sie hier trotz ihrer erheblichen Ausführlichkeit einzufügen; denn ich habe bemerkt, daß ich trotz meines Strebens nach kurzer Zusammenfassung noch mehr ins Weite geraten würde, wenn ich diese Mitteilungen aus verschiedenen Schriftstellern zusammentragen wollte.
IV,13,10
Ich habe nun hier die Absicht, nicht etwa diesen ganzen Fragenkreis durchzusprechen, sondern nur im Vorbeigehen aufzuzeigen, was für Mönche die Alte Kirche besessen hat, und auch, wie damals der Mönchsberuf ausgesehen hat, damit verständige Leser auf Grund des Vergleichs ein Urteil darüber gewinnen können, wie
frech die Leute handeln, die zur Stützung des gegenwärtigen Mönchtums auf die alte Zeit verweisen. Bei der Schilderung, die uns Augustin von dem heiligen und rechtmäßigen Mönchtum entwirft, hat er den Willen, daß alles scharfe Fordern solcher Dinge fernbleibt, die uns von dem Worte des Herrn frei überlassen werden. Nun gibt es aber nichts, was heutzutage mit größerer Strenge verlangt würde. Denn man hält es für eine unsühnbare Freveltat, wenn jemand in der Farbe oder dem Aussehen des Gewandes, in der Art der Speisen oder in anderen wertlosen und unbedeutenden Zeremonien auch nur im mindesten von der Vorschrift abweicht. Augustin betont mit Nachdruck, daß die Mönche nicht das Recht haben, von anderer Leute Gut ein müßiges Leben zu führen. Er erklärt, daß ein solcher Fall zu seiner Zeit in keinem wohlgeordneten Kloster vorgekommen sei (Von dem Werk der Mönche 23,27). Unsere heutigen Mönche dagegen sehen das wichtigste Stück ihrer Heiligkeit im Müßiggang! Denn wenn man ihnen den Müßiggang wegnimmt - wo soll dann jenes „beschauliche Leben“ (contemplativa vita) bleiben, vermöge dessen sie, wie sie sich rühmen, alle anderen Menschen übertreffen und näher an die Engel herankommen? Und schließlich: Augustin fordert ein Mönchtum, das nichts anderes sein soll als eine Übung und eine Stütze für die (Erfüllung der) Verpflichtungen der Frömmigkeit, die allen Christenmenschen ans Herz gelegt werden. Er erklärt doch die Liebe für die höchste, ja, geradezu für die einzige Regel des Mönchslebens, und wieso können wir nun da annehmen, er würde eine Rotterei loben, in der sich einige wenige Menschen miteinander verbinden und sich dadurch von dem gesamten Leibe der Kirche absondern? Nein, im Gegenteil: er will doch, daß die Mönche den übrigen Christen mit ihrem Beispiel voranleuchten, um die Einheit der Kirche zu bewahren! In beiden Stücken ist unser gegenwärtiges Mönchtum dermaßen anders geartet, daß man kaum etwas Verschiedeneres, um nicht zu sagen: Widersprechenderes, finden wird. Denn unsere Mönche geben sich nicht mit jener Frömmigkeit zufrieden, nach der Christi Jünger auf seinen Befehl hin in beständigem Streben allein trachten sollen, und ersinnen sich ich weiß nicht was für eine neue, um im Trachten nach ihr vollkommener zu sein als alle anderen.
IV,13,11
Wenn sie das bestreiten, so möchte ich gern von ihnen wissen, warum sie denn allein ihren Stand für würdig erachten, als „vollkommen“ bezeichnet zu werden, und warum sie diesen Ehrentitel allen anderen Berufungen Gottes absprechen. Es ist mir auch jene sophistische Antwort nicht unbekannt, man nenne das Mönchtum nicht darum so, weil es die Vollkommenheit in sich beschlösse, sondern weil es von allen der beste Stand sei, um die Vollkommenheit zu erlangen. Wenn sich die Mönche beim Volke rühmen wollen, wenn sie unkundige und unwissende junge Menschlein in ihre Stricke ziehen, ihre Vorrechte verteidigen und ihre Würde zur Unehre anderer Leute emporheben wollen, dann erklären sie rühmend, sie seien im Stande der Vollkommenheit! Wenn man ihnen dann so nahe zusetzt, daß sie diese eitle Anmaßung nicht mehr aufrechterhalten können, dann nehmen sie ihre Zuflucht zu dem Schutzgraben (d.h. zu der Hilfsbehauptung), sie hätten allerdings die Vollkommenheit noch nicht erreicht, lebten aber in dem Stande, in dem sie mehr als andere Leute nach ihr trachteten. Währenddessen aber bleibt im Volke jene Bewunderung bestehen, als ob allein das Klosterleben engelgleich, vollkommen und von allen Gebrechen gereinigt sei! Unter diesem Vorwand treiben sie den gewinnsüchtigsten Handel - und jene Einschränkung (ihrer Ansprüche) bleibt unterdessen in einigen wenigen Büchern begraben! Wer bemerkt nicht, daß dies ein unerträglicher Spott ist? Aber wir wollen mit ihnen so verfahren, als ob sie ihrem Beruf nicht mehr zusprächen, als sie es dann tun, wenn sie ihn den
Stand zur Erlangung der Vollkommenheit nennen. Denn wenn sie ihm diesen Namen geben, so unterscheiden sie ihn doch damit unzweifelhaft wie mit einem besonderen Kennzeichen von jeder anderen Art der Lebensführung. Und wer will es dulden, daß diese große Ehre einer Einrichtung beigelegt wird, die nirgendwo auch nur mit einer einzigen Silbe gutgeheißen ist, und daß man der nämlichen Ehre alle Berufungen Gottes unwürdig erachtet, die doch mit seinem heiligen Munde nicht nur geboten, sondern auch mit den herrlichsten Lobsprüchen ausgezeichnet sind? Und dann, das möchte ich doch fragen, was geschieht doch Gott für ein schlimmes Unrecht, wenn man allen Arten der Lebensgestaltung, die von ihm angeordnet und durch sein Zeugnis gepriesen sind, ich weiß nicht was für eine erdichtete vorzieht?
IV,12,12
Nun, sie mögen sagen, was ich eben vorgebracht habe, nämlich daß sie sich mit der von Gott vorgeschriebenen Regel nicht zufriedengeben, das sei eine Lästerung. Aber selbst wenn ich schweige, so klagen sie sich doch selber mehr als genug an. Denn sie lehren doch offen, sie nähmen eine größere Last auf sich, als sie Christus den Seinen auferlegt habe, weil sie nämlich gelobten, die „evangelischen Ratschläge“ zu halten, nämlich daß wir unsere Feinde lieben, keine Vergeltung begehren, nicht schwören sollten und so fort (Matth. 5,33ff.) - und an diese „evangelischen Ratschläge“ seien doch die Christen nicht allesamt gebunden! Was für eine „alte Zeit“ wollen sie uns nun hierbei als Vorwand zeigen? Denn dergleichen ist niemals einem von den Alten in den Sinn gekommen; sie erklären doch alle wie aus einem Munde, daß Christus nicht ein einziges Wort gesprochen hat, dem wir nicht notwendig zu gehorchen hätten! Und daß nun namentlich jene Worte, die nach dem Geschwätz dieser wackeren Ausleger bloß Ratschläge Christi darstellen sollen, tatsächlich Weisungen seien, das lehren die Alten allenthalben ohne jegliches Bedenken. Aber weil ich schon oben dargelegt habe, daß es sich hier um einen höchst verderbenbringenden Irrtum handelt, so mag es hier genug sein, kurz angedeutet zu haben, daß sich das Mönchtum, so wie es heute ist, auf eine Meinung gründet, die allen Frommen verdientermaßen ein Greuel sein muß, nämlich darauf, daß man sich einbildet, es gäbe irgendeine vollkommenere Lebensregel als jene allgemeine, die Gott der gesamten Kirche vorgeschrieben hat. Alles, was auf dieses Fundament gebaut wird, das kann nicht anders als abscheulich sein.
IV,13,13
Aber sie bringen noch einen anderen Beweis für ihre Vollkommenheit herbei und meinen, der sei nun ganz stark. Denn der Herr hat doch dem Jüngling, der ihn nach der vollkommenen Gerechtigkeit fragte, die Antwort gegeben: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen“ (Matth. 19,21).
Ob sie das nun selber tun, das will ich noch nicht zur Erörterung stellen - wir wollen es ihnen für den Augenblick zugeben! Sie erheben also den Anspruch, sie seien vollkommen geworden, indem sie all ihren Besitz verließen. Wenn nun darin die Hauptsumme der Vollkommenheit liegt - was hat es dann zu bedeuten, daß Paulus lehrt, wenn einer „alle seine Habe den Armen gäbe“ „und hätte der Liebe nicht“, so sei er nichts (1. Kor. 13,3)? Was ist das für eine Vollkommenheit, die, wenn die Liebe nicht dabei ist, mit dem Menschen zusammen zu nichts wird? Hier müssen sie nun notwendig antworten, dies sei zwar das höchste, aber nicht das einzige Werk der Vollkommenheit. Aber auch hier erhebt der Apostel Einspruch, indem er ohne Zögern die Liebe für das „Band der Vollkommenheit“ erklärt - auch ohne solchen Verzicht auf die irdischen Güter (Kol. 3,14)! Wenn es nun sicher ist, daß zwischen dem Meister und seinem Jünger kein Gegensatz besteht, und wenn der letztere offen bestreitet, daß die Vollkommenheit des Menschen darin bestehe, daß er auf
all seine Güter verzichtet, und auf der anderen Seite behauptet, daß sie ohne solchen Verzicht Bestand hat, so müssen wir zusehen, in welchem Sinne das Wort Christi zu verstehen ist: „Willst du vollkommen sein, so verkaufe alles, was du hast...” (Matth. 19,21).
Der Sinn wird durchaus klarwerden, wenn wir - was bei allen Reden Christi stets beachtet werden muß - erwägen, an wen sich diese Worte richten. Der Jüngling stellt doch die Frage, mit welchen Werken er in das ewige Leben eingehen könnte (Luk. 10,25; eigentlich Matth. 19,16). Weil Christus damit nach den Werken befragt wird, so verweist er ihn an das Gesetz. Und das mit Recht; denn das Gesetz ist, wenn man es an und für sich betrachtet, der Weg zum ewigen Leben, und es ist nur deshalb untüchtig, uns das Heil zu verschaffen, weil wir böse sind. Mit dieser Antwort machte Christus deutlich, daß er keine andere Art und Weise der Lebensgestaltung lehrte als die, die einst im Gesetz des Herrn gegeben worden war. Damit gab er dem göttlichen Gesetz das Zeugnis, daß es die Lehre der vollkommenen Gerechtigkeit darstellte, und trat zugleich den Lästerungen entgegen: es sollte nicht den Anschein haben, als ob er das Volk durch irgendeine neue Lebensregel zum Abfall vom Gesetz aufreizte.
Nun gab der Jüngling, der zwar nicht übler Gesinnung, aber von eitlem Selbstvertrauen aufgeblasen war, zur Antwort, er habe alle Gebote des Gesetzes von Jugend auf gehalten (Matth. 19,20). Es ist mehr als gewiß, daß er von dem Ziel, das er schon erreicht zu haben sich rühmte, noch durch einen unermeßlichen Abstand getrennt war. Wenn nun sein Rühmen wahrheitsgemäß gewesen wäre, so hätte ihm nichts zur höchsten Vollkommenheit gemangelt. Denn es wurde oben nachgewiesen, daß das Gesetz die vollkommene Gerechtigkeit in sich beschließt, und das gleiche geht auch deutlich daraus hervor, daß ja seine Innehaltung als Weg zur ewigen Seligkeit bezeichnet wird. Um ihn nun darüber zu belehren, wie wenig weit er es in der Gerechtigkeit gebracht hatte, deren Erfüllung er in seiner Antwort allzu kühnlich behauptete, war es erforderlich, das ihm persönlich anhängende Gebrechen näher auszubreiten. Er war nun aber ein sehr reicher Mann, und deshalb hatte er sein Herz an den Reichtum gehängt. Weil er also diese verborgene Wunde nicht fühlte, so stach ihm Christus hinein. „Geh hin“, sagte er zu ihm, „und verkaufe alles, was du hast.“ Wenn er das Gesetz nun so gut gehalten hätte, wie er meinte, dann wäre er, als er dies Wort gehört hatte, nicht traurig davon gegangen (Matth. 19,22)! Denn wer Gott von ganzem Herzen liebt, der hält alles, was zur Liebe zu Gott im Widerspruch steht, nicht nur für Dreck, sondern verabscheut es als etwas Verderbliches.
Wenn also Christus diesem reichen Geizhals befiehlt, alles zu verlassen, was er hat, so ist das genau dasselbe, als wenn er einem ehrsüchtigen Menschen die Weisung gäbe, auf alle Ehren, einem vergnügungssüchtigen, auf alle Genüsse, und einem Unkeuschen, auf alle Werkzeuge seiner Lust zu verzichten. So müssen die Gewissen, die sich von keinem Empfinden einer allgemeinen Ermahnung berühren lassen, zu dem besonderen Empfinden der eigenen Sünde gebracht werden. Es ist also vergebens, wenn die Papisten aus diesem Sonderfall eine allgemeine Auslegung machen, als ob Christus die Vollkommenheit eines Menschen im Verzicht auf den Besitz gesehen hätte, während er doch mit diesem Ausspruch nichts anderes wollte, als den Jüngling, der an sich selbst über die Maßen Gefallen hatte, zum Empfinden seiner Wunde zu führen, damit er erkennen sollte, daß er noch durch einen weiten Abstand von jenem vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz entfernt war, den er sich sonst zu Unrecht zusprach.
Ich gebe zu, daß diese Stelle von einigen unter den (Kirchen-) Vätern unrichtig verstanden worden und daß daraus jene Vorliebe für die freiwillige Armut erwachsen
ist, in der man nur solche Leute für selig hielt, die auf alle irdischen Güter verzichtet hatten und sich Christus nackt angelobten. Ich bin aber der Zuversicht, daß alle gutwilligen und nicht streitsüchtigen Leser sich mit dieser meiner Erläuterung zufriedengeben werden, so daß sie sich über die Absicht Christi in keinem Zweifel befinden.
IV,13,14
Allerdings haben die Väter an nichts weniger gedacht als daran, solch eine „Vollkommenheit“ zu bekräftigen, wie sie dann hernach kuttentragende Klüglinge zusammengeschmiedet haben, um auf diese Weise ein zwiefaches Christentum aufzurichten. Denn damals war jene heiligtumsschänderische Lehre noch nicht aufgekommen, die das Klostergelübde mit der Taufe vergleicht, ja, sogar offen behauptet, es sei eine Art von zweiter Taufe. Wer will daran zweifeln, daß die (Kirchen-) Väter eine solche Lästerung von ganzem Herzen verabscheut haben?
Was aber die letzte Eigentümlichkeit der alten Mönche betrifft, von der Augustin berichtet, nämlich daß sie sich voll und ganz nach der Liebe richteten - wozu ist es nötig, mit Worten aufzuweisen, daß diese mit der neuartigen Gestalt des Mönchsberufs rein nichts zu tun hat? Die Tatsachen selbst sprechen es aus, daß alle, die sich in die Klöster begeben, eine Absonderung von der Kirche vornehmen. Wieso denn - scheiden sie sich etwa nicht von der rechtmäßigen Gemeinschaft der Gläubigen ab, indem sie sich ein besonderes (kirchliches) Amt und eine gesonderte Austeilung der Sakramente zulegen? Wenn das nicht heißt, die Gemeinschaft der Kirche auseinanderzureißen - was dann? Und weiter - um die oben begonnene Vergleichung fortzusetzen und einmal abzuschließen -: was haben sie in diesem Stück für Ähnlichkeit mit den alten Mönchen? Diese wohnten zwar gesondert von den anderen, aber eine besondere Kirche hatten sie trotzdem nicht, sie teilten die Sakramente mit den anderen, stellten sich zu den öffentlichen Versammlungen ein und waren dabei ein Teil des Volks (d.h. der Gemeinde). Die heutigen Mönche aber haben sich einen eigenen, gesonderten Altar errichtet - und was haben sie damit anders getan als das Band der Einheit zerrissen? Denn sie haben sich aus dem gesamten Leibe der Kirche ausgeschlossen und das geordnete Amt verachtet, durch das nach dem Willen des Herrn Friede und Liebe unter den Seinen aufrechterhalten werden sollen. Ich behaupte also: soviel Klöster es heute gibt, soviel Rotten von Abtrünnigen (Schismatikern) gibt es, die die kirchliche Ordnung gestört und sich von der rechtmäßigen Gemeinschaft der Gläubigen abgeschnitten haben. Und damit ihre Abscheidung nicht verborgen bleibt, haben sie sich vielartige Parteinamen zugelegt. Auch haben sie sich nicht geschämt, sich dessen zu rühmen, was Paulus, so sehr verabscheut, daß er es gar nicht scharf genug ausdrücken kann (1. Kor. 1,12f.; 3,4). Wir müßten sonst schon der Meinung sein, von den Korinthern zwar sei Christus „zerteilt“ worden, weil sich der eine Lehrer hochmütig über den anderen stellte, jetzt aber könne es ohne jede Beleidigung Christi zugehen, daß wir es zu hören bekommen, wie die einen Benediktiner, die anderen Franziskaner, wieder andere Dominikaner heißen statt Christen, und zwar so, daß sie selbst, indem sie danach haschen, von der großen Menge der Christen unterschieden zu werden, solche Titel geradezu als Bekenntnis der Religion hochmütig an sich reißen!
IV,13,15
Diese Unterschiede zwischen den alten Mönchen und denen unserer Zeit, wie ich sie bis hierher aufgeführt habe, liegen nicht in den Sitten, sondern in dem Beruf selbst. Der Leser möge also bedenken, daß ich eher vom Mönchtum als von den Mönchen gesprochen und dabei auf solche Laster hingewiesen habe, die nicht dem Lebenswandel einiger weniger ankleben, sondern sich von der herrschenden Lebensordnung selbst nicht trennen lassen.
Was hat es nun aber für einen Zweck, im einzelnen darzulegen, was für ein großer Gegensatz in den Sitten besteht? Das steht fest, daß es keine Gruppe von Menschen gibt, die schlimmer von aller Schandbarkeit der Laster besudelt wäre. Nirgendwo wogen Parteiungen, Haß, Rottereisucht und Ehrsucht schlimmer als bei den Mönchen. Gewiß, in einigen wenigen Klöstern lebt man noch keusch - wenn man unter Keuschheit etwas verstehen will, wobei man die Gier soweit zurückdrängt, daß sie nicht öffentlich ruchbar wird. Aber man wird kaum ein Kloster unter zehn finden, das nicht eher ein Hurenhaus als ein Heiligtum der Keuschheit wäre! Und wie sieht es mit der Einfachheit im Lebensunterhalt aus? Jedenfalls werden die Schweine im Koben nicht anders gemästet! Aber damit sie sich nicht beklagen, sie würden von mir allzu rauh angepackt, will ich nicht weitermachen. Allerdings wird jeder, der die Verhältnisse selbst kennt, mir zugeben, daß von dem wenigen, das ich berührt habe, nichts im (übertreibenden) Anklageton geredet ist.
Obwohl sich nach Augustins Zeugnis die Mönche (seiner Zeit) durch so große Keuschheit auszeichneten, so klagt er doch, daß sich unter ihnen zahlreiche Landstreicher befänden, die den einfältigeren Leuten mit bösen Kunstgriffen und Betrügereien das Geld aus der Tasche zögen, mit dem Herumtragen der Reliquien von Märtyrern schnöden Handel trieben, ja, die Gebeine irgendwelcher Verstorbenen als Reliquien von Märtyrern verkauften und durch viele andere Freveltaten ihrem Stande ein Schandmal aufbrennten (Von dem Werk der Mönche 28,36). Und wie er auf der einen Seite erklärt, er hätte keine besseren Menschen gesehen als die, die in den Klöstern Fortschritte gemacht hätten, so beklagt er es auf der anderen Seite, keine übleren gesehen zu haben als solche, die in den Klöstern auf Abwege geraten seien (Brief 78). Was würde er wohl sagen, wenn er heutzutage fast alle Klöster von so vielen und so heillosen Lastern überfließen, ja, schier bersten sähe? Ich sage nichts, als was allen Leuten durchaus bekannt ist!
Trotzdem bezieht sich dieser Tadel nicht auf alle Mönche ohne jegliche Ausnahme. Denn wie die Regel und Zucht zu einem heiligen Lebenswandel in den Klöstern niemals so gut eingerichtet war, daß es nicht auch einige Drohnen dabei gegeben hätte, die den anderen recht unähnlich waren, so behaupte ich, daß die Mönche heutzutage nicht so sehr von der heiligen Art der alten Zeit abgekommen sind, daß sie in ihrer Schar nicht auch einige Gute hätten. Aber diese Guten sind wenige an der Zahl, sie sind zerstreut und bleiben unter jener gewaltigen Menge von Bösen und Nichtsnutzigen verborgen, auch werden sie nicht allein verachtet, sondern auch unverschämt geschmäht, zuweilen auch von den anderen grausam behandelt, die - wie ein Sprichwort der Leute von Milet besagt - der Meinung sind, es dürfe kein Guter bei ihnen einen Platz haben!
IV,13,16
Mit diesem Vergleich zwischen dem alten und dem heutigen Mönchtum hoffe ich erreicht zu haben, was ich wollte, nämlich daß es offenbar wird, daß unsere heutigen Kuttenträger zur Verteidigung ihres Berufs zu Unrecht das Beispiel der ursprünglichen Kirche zum Vorwand nehmen; denn sie sind doch von jenen alten Mönchen nicht weniger verschieden als Affen von Menschen.
Indessen will ich nicht verschweigen, daß sich auch in jener ursprünglichen Form des Mönchtums, die Augustin so preist, manches findet, das mir sehr wenig gefallen will. Ich gebe zwar zu, daß sie bei den äußerlichen Übungen ihrer recht strengen Zucht nicht abergläubisch gewesen sind, aber ich behaupte doch, daß es dabei nicht ohne maßlose Künstelei und falsche Nachahmung abgegangen ist. Es war schön, auf alles Vermögen zu verzichten und dann aller irdischen Sorge ledig zu gehen, aber höher gilt vor Gott die Sorge um ein frommes Hausregiment, wo es sich ein heiliger Hausvater, von allem Geiz, aller Ehrsucht und allen Begierden des Fleisches gelöst und frei, zum Vorsatz genommen hat, in einem bestimmten Berufe Gott zu dienen! Es ist schön, in der Einsamkeit, fern von dem Verkehr mit
den Menschen, zu philosophieren, aber es ist kein Zeichen von christlicher Sanftmut, sich gleichsam aus allgemeinem Menschenhaß in die Wüste und die Einsamkeit zurückzuziehen und damit zugleich jene Pflichten zu verlassen, die uns der Herr in erster Linie aufgetragen hat. Selbst wenn wir zugeben wollten, daß es im Mönchsberuf sonst keinen Mißstand gegeben hätte, so war das jedenfalls kein geringes Übel, daß er ein nutzloses und gefährliches Beispiel in die Kirche einführte.
IV,13,17
Nun wollen wir also zusehen, was das für Gelübde sind, mit denen heutzutage die Mönche in diesen „herrlichen“ Stand eingeweiht werden.
Erstens: da sie im Sinne haben, einen neuen und selbsterdachten Gottesdienst einzurichten, um sich damit bei Gott ein Verdienst zu erwerben, so schließe ich aus dem oben Dargelegten, daß alles, was sie geloben, vor Gott ein Greuel ist.
Und dann: weil sie ihren Blick durchaus nicht auf Gottes Berufung und auf seine Billigung richten, sondern sich eine Lebensart nach ihrem eigenen Gutdünken ersinnen, so behaupte ich, daß dies ein vorwitziges und deshalb unstatthaftes Wagnis ist, da ihr Gewissen keinen Grund hat, auf den es sich vor Gott stützen könnte, und da alles, was nicht aus dem Glauben kommt, Sünde ist (Röm. 14,23).
Und da sie sich außerdem zugleich zu zahlreichen verkehrten und gottlosen „Gottesdiensten“ verpflichten, wie sie das heutige Mönchtum in sich begreift, so behaupte ich, daß sie nicht Gott, sondern dem Teufel geweiht werden. Die Propheten durften sagen, die Kinder Israels hätten ihre Söhne den Teufeln und nicht Gott geopfert (Deut. 32,17; Ps. 106,37), und zwar allein aus dem Grunde, daß sie die wahre Verehrung Gottes mit ihren unheiligen Zeremonien verdorben hatten - weshalb sollte man nun von den Mönchen nicht das gleiche sagen dürfen, die sich zugleich mit der Kutte die Verstrickung in tausend gottlose, abergläubische Gebräuche umlegen?
Und wie sehen nun die Gelübde aus? Sie versprechen Gott die fortwährende Jungfräulichkeit - als ob sie zuvor mit ihm vertraglich vereinbart hätten, daß er sie von der Notwendigkeit der Ehe befreite! Sie haben auch keinen Anlaß zu dem Einwand, dieses Gelübde täten sie allein im Vertrauen auf die Gnade Gottes. Denn er erklärt doch selbst, daß diese Gnade nicht allen gegeben wird (Matth. 19,11f.), und deshalb steht es uns nicht zu, im Blick auf diese besondere Gnadengabe Vertrauen zu fassen. Die sie besitzen, die sollen von ihr Gebrauch machen, und wenn sie einmal empfinden, daß sie von ihrem Fleisch beunruhigt werden, so sollen sie ihre Zuflucht zur Hilfe dessen nehmen, in dessen Kraft allein sie widerstehen können. Kommen sie nicht vorwärts, so sollen sie die Arznei, die ihnen dargeboten wird, nicht verachten. Jedenfalls nämlich werden die, denen das Vermögen zur Enthaltsamkeit nicht gewährt wird, durch ein unzweifelhaftes Wort Gottes zur Ehe aufgerufen (1. Kor. 7,9). Enthaltsamkeit nenne ich nicht das, wodurch allein der Leib von der Hurerei rein erhalten wird, sondern das, worin die Gesinnung unbefleckte Keuschheit bewahrt. Denn wir sollen uns nach der Weisung des Paulus nicht nur vor der äußerlichen Zuchtlosigkeit hüten, sondern auch vor dem Brand unseres Herzens. Ja, sagen sie, man hat es aber doch seit unvordenklichen Zeiten so gehalten, daß sich die, welche sich dem Herrn ganz weihen wollten, an das Gelübde der Enthaltsamkeit banden. Ich gebe allerdings zu, daß diese Gepflogenheit auch von alters her im Schwang gewesen ist, aber ich kann es nicht anerkennen, daß jene Zeit so sehr von allen Gebrechen frei gewesen wäre, daß man alles, was damals gemacht worden ist, für eine Regel halten könnte. Auch hat sich (erst) nach und nach jene unerbittliche Strenge eingeschlichen, daß nach Ablegung des Gelübdes keine Möglichkeit zur Zurücknahme mehr bestand. Das geht aus den Worten des Cyprian hervor: „Wenn sich Jungfrauen aus dem Glauben heraus Christus geweiht haben, so sollen sie
keusch und züchtig, ohne alles Gerede dabei verharren. So sollen sie wacker und standhaft den Lohn ihrer Jungfrauschaft erwarten. Wenn sie aber nicht dabei beharren wollen oder können, so ist es besser, sie freien, als daß sie mit ihren Missetaten ins Feuer stürzen“ (Brief 4,2). Mit was für Vorwürfen würden sie wohl heute einen Mann quälen, der mit solcher Billigkeit das Gelübde der Enthaltsamkeit mildern wollte? Man ist also heute von jener alten Sitte weit abgewichen, indem man nicht nur keinerlei Milderung oder Nachsicht walten lassen will, wenn jemand untüchtig befunden wird, sein Gelübde zu halten, sondern gar ohne jede Scham erklärt, es sei eine schlimmere Sünde, wenn er ein Weib nähme, um die Ungezügeltheit seines Fleisches zu heilen, als wenn er Leib und Seele mit Hurerei besudelte!
IV,13,18
Aber sie lassen noch nicht locker und suchen nachzuweisen, daß auch unter den Aposteln ein derartiges Gelübde gebräuchlich gewesen sei, weil ja Paulus von den Witwen, die wieder in die Ehe traten, nachdem sie einmal in das öffentliche Amt (der Gemeinde) aufgenommen waren, die Behauptung aufstellt, sie hätten „den ersten Glauben gebrochen“ (1. Tim. 5,12). Ich bestreite ihnen nun durchaus nicht, daß die Witwen, die sich und ihren Dienst der Kirche zur Verfügung stellten, einmal das Gesetz dauernder Ehelosigkeit auf sich genommen hatten, und zwar nicht, weil sie darin irgendwelchen Gottesdienst sahen, wie man das später zu tun angefangen hat, sondern weil sie ihrer Amtsaufgabe nur zu genügen vermochten, wenn sie ihre eigenen Herren und frei vom ehelichen Joch waren. Wenn sie sich nun aber nach ihrem Treugelöbnis nach einer neuen Ehe umsahen, - was war das anders, als daß sie Gottes Berufung von sich warfen? Es ist daher kein Wunder, daß Paulus sagt, sie seien mit solchem Verlangen „geil geworden wider Christum“ (1. Tim. 5,11). Nachher aber fügt er dann zur stärkeren Betonung hinzu, sie hielten ihr der Kirche gegebenes Versprechen so gar nicht ein, daß sie damit zugleich auch ihre erste Treuzusage, die sie bei der Taufe gegeben hätten, verletzten und ungültig machten, jene Treuzusage, zu der es doch auch gehört, daß sich jeder seinem Beruf entsprechend verhält. Andernfalls müßte man es schon lieber so verstehen wollen, daß sie, gleichsam nach Verlust jedes Schamgefühls, hernach auch alles Trachten nach einem ehrbaren Wandel von sich abgeworfen, sich aller und jeder Ungebundenheit und Leichtfertigkeit hingegeben und durch ihren zügellosen und unordentlichen Lebenswandel nichts weniger an den Tag gelegt hätten als die Art von christlichen Frauen. Diese Deutung gefällt mir sehr.
Wir geben also (auf jenen Einwand) folgende Antwort: die Witwen, die damals in den öffentlichen Dienst (der Kirche) aufgenommen wurden, haben sich die Bestimmung auferlegt, dauernd ehelos zu bleiben; wenn sie nun nachher freiten, so ist es, wie wir leicht begreifen, zu dem gekommen, was Paulus sagt, nämlich daß sie alle Scham von sich warfen und mutwilliger wurden, als es christlichen Frauen geziemt; so haben sie denn nicht nur dadurch gesündigt, daß sie das Wort brachen, das sie der Kirche gegeben hatten, sondern sie sind ja auch von dem gemeinsamen Gesetz abgewichen, das für alle frommen Frauen gilt. Aber ich bestreite zunächst, daß sie die Ehelosigkeit aus einem anderen Grunde gelobt hätten als allein deshalb, weil sich die Ehe mit der Aufgabe, die sie übernahmen, durchaus nicht vertrug, auch leugne ich, daß sie sich zur Ehelosigkeit irgendwie anders verpflichtet hätten, als allein soweit es die Notwendigkeit ihres Berufs mit sich brachte. Zum Zweiten gebe ich nicht zu, daß sie derart gebunden gewesen sind, daß es nicht auch dann noch besser für sie gewesen wäre, in die Ehe zu treten, als von den Stacheln des Fleisches gemartert zu werden oder in irgendwelche Unsittlichkeit zu verfallen. Zum Dritten behaupte ich, daß Paulus in seiner Vorschrift ein Lebensalter festsetzt, das im allgemeinen außerhalb der Gefahr steht (nämlich sechzig Jahre 1. Tim. 5,9), vor allem, wo er gebietet, nur solche zu wählen, die mit einer einzigen Ehe zufrieden gewesen sind und schon vorher einen Beweis ihrer Enthaltsamkeit geliefert haben.
Wir verwerfen aber das Gelübde der Ehelosigkeit nur deshalb, weil man es fälschlich für einen Gottesdienst hält und weil es vorwitzig von solchen abgelegt wird, denen das Vermögen zur Enthaltsamkeit nicht zuteil geworden ist.
IV,13,19
Woher hat man aber das Recht genommen, die Paulusstelle auf die Nonnen zu beziehen?
Denn die dienenden Witwen (diaconissae) wählte man nicht, damit sie Gott mit Gesängen und unverstandenem Geplärr schmeichelten und die übrige Zeit der Muße lebten, sondern damit sie den öffentlichen Dienst der Kirche an den Armen verrichteten und mit allem Eifer, aller Sorgfalt und allem Fleiß den Pflichten der Liebe oblägen. Sie gelobten die Ehelosigkeit nicht, um mit ihrem Verzicht auf die Ehe Gott irgendeinen Dienst zu erzeigen, sondern nur, um zur Ausübung ihres Amtes freier zu sein. Und schließlich gelobten sie die Ehelosigkeit nicht in der Frühzeit ihrer Jungfrauschaft, auch noch nicht mitten in der Blüte ihrer Jahre, um dann nachher zu spät aus Erfahrung zu lernen, in was für einen Abgrund sie sich begeben hatten; nein, wenn sie alle Gefahr überstanden zu haben schienen, dann legten sie ihr ebenso gefahrloses wie heiliges Gelübde ab. Aber - um auf die beiden ersten Punkte nicht scharf zu drängen - ich behaupte, daß es ein Frevel ist, Frauen vor ihrem sechzigsten Lebensjahr zum Gelübde der Enthaltsamkeit zuzulassen, da Paulus allein die sechzigjährigen zuläßt, den jüngeren dagegen gebietet, sie sollten freien und Kinder zur Welt bringen (1. Tim. 5,9.14). Daher läßt sich die Herabsetzung des Zulassungsalters zunächst um zwölf, dann um zwanzig und schließlich um dreißig Jahre auf keinerlei Weise entschuldigen, und noch viel weniger ist es zu ertragen, daß man arme Mägdlein, ehe sie sich ihres Alters halben selber kennen oder von sich selbst irgendwelche Erfahrung haben können, nicht nur mit Betrug dazu verführt, sondern mit Gewalt und Drohungen dazu zwingt, sich in diese verfluchten Stricke hineinzubegeben.
Auf die Ablehnung der beiden anderen Gelübde (Armut, Gehorsam) will ich mich nicht einlassen. Ich sage nur dies: abgesehen davon, daß sie, wie die Dinge heute liegen, in nicht wenig Aberglauben verwickelt sind, scheinen sie dazu gemacht zu sein, daß die, welche sie leisten, mit Gott und Menschen ihren Spott treiben. Aber damit es nicht den Anschein hat, als wollten wir jedes einzelne Stückchen gar zu boshaft aufscheuchen, so wollen wir uns mit der oben gegebenen allgemeinen Widerlegung begnügen.
IV,13,20
Welcherlei Gelübde rechtmäßig und Gott wohlgefällig sind, das ist nach meiner Ansicht jetzt hinreichend dargelegt. Nun gibt es aber zuweilen unkundige und furchtsame Gewissen, die sich auch da, wo ihnen ein Gelübde mißfällt oder sie es ablehnen, nichtsdestoweniger über seine Verbindlichkeit Bedenken hingeben und sich furchtbar martern, weil sie einerseits davor zurückschrecken, das Gott gegebene Wort zu brechen, und andererseits befürchten, sich durch das Halten des Gelübdes noch mehr zu versündigen. Diesen muß also hier Hilfe geschafft werden, damit sie sich aus dieser Schwierigkeit herausreißen können.
Um aber mit einem Schlag jegliches Bedenken zu beheben, so sage ich dies: vor Gott sind alle unerlaubten und unrechtmäßig geleisteten Gelübde nichtig, und ebenso müssen sie also auch für uns ungültig sein. Wenn uns nämlich bei menschlichen Verträgen nur solche Zusagen binden, an die uns unser Vertragspartner gebunden halten will, so ist es widersinnig, daß wir gezwungen werden, etwas zu leisten, was Gott keineswegs von uns verlangt, vor allem, wo doch unsere Werke nur dann recht sind, wenn sie Gottes Wohlgefallen finden und das Zeugnis unseres Gewissens besitzen, daß sie es tun. Denn es bleibt fest bestehen: „Was ... nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde“ (Röm. 14,23). Damit meint Paulus: ein Werk, das wir unter Bedenken angreifen, ist deshalb sündig, weil der Glaube die Wurzel aller guten Werke ist, der Glaube, in dem wir die Gewissheit
haben, daß diese Werke Gott wohlgefällig sind. Wenn also ein Christenmensch nichts ohne diese Gewißheit anpacken darf, weshalb soll er dann nicht, wenn er aus Unwissenheit etwas unbesonnen übernommen hat, hernach davon Abstand nehmen, wenn er von seinem Irrtum frei geworden ist? Da nun aber die unbedacht geleisteten Gelübde von dieser Art sind, so tragen sie nicht nur keinerlei Verbindlichkeit an sich, sondern sind notwendig zu brechen! Was sollen wir aber erst sagen, wenn wir daran denken, daß sie vor Gott nicht nur für nichts geachtet werden, sondern auch ein Greuel sind, wie ich oben nachgewiesen habe? Es ist überflüssig, über eine unnötige Sache weiter zu reden. Um die frommen Gewissen zu beruhigen und von allen Bedenken zu befreien, scheint mir dieser eine Beweisgrund vollauf zu genügen: alle Werke, die nicht aus einer reinen Quelle hervorfließen und nach einem rechtmäßigen Ziele ausgerichtet sind, werden von Gott verworfen, und zwar so verworfen, daß er uns nicht weniger verbietet, in ihnen fortzufahren, als sie zu beginnen. Daraus nämlich ergibt sich die Folgerung: Gelübde, die aus Irrtum und Aberglauben hervorgegangen sind, haben bei Gott gar keine Bedeutung und müssen dementsprechend auch von uns beiseite gelassen werden.
IV,13,21
Wer diese Antwort festhält, der wird außerdem auch die Möglichkeit haben, solche Menschen gegen die Schmähungen nichtsnutziger Leute zu verteidigen, die das Mönchtum verlassen und sich in eine ehrbare Lebensweise begeben. Man beschuldigt sie heftig, sie hätten ihr Wort gebrochen und wären Meineidige, weil sie das nach allgemeiner Ansicht unlösbare Band zerrissen hätten, mit dem sie Gott und der Kirche verpflichtet waren. Ich behaupte dagegen, daß gar kein „Band“ bestanden hat, wo doch Gott (in diesem Fall) für nichtig erklärt, was der Mensch in Kraft setzt. Und dann: wenn wir selbst zugeben, sie seien verpflichtet gewesen, als sie von der Unkenntnis Gottes und dem Irrtum in Banden gehalten wurden, so behaupte ich doch, daß sie jetzt, nachdem sie von der Erkenntnis der Wahrheit erleuchtet sind, zugleich durch Christi Gnade frei sind. Denn wenn das Kreuz Christi solche Wirkkraft hat, daß es uns von dem Fluch des göttlichen Gesetzes frei macht, von dem wir in Banden gehalten wurden (Gal. 3,13), wieviel mehr wird es uns dann aus solchen fremden Fesseln herausreißen, die doch nichts anderes sind, als Fangnetze des Teufels! Es steht also außer Zweifel, daß Christus alle, denen er durch das Licht seines Evangeliums strahlend erscheint, von allen Stricken losmacht, in die sie sich aus Aberglauben verwickelt haben.
Freilich fehlt es ihnen, wenn sie nicht in der Lage waren, den Zölibat zu halten, auch nicht an einem weiteren Verteidigungsmittel. Denn ein unerfüllbares Gelübde bedeutet das sichere Verderben der Seele, und Gott will doch, daß sie erhalten bleibt und nicht verlorengeht. Daraus ergibt sich, daß man in solch einem Gelübde durchaus nicht verharren soll. Wie unerfüllbar aber das Gelübde der Enthaltsamkeit für solche ist, die mit der besonderen Gabe (Matth. 19,11f.) nicht ausgerüstet sind, das habe ich oben dargelegt, und die Erfahrung bezeugt es, auch wenn ich schweige; denn es ist sehr wohl bekannt, von wieviel Unsittlichkeit fast alle Klöster übervoll sind. Und wenn einige Klöster ehrbarer und sittsamer zu sein scheinen als andere, so sind sie doch nicht deshalb keusch, weil sie das Übel der Unkeuschheit im Inneren unterdrücken und niederhalten! So ahndet eben Gott mit schrecklichen Strafexempeln die Vermessenheit der Menschen, wenn sie nicht an ihre Schwachheit denken und gegen den Widerstand der Natur nach etwas trachten, das ihnen verwehrt ist, und wenn sie unter Verachtung der Heilmittel, die ihnen der Herr an die Hand gegeben hatte, die Zuversicht haben, sie könnten durch Trotz und Eigensinn das Gebrechen ihrer Ungezügeltheit überwinden. Denn wie sollen wir es anders als Trotz nennen, wenn jemand darauf aufmerksam gemacht ist, daß er die Ehe nötig hat und daß sie ihm von dem Herrn als Heilmittel gegeben wird, und sie dann trotzdem nicht nur verachtet, sondern sich noch durch einen Eid zur Verachtung verpflichtet?
Vierzehntes Kapitel
Von den Sakramenten
IV,14,1
Mit der Predigt des Evangeliums ist noch ein anderes Hilfsmittel für unseren Glauben verwandt: es liegt in den Sakramenten. Es ist uns nun hoch vonnöten, daß hierüber eine klare und bestimmte Unterweisung gegeben wird, aus der wir dann lernen können, zu welchem Zweck die Sakramente eingerichtet sind und in welcher Weise man sie heute gebraucht.
Zunächst ist es angebracht, darauf achtzuhaben, was ein Sakrament ist. Ich habe nun den Eindruck, daß es eine einfache und sachgemäße Begriffsbestimmung ist, wenn wir sagen: ein Sakrament ist ein äußeres Merkzeichen (symbolum), mit dem der Herr unserem Gewissen die Verheißungen seiner Freundlichkeit gegen uns versiegelt, um der Schwachheit unseres Glaubens eine Stütze zu bieten, und mit dem wiederum wir unsere Frömmigkeit gegen ihn sowohl vor seinem und der Engel Angesicht als auch vor den Menschen bezeugen. Man kann auch eine noch kürzer zusammenfassende Begriffsbestimmung geben: Sakrament heißt ein mit einem äußeren Zeichen bekräftigtes Zeugnis der göttlichen Gnade gegen uns, bei dem zugleich auf der anderen Seite eine Bezeugung unserer Frömmigkeit Gott gegenüber stattfindet. Welche von diesen beiden Begriffsbestimmungen man nun aber auch wählen mag, so sind beide dem Sinne nach von der des Augustin nicht verschieden, wenn er erklärt, Sakrament sei ein sichtbares Zeichen einer heiligen Sache, oder auch: es sei die sichtbare Gestalt der unsichtbaren Gnade. Jedoch bringen unsere Begriffsbestimmungen die Sache selbst besser und bestimmter zur Aussage. Denn da in solcher Kürze (wie sie Augustin walten läßt) eine gewisse Dunkelheit liegt, die dann vielen weniger Kundigen den Anlaß zu Träumereien bietet, so habe ich mit vielen Worten eine vollständigere Darlegung geben wollen, damit keine Unklarheit übrigbleibt.
IV,14,2
Aus welchem Grunde die Alten das Wort „Sakrament“ in dem hier vorliegenden Sinne angewandt haben, ist leicht ersichtlich. Denn der alte Übersetzer (der Bibel ins Lateinische) hat überall, wo er das griechische Wort „mysterion“ (Geheimnis) wiedergeben wollte, besonders, wo es sich um göttliche Dinge handelte, die Übersetzung „Sakrament“ (sacramentum) gebraucht. So geschieht es zum Beispiel im Briefe an die Epheser, wenn es heißt: „... um uns das Geheimnis (sacramentum) seines Willens kundzumachen“ (Eph. 1,9; nicht Luthertext). Oder ebenso: „Wie ihr ja gehört habt von dem Amt der Gnade Gottes, die mir an euch gegeben ist, daß mir ist kundgeworden dieses Geheimnis (sacramentum) durch Offenbarung ...“ (Eph. 3,2f.). Ähnlich geschieht es im Kolosserbrief: „Das Geheimnis (sacramentum), das verborgen gewesen ist von der Welt her und von den Zeiten her, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott gewollt hat kundtun, welches da sei der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses (sacramentum) ...“ (Kol. 1,26f.). Ebenso im (ersten) Brief an Timotheus, wo es heißt: „Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis (sacramentum): Gott ist offenbart im Fleisch ...“ (1. Tim. 3,16). Der Übersetzer wollte nun nicht das (verwandte) Wort „arcanum“ (Verborgenes) gebrauchen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als sagte er etwas, das hinter der Größe der Dinge zurückblieb, und deshalb setzte er für „Verborgenheit“, und zwar für die Verborgenheit einer heiligen Sache, das Wort „Sakrament“. In dieser Bedeutung kommt das Wort bei den kirchlichen Schriftstellern immer wieder vor. Auch ist es genugsam bekannt, daß das, was die Lateiner „Sakrament“ nennen, bei den Griechen „Mysterion“ heißt, und diese Sinngleichheit der beiden Wörter macht allem Streit ein Ende. Von hier aus ist es dann dazu gekommen, daß das Wort „Sakra-
ment“ auf solche Zeichen übertragen wurde; die eine erhabene Darstellung hoher und geistlicher Dinge boten. Das bemerkt auch Augustin an einer Stelle. Er sagt: „Es würde zu weit führen, wenn wir die Verschiedenheit der Zeichen erörtern wollten, die, wenn sie sich auf göttliche Dinge beziehen, Sakramente genannt werden“ (Brief 136,1,7; an Marcellinus).
IV,14,3
Aus der damit aufgestellten Begriffsbestimmung ersehen wir nun weiter, daß ein Sakrament nie ohne eine vorausgehende Verheißung ist, sondern daß es der Verheißung vielmehr gleichsam als Anhängsel zugefügt wird. Dies geschieht zu dem Zweck, daß es die Verheißung selbst bekräftigt und versiegelt und sie für uns besser bezeugt, ja, gewissermaßen gültig sein läßt. Denn Gott sieht vor, daß es zum ersten für unsere Unwissenheit und Trägheit, zum zweiten aber auch für unsere Schwachheit dergestalt erforderlich ist. Dabei hat es aber Gott - um im eigentlichen Sinne zu reden - nicht sowohl nötig, sein heiliges Wort zu bekräftigen, als vielmehr uns im Glauben an sein Wort zu stärken. Denn Gottes Wahrheit ist aus sich selbst heraus fest und sicher genug, und sie kann von anderswoher keine bessere Bekräftigung empfangen als von sich selbst. Da aber unser Glaube gering und schwach ist, so muß er von allen Seiten gestützt und auf allerlei Weise tragfest gemacht werden; sonst gerät er alsbald in Erschütterung, in Schwanken und Wanken, ja, er bricht zusammen. Und hier paßt sich nun der barmherzige Herr in seiner unermeßlichen Güte unserem Fassungsvermögen an. Da wir aber irdische Wesen sind und als solche, allezeit am Boden kriechend und am Fleische hängend, nichts Geistliches zu denken und es nicht einmal aufzufassen vermögen, so macht er es so, daß er keine Beschwernis darin findet, uns auch mit solchen irdischen Elementen zu sich hin zu führen und uns im Fleische selbst einen Spiegel der geistlichen Güter vorzuhalten. Wenn wir nämlich, wie Chrysostomus sagt, unleibhaft wären, so würde uns der Herr diese Güter auch nackt und unleibhaft darreichen. Nun aber, da wir eine Seele haben, die in den Leib eingesenkt ist, so gibt er uns das Geistliche durch das Sichtbare hindurch (Predigt 60 an das Volk). Das kommt nicht etwa daher, daß solche Gaben, die uns in den Sakramenten dargegeben werden, in der Natur der Dinge lägen; nein, sie sind eben von Gott bezeichnet, um diese Bedeutung zu haben.
IV,14,4
Dies ist nun der Sinn der gebräuchlichen Redeweise, das Sakrament bestehe aus dem Wort und dem äußeren Zeichen. Wenn wir vom „Wort“ sprechen, so dürfen wir nämlich darunter nicht ein solches verstehen, das, ohne Sinn und ohne Glauben dahergeflüstert, allein durch seinen Klang die Kraft hätte, das „Element“ zu heiligen – wie wenn es sich hier um eine Zauberbeschwörung handelte –; nein, wir müssen hier vielmehr an das Wort denken, das gepredigt wird und uns dadurch erkennen läßt, was das sichtbare Zeichen für einen Sinn hat.
Was also (in dieser Beziehung) unter der Tyrannei des Papstes geschehen ist, das ist nicht ohne eine ungeheuerliche Entheiligung der Geheimnisse (Sakramente) abgegangen: da meinte man nämlich, es sei genug, wenn der Priester unter der starren Verblüffung des Volkes, das von der Sache nichts verstand, die Weiheformel (consecrationis formula) dahermurmelte. Ja, man hat unter dem Papst mit Absicht dafür gesorgt, daß dem Volke aus dieser Handlung nur ja keine Unterweisung zukam, indem man nämlich vor Leuten ohne wissenschaftliche Bildung alles in lateinischer Sprache redete. Hernach ist der Aberglaube soweit gegangen, daß man meinte, die Weihe (Konsekration) werde nur dann nach Gebühr vorgenommen, wenn sie mit einem heiseren Gemurmel geschah, das bloß wenige vernahmen.
Weit anders dagegen lehrt Augustin über das Wort, das beim Sakrament gesprochen wird (verbum sacramentalis). Er sagt: „Es trete das Wort zu dem Element, so wird daraus ein Sakrament. Denn woher kommt diese gewaltige Kraft des Wassers, daß es den Leib berührt und das Herz rein wäscht, anders als
aus der Wirkung des Wortes? Und zwar nicht darum, weil es gesprochen, sondern weil es geglaubt wird! Denn auch bei dem Wort selbst ist der verklingende Laut etwas anderes als die bleibende Kraft. ‚Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen’, sagt der Apostel (Röm. 10,8). Daher heißt es in der Apostelgeschichte: ‚Und reinigte ihre Herzen durch den Glauben ...’ (Apg. 15,9). Und der Apostel Petrus sagt: So macht uns auch die Taufe selig, die nicht das Abtun des Unflats am Fleische ist, sondern die Verantwortung eines guten Gewissens’ (1. Petr. 3,21; nicht Luthertext; Calvin selbst übersetzt statt „Verantwortung“ in Sekt. 24: das Zeugnis ...). Es ist das Wort vom Glauben, das wir predigen, durch das ohne jeglichen Zweifel auch die Taufe geweiht wird, so daß sie zu reinigen vermag“ (Predigten zum Johannesevangelium 80,3).
Man sieht hier, wie Augustin die Predigt fordert, damit aus ihr der Glaube erwachse. Es besteht auch kein Anlaß, daß wir uns damit abmühen, dies zu beweisen; denn es ist deutlich genug, was Christus getan, was er uns zu tun befohlen hat, was die Apostel befolgt haben und was die reinere Kirche innegehalten hat. Ja, es ist bekannt, daß seit Anbeginn der Welt, sooft Gott den heiligen Vätern irgendein Zeichen gegeben hat, damit unzertrennlich auch das Wort verbunden war, ohne das unsere Sinne durch das bloße (d.h. hüllenlose) Anschauen in Verwirrung geraten würden. Wenn wir also das bei dem Sakrament gesprochene Wort (verbum sacramentalis) erwähnen hören, so wollen wir darunter die Verheißung verstehen, die, vom Diener (am Wort) mit klarer Stimme gepredigt, das Volk bei der Hand nimmt und dahin leitet, worauf sich das Zeichen richtet und wohin es uns lenkt.
IV,14,5
Man darf auch nicht auf die Leute hören, die hiergegen mit einem Entweder-Oder anzukämpfen suchen, das mehr scharfsinnig als stichhaltig ist. Sie sagen: Entweder wir wissen, daß Gottes Wort, wie es dem Sakrament voraufgeht, Gottes wahrhaftiger Wille ist, oder wir wissen es nicht. Wenn wir es wissen, so lernen wir aus dem dann folgenden Sakrament nichts Neues. Wissen wir es aber nicht, so wird es uns auch das Sakrament nicht lehren, weil seine Kraft ja voll und ganz im Worte liegt. Hierauf will ich kurz antworten. Die Siegel, die man an Amtsurkunden und anderen öffentlichen Schriftstücken befestigt, sind an und für sich betrachtet nichts, weil sie ja vergebens daran aufgehängt wären, wenn auf dem Pergament nichts geschrieben stünde; und doch ist es so, daß sie das Geschriebene bekräftigen und versiegeln, wenn sie solchen Schriftstücken zugefügt werden. Jene Leute können auch nicht behaupten, dies Gleichnis sei erst neuerdings von uns aufgebracht; denn Paulus hat es selbst gebraucht, indem er die Beschneidung ein „Siegel“ nennt (Röm. 4,11). An dieser Stelle behauptet er mit voller Absicht, die Beschneidung des Abraham sei nicht zwecks Erwerb der Gerechtigkeit geschehen, sondern sie stelle vielmehr ein Siegel des Bundes dar, an den Abraham geglaubt hat, so daß er in diesem Glauben gerechtfertigt war. Und ich möchte doch wissen, was für ein Anlaß dazu bestehen soll, daß jemand gewaltig daran Anstoß nimmt, wenn wir lehren, daß die Verheißung durch die Sakramente versiegelt wird – wo doch aus den Verheißungen selbst klar hervorgeht, daß eine durch die andere ihre Bekräftigung erfährt! Denn je deutlicher eine Verheißung ist, desto geeigneter ist sie auch, um dem Glauben eine Stütze zu bieten. Die Sakramente aber tragen uns die deutlichsten Verheißungen zu und haben außerdem vor dem Worte noch den besonderen Vorzug, daß sie diese Verheißungen wie in einem Bilde abmalen und sie uns dergestalt lebenswahr vergegenwärtigen. Man pflegt nun freilich einen Unterschied zwischen den Sakramenten und den an die Urkunden gehängten Siegeln anzuführen, indem man sagt: beide bestehen aus den fleischlichen Elementen dieser
Welt, und deshalb können also die Sakramente nicht ausreichen und nicht in der Lage sein, die Verheißungen Gottes, die geistlich und ewig sind, derart zu versiegeln, wie die Anhängung von Siegeln zur Bekräftigung von fürstlichen Verordnungen zu dienen pflegt, die sich auf unbeständige und vergängliche Dinge beziehen, von diesem Einwand sollen wir uns nun aber nicht irremachen lassen. Denn wenn einem gläubigem Manne die Sakramente vor die Augen treten, so bleibt er nicht an jenem fleischlichen Schaubild hängen, sondern steigt auf den oben dargelegten Stufen der Entsprechung (analogia – zwischen der geistlichen Bedeutung und dem sichtbaren Zeichen) in frommer Betrachtung zu den erhabenen Geheimnissen empor, die in den Sakramenten verborgen liegen.
IV,14,6
Da nun der Herr seine Verheißungen Bündnisse nennt (Gen. 6,18; 9,9; 17,2) und die Sakramente Zeichen dieser Bündnisse, so läßt sich eben aus den Bündnissen der Menschen ein Gleichnis anführen. Denn was sollte wohl die Schlachtung einer Sau für eine Wirkung haben, wenn nicht Worte dazukämen, ja, wenn sie nicht vorausgingen? Gar oft werden doch Säue geschlachtet, ohne daß dabei ein tieferes oder erhabeneres Geheimnis obwaltet. Was soll der Handschlag (an und für sich) für eine Wirkung haben, wo man doch nicht selten auch im feindlichen Sinne miteinander „handgemein“ wird? Wo aber Worte vorangegangen sind, da werden unzweifelhaft durch solche Zeichen die Bündnisbedingungen bekräftigt, obwohl sie schon zuvor mit Worten abgefaßt, festgestellt und beschlossen sind. Die Sakramente sind also Übungen, die uns das Wort Gottes gewisser verbürgen, und weil wir fleischlich sind, so werden sie unter fleischlichen Dingen dargeboten, um uns dergestalt nach dem Auffassungsvermögen unserer trägen Art zu erziehen und uns, wie die Lehrmeister mit Kindern zu tun pflegen, bei der Hand zu leiten. In diesem Sinne bezeichnet Augustin das Sakrament als „sichtbares Wort“ (Predigten zum Johannesevangelium 80,3; Gegen den Manichäer Faustus 19,16), weil es uns ja Gottes Verheißungen wie auf einem Bilde dargestellt vergegenwärtigt und sie uns in gemaltem und bildhaftem Ausdruck vor Augen stellt.
Es lassen sich auch noch andere Gleichnisse vorbringen, die dazu dienen, die Sakramente deutlicher zu bestimmen. So geschieht es zum Beispiel, wenn wir sie als Säulen unseres Glaubens bezeichnen. Denn wie ein Bauwerk zwar auf seinem Fundament errichtet ist und ruht, aber durch die Untersetzung von Säulen noch sicherer gestützt wird, so ruht der Glaube auf dem Worte Gottes als auf seinem Fundament, aber wenn die Sakramente hinzukommen, so wirken diese obendrein noch wie Säulen, auf die er sich fester stützt. Ein ähnliches Gleichnis haben wir auch, wenn wir die Sakramente als „Spiegel“ bezeichnen, in denen sich die Reichtümer der Gnade Gottes anschauen lassen, die er uns gewährt. Denn in den Sakramenten offenbart er sich uns, wie bereits dargetan, so weit, als es unserer Kurzsichtigkeit gegeben ist, ihn zu erkennen, und in ihnen bezeugt er sein Wohlwollen und seine Liebe gegen uns deutlicher, als es im Worte geschieht.
IV,14,7
Es ist auch keine hinreichend angemessene Beweisführung, wenn die obengenannten Theologen behaupten, die Sakramente seien keine Zeugnisse der Gnade Gottes, und zwar darum nicht, weil sie ja auch Gottlosen dargereicht würden. Tatsächlich ist es doch so, daß die Gottlosen auf Grund der Sakramente keineswegs zu dem Empfinden kommen, Gott sei ihnen in höherem Maße gnädig, sondern sich vielmehr eine um so ernstere Verdammnis zuziehen. Denn nach dem gleichen Beweis wäre ja auch das Evangelium kein Zeugnis der Gnade Gottes, weil es von vielen gehört und verachtet wird. Ja, auch Christus
selber wäre dann kein Zeugnis der Gnade Gottes; denn er ist doch von sehr vielen Leuten gesehen und gekannt worden, unter denen nur sehr wenige waren, die ihn annahmen.
Ähnliches läßt sich auch an den Urkunden beobachten. Denn jenes Siegel, das den Urheber beglaubigen soll, wird von sehr vielen Leuten aus der großen Menge verlacht und verspottet, obwohl sie wissen, daß es von dem Fürsten zur Versiegelung seines Willens ausgegangen ist; andere messen ihm keinerlei Bedeutung bei, als ob es eine Sache wäre, die sie nichts anginge, andere gibt es, die es verfluchen! Sakramente und Siegel unterliegen also völlig gleichen Bedingungen, und wenn wir das sehen, so muß uns das weiter oben von uns angewandte Gleichnis mehr und mehr einleuchten.
Es ist also gewiß, daß uns der Herr seine Barmherzigkeit und ein Unterpfand seiner Gnade sowohl durch sein Wort darbietet als auch durch die Sakramente. Beides wird aber nur von solchen ergriffen, die das Wort und die Sakramente mit gewissem Glauben annehmen, wie ja auch Christus vom Vater allen zum Heil dargeboten und vor Augen gestellt, aber doch nicht von allen erkannt und angenommen worden ist. In der Absicht, dies darzulegen, hat Augustin an einer Stelle den Satz ausgesprochen: „Die Wirkkraft des Wortes wird im Sakrament zum Vorschein gebracht, und zwar nicht, weil das Wort geredet, sondern weil es geglaubt wird“ (Predigten zum Johannesevangelium 80,3).
Daher kommt es, daß Paulus, wenn er zu Gläubigen spricht, in der Weise von den Sakramenten redet, daß er die Gemeinschaft mit Christus in sie einschließt. So tut er es zum Beispiel, wenn er sagt: „Denn wieviel euer ... getauft sind, die haben Christum angezogen“ (Gal. 3,27). Oder ebenso, indem er schreibt: „Ein Leib und ein Geist sind wir alle, die wir in Christus getauft sind“ (1. Kor. 12,12f.; nicht Luthertext). Redet er dagegen von dem verkehrten Gebrauch der Sakramente, so gibt er ihnen keinen anderen Wert als bedeutungslosen und inhaltsleeren Abbildern. Damit gibt er zu verstehen: so sehr auch die Gottlosen und Heuchler in ihrer Verkehrtheit die Wirkung der Sakramente unterdrücken, verdunkeln oder behindern mögen, so steht doch nichts dawider, daß diese Sakramente, wo und sooft es Gott gefällt, ein wahrhaftes Zeugnis von der Gemeinschaft mit Christus liefern und der Geist Gottes auch eben das darreicht, was die Sakramente verheißen. Wir stellen also fest, daß es der Wahrheit entspricht, wenn die Sakramente als Zeugnisse der Gnade Gottes und gleichsam als Siegel der Freundlichkeit bezeichnet werden, die Gott gegen uns im Herzen trägt, als Siegel, die uns solche Freundlichkeit Gottes versiegeln und dadurch unseren Glauben stützen, erhalten, festigen und mehren.
Die Gründe aber, die manche Leute gegen diesen Satz beibringen, sind völlig unbedeutend und kraftlos. Sie sagen, wenn unser Glaube gut sei, so könne er eben nicht besser werden; denn er sei doch nur dann Glaube, wenn er sich unerschüttert, fest und unabbringbar auf Gottes Barmherzigkeit stütze. Wer so redet, der hätte besser daran getan, mit den Aposteln darum zu beten, der Herr möge ihm den Glauben mehren (Luk. 17,5), als unbekümmert eine solche Vollkommenheit des Glaubens zu behaupten, wie sie nie einer von den Menschenkindern erreicht hat und auch niemand in diesem Leben erreichen wird. Sie sollen mir doch sagen, was für einen Glauben denn nach ihrer Meinung jener Mann gehabt hat, der da sprach: „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben“ (Mark. 9,24). Denn obwohl der Glaube dieses Mannes noch gar in den Anfängen steckte, so war er doch gut und konnte durch Behebung des Unglaubens besser werden. Aber zur Widerlegung dieser Leute gibt es keinen kräftigeren Beweis als ihr eigenes Gewissen; denn wenn sie bekennen, daß sie Sünder sind – und das können sie doch nicht leugnen, ob sie nun wollen oder nicht –, so müssen sie eben diese Tatsache unumgänglich der Unvollkommenheit ihres Glaubens zuschreiben!
IV,14,8
Ja, sagen sie, aber Philippus hat doch dem „Kämmerer“ die Antwort gegeben, er könne getauft werden, wenn er von ganzem Herzen glaube (Apg. 8,37)! Was soll nun die Bestärkung (des Glaubens) durch die Taufe hier noch für einen Platz finden, wo doch der Glaube das ganze Herz erfüllt? Ich möchte sie nun aber meinerseits fragen, ob sie es denn nicht merken, daß ein großer Teil ihres Herzens noch leer ist an Glauben, und ob sie denn nicht erkennen, daß der Glaube tagtäglich aufs neue wächst. Es war doch einst einer, der sich rühmte, er würde über seinem Lernen zum alten Manne. Wenn wir Christen also alte Leute würden, ohne unterdessen vorwärtszukommen, so wären wir dreifach elendige Menschen, wo doch unser Glaube durch alle Altersstufen hindurch fortschreiten muß, bis er zu einem Dasein als „vollkommener Mann“ erwächst (Eph. 4,13). Wenn es also an jener Stelle heißt (Apg. 8,37): „von ganzem Herzen glauben“ so bedeutet das nicht: vollkommen an Christus glauben, sondern nur: ihn von Herzen und mit aufrichtigem Gemüte annehmen; es bedeutet nicht, daß man von ihm gesättigt ist, sondern daß man in glühendem Eifer hungert, dürstet und sich nach ihm sehnt. Die Schrift hat ja die Gepflogenheit, daß sie davon spricht, es geschehe etwas „von ganzem Herzen“, wenn sie zu verstehen geben will, daß es aufrichtig und mit rechtem Willen geschieht. In diesem Sinne heißt es: „Ich suche dich von ganzem Herzen“ (Ps. 119,10), oder: „Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen“ (Ps. 111,1; 138,1), oder ähnlich. In der nämlichen Weise pflegt die Schrift, wo sie Betrüger oder Lügner tadelt, solchen Menschen den Vorwurf zu machen, sie hätten ein doppeltes (Luther: uneiniges) Herz (Ps. 12,3).
Die obengenannten Leute sagen nun aber weiter so: wenn der Glaube durch die Sakramente eine Mehrung erfährt, so ist der Heilige Geist umsonst gegeben; denn es ist doch seine Kraft und sein Werk, den Glauben anzufangen, zu erhalten und zu vollenden! Ich gebe ihnen nun allerdings zu, daß der Glaube das eigentliche und vollkömmliche Werk des Heiligen Geistes ist: sind wir von ihm erleuchtet, so erkennen wir Gott und die Schätze seiner Güte, ohne sein Licht aber ist unser Verstand derart blind, daß er von den geistlichen Dingen nichts erschauen, und derart stumpf, daß er von ihnen nicht einmal einen Geruch empfangen kann. Jedoch ziehen wir statt der einen Wohltat Gottes, die jene Theologen predigen, ihrer drei in Betracht. Denn erstens lehrt und unterweist uns der Herr durch sein Wort, zweitens stärkt er uns durch die Sakramente, und endlich erleuchtet er unseren Verstand durch das Licht seines Heiligen Geistes und eröffnet durch ihn dem Wort und den Sakramenten den Zugang zu unserem Herzen; andernfalls nämlich würden sie bloß an unser Ohr klingen oder uns vor die Augen gestellt werden, aber das Innere in keiner Weise berühren.
IV,14,9
Wenn ich nun von einer Stärkung und Mehrung des Glaubens durch die Sakramente spreche, so möchte ich also, daß sich der Leser – wie ich es bereits mit sehr klaren Worten ausgesprochen zu haben hoffe – auf folgendes aufmerksam machen läßt: schreibe ich den Sakramenten diesen Dienst zu, so ist es nicht so, als ob ich der Meinung wäre, es wohnte ihnen fortdauernd ich weiß nicht was für eine verborgene Kraft inne, durch die sie in der Lage wären, den Glauben aus sich heraus zu fördern und zu stärken; nein, dieser Dienst begründet sich darauf, daß die Sakramente von dem Herrn dazu eingesetzt sind, zur Festigung und Mehrung des Glaubens zu dienen.
Im übrigen vollbringen sie ihr Amt nur dann recht, wenn jener innerliche Lehrmeister, der Heilige Geist, hinzutritt, von dessen Kraft allein die Herzen durchdrungen und die Empfindungen bewegt werden und den Sakramenten ein Zugang zu unserer Seele offensteht. Ist der Heilige Geist nicht dabei, so können die Sakramente unseren Herzen nicht mehr schenken, als wenn der Glanz der Sonne blinden Augen erstrahlt oder eine Stimme an taube Ohren klingt. Zwischen
dem Geist und den Sakramenten teile ich also dergestalt, daß bei dem Geist die Kraft zum Wirken liegt, den Sakramenten aber ausschließlich der Dienst überlassen bleibt, und zwar der Dienst, der ohne die Wirkung des Geistes leer und wesenlos bleibt, aber von großer Kraft erfüllt ist, wenn der Geist im Inneren am Werke ist und seine Kraft offenbart.
Jetzt ist es deutlich, in welcher Weise nach der hier vorgetragenen Auffassung ein frommes Herz durch die Sakramente im Glauben gestärkt wird: das geschieht eben in der Weise, wie auch die Augen durch den Glanz der Sonne sehen und die Ohren beim Klang einer Stimme hören. Nun würden aber die Augen von keinerlei Licht irgendwie berührt, wenn sie nicht eine ihnen innewohnende Sehkraft besäßen, die nun von selbst das Licht erfaßt, und die Ohren würden vergeblich von irgendwelchem Klang getroffen, wenn sie nicht zum Hören geboren und zubereitet wären. Das, was nun in unseren Augen die Sehkraft bewirkt, die uns in den Stand setzt, das Licht zu erfassen, und was in unseren Ohren das Gehör schafft, das uns fähig macht, eine Stimme zu vernehmen, das ist in unseren Herzen das Werk des Heiligen Geistes, das sich darin auswirkt, den Glauben anzufangen, zu stützen, zu erhalten und zu festigen. Wenn dies nun wahr ist – und es sollte für uns ein für allemal feststehen –, dann ergibt sich daraus ebenso auch folgende doppelte Tatsache: einerseits richten die Sakramente ohne die Kraft des Heiligen Geistes nicht das mindeste aus, und andererseits steht nichts dawider, daß sie in unserem Herzen, das schon vorher von jenem Lehrmeister (d.h. dem Heiligen Geiste) unterwiesen ist, den Glauben kräftiger und größer machen. Dabei besteht nur ein Unterschied: das Vermögen zum Hören und Sehen ist unseren Ohren und Augen von Natur mitgegeben, während Christus dagegen in besonderer Gnade, über das Maß der Natur hinaus, solche Wirkung in unserem Herzen hervorbringt.
IV,14,10
Damit werden zugleich auch manche Einwände widerlegt, wie sie viele Menschen in Angst halten. So sagt man: wenn wir behaupteten, daß Kreaturen zum Wachstum und zur Bekräftigung des Glaubens dienen könnten, so geschehe damit dem Geiste Gottes Unehre; denn man müsse doch ihn allein als den Geber solchen Wachstums und solcher Bekräftigung anerkennen. (Dieser Einwand erledigt sich.) Denn wenn wir so reden, so nehmen wir doch damit dem Heiligen Geiste das Lob, daß er unseren Glauben festige und wachsen lasse, keineswegs fort; nein, wir behaupten vielmehr, daß eben dies Werk der Mehrung und Festigung unseres Glaubens nichts anderes ist, als daß er mit der von ihm gewirkten innerlichen Erleuchtung unsere Herzen zubereitet, damit sie jene Kräftigung empfangen, die uns von den Sakramenten an die Hand gegeben wird.
Was etwa an dem bisher Ausgeführten noch gar zu dunkel war, das wird durch das folgende Gleichnis, das ich jetzt anführen will, völlig klarwerden. Wenn du dir vornimmst, einen Menschen mit Worten dazu zu überreden, daß er irgend etwas tut, dann wirst du dir alle Gründe überlegen, durch die er zu deiner Ansicht herübergezogen und geradezu genötigt werden könnte, deinem Rate willfährig zu sein. Aber alle Mühe ist vergebens, wenn er nicht seinerseits von durchschauendem, scharfem Urteilsvermögen ist, um damit zu der Erwägung befähigt zu sein, welches Gewicht deinen Gründen beizumessen ist; alle Mühe wird umsonst sein, wenn er nicht seinem Wesen nach belehrbar und zum Anhören einer Unterweisung bereit ist – und wenn er schließlich von deiner Zuverlässigkeit und Klugheit nicht jene Meinung hat, die für ihn gleichsam ein vorläufiges Urteil bilden könnte, das ihn dazu brächte, zu allem seine Zustimmung zu geben. Denn es gibt sehr viele hartköpfige Menschen, die du nie mit irgendwelchen Gründen wirst lenken können; und wo deine Zuverlässigkeit in Verdacht gezogen, wo deine Autorität verachtet ist, da wird sich auch bei belehrbaren Leuten wenig ausrichten lassen. Auf der anderen Seite: wo die genannten Voraussetzungen alle vorliegen, da werden sie sicherlich die Wirkung haben, daß sich
der Mann, dem du deine Ratschläge zu Gehör bringst, auf sie verläßt, während er sie im anderen Falle verlacht haben würde. Eben dies Werk tut bei uns der Heilige Geist: damit nämlich das Wort nicht vergebens an unsere Ohren klingt und die Sakramente nicht umsonst vor unsere Augen treten, so weist er darauf hin, daß es Gott ist, der darin mit uns redet, er erweicht die Widerspenstigkeit unseres Herzens und bereitet es zu dem Gehorsam zu, der dem Worte des Herrn gebührt. Kurz, er trägt jene äußerlichen Worte und Sakramente von den Ohren in die Seele hinein.
Das Wort wie auch die Sakramente bekräftigen also unseren Glauben, indem sie uns den guten Willen des himmlischen Vaters gegen uns vor Augen stellen, durch dessen Erkenntnis die ganze Festigkeit unseres Glaubens Bestand gewinnt und seine Kraft zunimmt. Der Geist dagegen bekräftigt unseren Glauben, indem er solche (durch Wort und Sakramente gewirkte) Bekräftigung in unsere Herzen eingräbt und sie dadurch wirksam macht. Indessen kann man dem Vater des Lichts nicht verbieten, daß er, wie er unsere leiblichen Augen mit den Strahlen der Sonne hell macht, so auch unsere Herzen durch die Sakramente erleuchtet, gleichsam wie durch einen vermittelnden Lichtschein.
IV,14,11
Daß dem äußeren Worte diese Eigenschaft (unseren Glauben zu kräftigen und zu mehren) innewohnt, das hat der Herr dargetan, indem er es als „Samen“ bezeichnete (Matth. 13,3-23; Luk. 8,5-15). Denn wenn ein Samenkorn in ein wüst liegendes und vernachlässigtes Stück Land gefallen ist, so kann es nicht anders als ersterben; hat man es aber in ein gehörig bearbeitetes und gepflegtes Saatfeld geworfen, so wird es mit bestem Gewinn seine Frucht hervorbringen. Ebenso bleibt das Wort Gottes, wenn es auf irgendeinen harten Nacken fällt, ohne Frucht, wie wenn es gleichsam auf den Sand geworfen wäre; trifft es aber eine Seele an, die von der Hand des Geistes vom Himmel unter den Pflug genommen ist, so wird es reichste Frucht tragen. Wenn es nun aber um den Samen und um das Wort ganz gleich bestellt ist, und ferner das Korn aus dem Samen geboren wird, wächst und zur Reife kommt, – weshalb sollen wir dann nicht ebenso sagen, daß der Glaube aus dem Worte Ursprung, Wachstum und Vollendung empfängt?
Beides setzt Paulus an verschiedenen Stellen trefflich auseinander. Er will den Korinthern ins Gedächtnis zurückrufen, wie wirksam Gott seinen Dienst benutzt habe (1. Kor. 2,4), und zu diesem Zweck rühmt er sich, das „Amt des Geistes“ innezuhaben (2. Kor. 3,6), gleich als ob mit seiner Predigt durch ein unlösbares Band die Kraft des Heiligen Geistes verbunden wäre, um das Herz innerlich zu erleuchten und zu bewegen. An anderer Stelle aber will er darauf aufmerksam machen, was das vom Menschen gepredigte Wort aus sich selbst heraus für eine Kraft hat, und dazu vergleicht er die Diener (d.h. die Prediger) mit Ackerleuten, die ihre Arbeit und ihren Fleiß daran wenden, das Land zu bebauen, aber dann weiter nichts zu tun haben. Was würde auch Pflügen und Säen und Begießen nützen, wenn das Gesäte nicht durch himmlische Wohltat fruchtbar gemacht würde? Von hier aus kommt Paulus zu dem Ergebnis, daß sowohl der, der da pflanzt, als auch der, der da begießt, nichts ist, sondern alles Gott zugeschrieben werden muß, der allein das Gedeihen gibt (1. Kor. 3,6-9). Die Apostel machen also in ihrer Predigt die Macht des Geistes offenbar, soweit Gott die von ihm verordneten Werkzeuge zur Entfaltung seiner geistlichen Gnade benutzt. Und doch müssen wir jenen Unterschied festhalten, daß wir bedenken, was der Mensch aus sich selbst heraus vermag, und was Gott eigen ist.
IV,14,12
Was nun die Sakramente betrifft, so sind sie in solchem Maße Bekräftigung unseres Glaubens, daß der Herr manchmal, wenn er die Zuversicht auf die Dinge wegnehmen will, die er in den Sakramenten verheißen hat, die Sakramente selbst wegnimmt. Als er dem Adam die Gabe der Unsterblichkeit nimmt und ihn daraus
verstößt, da sagt er: „... daß er nicht ... breche von der Frucht des Lebens und lebe ewiglich“ (Gen. 3,22). Was hören wir nun hier? War denn etwa diese „Frucht“ imstande, dem Adam die Unsterblichkeit wiederzugeben, die er bereits verloren hatte? Nein, durchaus nicht! Aber es ist so, als ob Gott gesagt hätte: damit Adam kein eitles Vertrauen in sich nährt, wenn er noch das Merkzeichen meiner Verheißung besitzt, so soll ihm weggenommen werden, was ihm einige Hoffnung auf Unsterblichkeit bereiten könnte. In diesem Sinne spricht sich auch Paulus aus; er ermahnt die Epheser, sie sollten sich daran erinnern, daß sie Fremdlinge gewesen seien gegenüber den Verheißungen, „außer der Bürgerschaft Israels“, ohne Gott, ohne Christus (Eph. 2,12), und dabei sagt er auch, sie seien der Beschreibung nicht teilhaftig gewesen (Eph. 2,11). Damit gibt er durch Einsetzung des einen Begriffs für einen Verwandten (metonymice) zu verstehen, daß sie, indem sie das Unterpfand der Verheißung nicht empfangen hatten, auch von der Verheißung selbst ausgeschlossen waren.
Die obengenannten Theologen machen nun, wie gesagt (vgl. Anfang der Sektion 10), noch einen weiteren Einwand. Sie meinen, unsere Ansicht übertrage die Ehre Gottes auf Kreaturen: diese bekämen soviel Kraft zugesprochen, und damit geschehe der Ehre Gottes im gleichen Maße Eintrag. Hierauf ist leicht zu antworten: wir legen in die Kreaturen überhaupt keine Kraft hinein: Nur dies sagen wir: Gott benutzt Mittel und Werkzeuge, von denen er selbst voraussteht, daß sie nützlich sind; es soll seiner Ehre alles dienstbar sein, da er selbst ja Herr und Lenker über alles ist. Wie er also durch Brot und andere Speisen unseren Leib erhält, wie er durch die Sonne die Welt hell macht, wie er sie durch das Feuer erwärmt, – und wie doch weder das Brot noch die Sonne, noch das Feuer etwas sind, als allein insofern er durch Vermittlung dieser Werkzeuge seine Segnungen an uns austeilt, so nährt er auch geistlich unseren Glauben durch die Sakramente, deren einziges Amt es ist, uns seine Verheißungen sichtbar vor Augen zu stellen, ja, ihre Unterpfänder für uns zu sein. Und wie es unsere Pflicht ist, an die übrigen Kreaturen, die durch Gottes Wohltätigkeit für unseren Gebrauch bestimmt sind und durch deren Dienst er uns die Geschenke seiner Güte zukommen läßt, keinerlei Vertrauen zu heften und sie nicht als Ursachen unseres Wohlergehens zu bewundern und zu preisen, so darf unser Vertrauen sich auch nicht an die Sakramente hängen, und Gottes Ehre darf nicht auf sie übertragen werden, sondern unser Glaube und unser Bekenntnis müssen das alles beiseite lassen und zu dem Geber selbst, der uns die Sakramente wie auch alle Dinge geschenkt hat, emporsteigen!
IV,14,13
Endlich gibt es manche Leute, die (zur Bekräftigung der hier abgelehnten Ansicht) einen Beweis vorbringen, der sich auf das Wort „Sakrament“ gründet. Aber dieser Beweis ist nicht stichhaltig. Dies Wort, so sagen sie, hat bei den anerkannten (römischen) Schriftstellern vielerlei Bedeutungen; aber darunter ist nur eine, die zu den Zeichen paßt: das ist nämlich jene, bei der „Sakrament“ einen feierlichen Eidschwur bedeutet, wie ihn der Soldat dem Feldherrn leistet, wenn er in den Kriegsdienst eintritt. Denn wie die neu eintretenden Soldaten mit diesem Kriegseid ihre Treue an den Feldherrn binden und das Bekenntnis ablegen, daß sie nun Soldaten sein wollen, so bekennen wir mit unseren Zeichen Christus als unseren Feldhauptmann und bezeugen, daß wir unter seinen Zeichen Kriegsdienst tun. Jene Theologen fügen hier auch noch Gleichnisse an, um damit die Sache klarer zu machen. Wie die Toga, so sagen sie, die Römer von den Griechen unterschied, die ihren griechischen Mantel trugen, und wie sich zu Rom die Stände untereinander durch die ihnen eigenen Zeichen unterschieden, der Angehörige einer senatorischen Familie von dem Ritter durch den Purpur und die sichelförmige Verzierung an den Schuhen, der Ritter wiederum von dem Mann aus dem gewöhnlichen
Volke durch den Ring – so tragen auch wir unsere Merkzeichen, die uns von den Weltleuten unterscheiden sollen.
Nun geht es aber aus unserer obigen Darlegung mehr als deutlich hervor, daß die Alten (d.h. die Kirchenväter), die den Zeichen den Namen „Sakramente“ beilegten, dabei durchaus keinen Bedacht darauf genommen haben, in welchem Sinne die (nicht kirchlichen) lateinischen Schriftsteller dieses Wort gebrauchten, sondern daß sie, wie es ihnen zuträglich erschien, diese neue Bedeutung an das Wort geheftet haben, um mit ihm einfach auf die heiligen Zeichen hinzuweisen.
Wollen wir unseren Scharfsinn tiefer dringen lassen, so läßt es sich vielleicht so ansehen: wenn die Kirchenväter den Begriff „Sakrament“ so gewendet haben, daß er die genannte Bedeutung bekam, so sind sie dabei genau entsprechend verfahren wie auch bei dem Wort „Glaube“ (fides), so daß es den Sinn bekam, in dem es heute gebraucht wird; denn „Glaube“ bedeutet eigentlich die „Wahrheit“ (= Wahrhaftigkeit) in der Erfüllung von Zusagen; trotzdem aber haben die Alten unter Glauben die Gewißheit oder die sichere Überzeugung verstanden, die man der Wahrheit selbst entgegenbrachte. In der gleichen Weise ist es mit dem Wort „Sakrament“ zugegangen: obwohl es eigentlich den Eidschwur bedeutet, mit dem sich der Soldat seinem Feldherrn angelobt, hat man daraus einen Schwur des Feldherrn gemacht, kraft dessen er die Soldaten in seine Schar aufnimmt. Denn durch die Sakramente verheißt der Herr, er wolle unser Gott sein und wir sollten sein Volk sein.
Aber wir lassen solch spitzfindige Untersuchungen beiseite, da ich mit zureichend deutlichen Gründen bewiesen zu haben glaube, daß die Alten mit ihrer Verwendung von „Sakrament“ nichts anderes im Auge gehabt haben, als zum Ausdruck zu bringen, daß die Sakramente Zeichen von heiligen und geistlichen Dingen sind. Die Gleichnisse von den äußeren Standeszeichen, die jene Leute vorbringen, lassen wir zwar gelten, aber wir dulden es nicht, daß sie das, was bei den Sakramenten an untergeordneter Stelle steht, zum Ersten oder Einzigen an ihnen machen. Das Erste an den Sakramenten aber ist doch das, daß sie unserem Glauben vor Gott dienen, und das Untergeordnete, daß sie unser Bekenntnis vor den Menschen bezeugen. In dem zuletzt genannten Sinne haben die angeführten Gleichnisse ihre Geltung. Unterdessen aber soll jenes erste bestehen bleiben; denn die Sakramente würden, wie wir sahen, sonst bedeutungslos werden, wenn sie nicht Hilfsmittel für unseren Glauben wären und Anhängsel an die Lehre, die dem gleichen Gebrauch und Zweck dienstbar sein sollen (wie diese).
IV,14,14
Umgekehrt müssen wir aber auf folgendes aufmerksam gemacht werden: wie die zuletzt genannten Leute die Kraft der Sakramente schwächen und ihren Gebrauch voll und ganz abschaffen, so stehen auf der entgegengesetzten Seite andere, die den Sakramenten ich weiß nicht was für verborgene Kräfte andichten, von denen man nirgendwo zu lesen bekommt, daß sie von Gott in sie hineingelegt wären. Durch diesen Irrtum werden einfältige und unerfahrene Leute gefährlich betrogen, indem man sie einerseits Gottes Gaben zu suchen lehrt, wo sie durchaus nicht zu finden sind, und sie andererseits nach und nach von Gott abzieht, so daß sie statt seiner Wahrheit lauter Eitelkeit annehmen. So haben nämlich die Schulen der Klüglinge (der Scholastiker) in großer Einmütigkeit die Lehre vertreten, die Sakramente des „neuen Gesetzes“, das heißt die Sakramente, die heutzutage bei der christlichen Kirche in Übung stehen, verschafften uns die Rechtfertigung und gewährten uns die Gnade, wofern wir nicht eine „Todsünde“ begingen und dadurch ihrer Wirkung einen Riegel vorschöben.
Wie todbringend und verderblich diese Meinung ist, das läßt sich gar nicht in Worte fassen, und zwar um so mehr, als sie sich schon vor vielen Jahrhunderten unter großem Schaden für die Kirche in einem wesentlichen Teil des Erdkreises durchgesetzt hat. Jedenfalls ist sie entschieden teuflisch; denn indem sie eine Gerechtigkeit ohne den Glauben verspricht, stürzt sie die Seelen kopfüber ins Verderben hinein, und da sie ferner die Ursache der Gerechtigkeit von den Sakramenten herleitet, so verstrickt sie die armen Menschenseelen, die schon an und für sich mehr als genug auf die Erde gerichtet sind, in den Aberglauben, daß sie sich auf den Anblick einer leiblichen Sache statt auf Gott selbst verlassen. Wollte Gott, daß wir dies beides nicht so genau aus Erfahrung wüßten! So wenig kann jedenfalls die Rede davon sein, daß es etwa eines ausführlichen Beweises bedürfte! Was ist denn ein Sakrament, das man ohne den Glauben empfängt, anders als das völlig sichere verderben der Kirche? Denn von dem Sakrament her ist doch nichts außerhalb der Verheißung zu erwarten, und die Verheißung droht den Ungläubigen nicht weniger den Zorn an, als sie den Gläubigen die Gnade darreicht. Wer also meint, es würde ihm durch die Sakramente mehr zuteil, als was ihm im Worte Gottes dargeboten wird und was er dann mit wahrem Glauben ergreift, der betrügt sich selbst.
Daraus ergibt sich dann auch ein Zweites: die Zuversicht auf das Heil hängt nicht von der Teilnahme am Sakrament ab, als ob darin die Rechtfertigung läge; denn wir wissen, daß die Rechtfertigung allein in Christus beruht und uns nicht weniger durch die Predigt des Evangeliums als durch die Versiegelung mitgeteilt wird, die uns die Sakramente gewähren, und daß sie auch ohne solche Versiegelung vollkömmlich bestehen kann. Insoweit ist es wahr, was auch Augustin schreibt: „Die unsichtbare Heiligung kann ohne das sichtbare Zeichen sein, und auf der anderen Seite kann das sichtbare Zeichen ohne die wahre Heiligung sein“ (Fragen zum Heptateuch III, 84). „Denn die Menschen ziehen“, wie Augustin ebenfalls an anderer Stelle sagt, „Christus bisweilen soweit an, daß sie die Sakramente empfangen, bisweilen auch soweit, daß ihr Leben geheiligt wird. Das erstere kann nun Guten und Bösen gemeinsam sein; das letztere dagegen ist den Guten und Frommen (allein) eigen“ (Von der Taufe gegen die Donatisten V,24,34).
IV,14,15
Daher kommt auch – wenn man sie recht versteht – die von dem nämlichen Augustin häufig vermerkte Unterscheidung zwischen dem Sakrament und der von dem Sakrament bezeichneten Sache (res sacramenti). Denn diese gibt nicht nur zu verstehen, daß Bild und Wahrheit vom Sakrament miteinander umschlossen werden, sondern auch, daß sie nicht so sehr miteinander zusammenhängen, daß sie nicht getrennt werden könnten, und daß auch in der Verbundenheit selbst stets die Sache von dem Zeichen unterschieden werden muß, damit wir nicht auf das eine übertragen, was dem anderen eigen ist.
Von der Trennung (von Zeichen und Sache) spricht er, wenn er schreibt, die Sakramente bewirkten das, was sie abbilden, allein in den Auserwählten. Ebenso spricht er von der Trennung, indem er sich über die Juden folgendermaßen ausläßt: „Obgleich die Sakramente allen gemeinsam waren, so war doch die Gnade nicht allen gemein – und sie ist doch die Kraft der Sakramente! Ebenso ist auch heute das Bad der Wiedergeburt (Tit. 3,5) allen gemeinsam; aber die Gnade selbst, vermöge deren die Glieder Christi mit ihrem Haupte wiedergeboren werden, ist nicht allein gemeinsam“ (zu Ps. 77,2). Wiederum schreibt er an anderer Stelle über das Abendmahl des Herrn: „Auch wir empfangen heute eine sichtbare Speise; aber das Sakrament ist etwas anderes als die Kraft des Sakraments. Wie kommt es, daß viele das Sakrament vom Altar empfangen und doch sterben, ja, daß sie durch den Empfang des Sakraments sterben? Denn auch der Bissen, den der Herr dem Judas gab,
wurde diesem zum Gift, und zwar nicht, weil Judas etwas Böses erhalten hätte, sondern weil er als Böser das Gute übel empfing“ (Predigten zum Johannesevangelium 26,11). Etwas nachher schreibt er: „Das Sakrament, das diese Sache meint, nämlich die Einheit am Leibe und Blute Christi, wird mancherorten alle Tage, mancherorten auch in bestimmten Zeitabständen auf dem Tisch des Herrn bereitet, und vom Tisch empfangen es einige zum Leben, andere zum Verderben. Die Sache selbst aber, deren Sakrament (und Zeichen) es ist, gereicht allen, die ihrer teilhaftig geworden sind, zum Leben und keinem zum Verderben“ (Predigten zum Johannesevangelium 26,15). Etwas vorher hatte er gesagt: „Wer davon gegessen hat, der wird nicht sterben – das ist aber der, der zu der Kraft des Sakraments gehört, nicht zum sichtbaren Sakrament, der es innerlich ißt, nicht äußerlich, der es mit dem Herzen ißt, und nicht der, der es mit den Zähnen zerdrückt“ (Predigten zum Johannesevangelium 26,12). Hier bekommen wir allenthalben zu hören: das Sakrament wird durch die Unwürdigkeit dessen, der es empfängt, dergestalt von seiner Wahrheit abgetrennt, daß nichts übrigbleibt als ein leeres und nutzloses Bild. Damit man nun nicht ein Zeichen hat, das der Wahrheit entledigt ist, sondern vielmehr die Sache mitsamt dem Zeichen, muß man das Wort, das darin eingeschlossen ist, im Glauben ergreifen. In dem Maße also, als man durch die Sakramente in der Gemeinschaft mit Christus weiterkommt, wird man aus ihnen Nutzen ziehen.
IV,14,16
Wenn diese Darlegungen um ihrer Kürze willen noch zu unklar sind, so will ich sie noch mit mehr Worten ausführen. Ich behaupte: Christus ist die Materie oder, wenn man es so lieber will, die Substanz aller Sakramente; denn all ihren Bestand haben sie in ihm, und außer ihm verheißen sie nichts. Um so weniger ist der Irrtum des Petrus Lombardus zu ertragen, der die Sakramente ausdrücklich für die Ursache der Gerechtigkeit und Seligkeit erklärt, von denen sie (doch tatsächlich) Teile sind (Sentenzen IV,1,5). Wir sollen daher billigerweise alle Ursachen fahrenlassen, die sich der Verstand des Menschen erdichtet, und uns bei dieser einzigen (nämlich bei Christus) festhalten lassen. Soweit uns also der Dienst der Sakramente dazu verhilft, daß einerseits die wahre Erkenntnis Christi in uns erhalten, gefestigt und gemehrt werde, und wir andererseits ihn völliger besitzen und seine Reichtümer genießen, soweit geht ihre Wirkung an uns. Das geschieht aber, wenn wir das, was uns in den Sakramenten dargeboten wird, in wahrem Glauben annehmen.
Bringen es nun also die Gottlosen, so wird man fragen, mit ihrer Undankbarkeit fertig, daß Gottes Anordnung ihre Geltung einbüßt und zunichte wird? Ich antworte darauf: was ich gesagt habe, ist nicht so zu verstehen, als ob die Kraft oder die Wahrheit des Sakraments von dem Zustand oder auch von dem Gutdünken dessen abhängig wäre, der es empfängt. Denn was Gott eingerichtet hat, das bleibt fest bestehen und behält seine Natur bei, wie sehr sich auch die Menschen verändern mögen. Aber Anbieten und Annehmen sind zwei verschiedene Dinge, und deshalb steht dem nichts entgegen, daß das Merkzeichen, das durch das Wort des Herrn geheiligt ist, mit der Tat ist, was es dem Namen nach sein soll, und daß es seine Kraft behält – während doch aus ihm für einen nichtsnutzigen und gottlosen Menschen keinerlei Nutzen erwächst. Aber diese Frage löst Augustin mit wenigen Worten tadellos; er sagt: „Wenn du es fleischlich empfängst, so hört es nicht auf, geistlich zu sein – aber für dich ist es nicht geistlich.“
Wie er aber an den oben angegebenen Stellen darlegt, daß das Sakrament eine Sache ohne jeglichen Belang ist, wenn es von seiner Wahrheit getrennt wird (vgl. Predigten zum Johannesevangelium 26,11f.15; vorige Sektion), so macht er anderwärts darauf aufmerksam, daß auch bei der Verbindung von Zeichen und Sache eine Unterscheidung notwendig ist, damit wir an dem äußeren Zeichen nicht
allzu fest hängen bleiben. „Wie es von knechtischer Schwäche zeugt“, sagt er, „dem Buchstaben anzuhängen und Zeichen für die Dinge zu nehmen, so ist es auch ein Zeichen von übel umschweifendem Irrtum, die Zeichen nutzlos auszulegen“ (Von der christlichen Unterweisung III,9). Er nennt zwei Fehler, die es zu vermeiden gilt; der eine besteht darin, daß wir die Zeichen so auffassen, als ob sie umsonst gegeben wären, und dann in unserer Bosheit ihre verborgenen Bedeutungen verkleinern oder herabsetzen und dadurch bewirken, daß sie uns keine Frucht zutragen; den anderen Fehler begehen wir dann, wenn wir unsere Sinne nicht über das sichtbare Zeichen hinaus in die Höhe erheben und damit auf das Zeichen den Lobpreis für die Güter übertragen, die uns einzig und allein von Christus gewährt werden, und zwar durch den Heiligen Geist, der uns Christi selbst teilhaftig macht. Dies Werk (des Heiligen Geistes) geschieht nun unter Beihilfe der äußeren Zeichen; werden diese aber, wo sie uns doch zu Christus einladen, in eine andere Richtung gedreht, so wird ihr gesamter Nutzen schmachvoll abgeschafft.
IV,14,17
Deshalb muß es fest stehen bleiben, daß die Sakramente keine andere Aufgabe haben als das Wort Gottes. Diese Aufgabe besteht darin, uns Christus darzubieten und vor Augen zu stellen und in ihm alle Schätze der himmlischen Gnade. Die Sakramente gewähren und nutzen uns aber nichts, wenn sie nicht im Glauben empfangen werden. Ich will ein Beispiel bilden: man kann Wein oder Wasser oder sonst irgendeine Flüssigkeit reichlich ausgießen, so wird doch alles verfließen und verlorengehen, wenn die Mündung des Gefäßes nicht offen ist, und das Gefäß selbst wird dann wohl um und um übergossen sein, aber doch leer und hohl bleiben.
Außerdem müssen wir uns noch hüten, nicht in einen anderen Irrtum zu verfallen, der dem eben genannten ähnlich ist: dazu könnten uns nämlich die ein wenig zu großartigen Äußerungen verführen, die bei den Alten geschrieben stehen, um die Würde der Sakramente zu verherrlichen. Dieser Irrtum würde darin bestehen, daß wir der Meinung wären, an die Sakramente sei irgendeine verborgene Kraft geknüpft oder angeheftet, vermöge deren sie uns aus sich selbst heraus die Gnadengaben des Heiligen Geistes zuteil werden lassen könnten, so wie man Wein im Milchkrug reicht. Tatsächlich aber ist ihnen von Gott nur dies eine Amt aufgetragen worden, uns Gottes Freundlichkeit gegen uns zu bezeugen und zu bekräftigen, und sie können uns nicht weiter von Nutzen sein als allein, wenn der Heilige Geist hinzutritt, der unseren Verstand und unser Herz öffnet und für solches Zeugnis auffassungsfähig macht. Da leuchten dann auch die mannigfaltigen und verschiedenen Gaben Gottes strahlend auf. Denn die Sakramente sind, wie ich bereits oben andeutete, für uns von Gott her das, was von den Menschen her die Boten fröhlicher Geschehnisse sind oder die Pfänder bei der Bekräftigung von Bündnissen; denn sie gewähren uns zwar aus sich selbst heraus nicht irgendwelche Gnade, sondern machen das, was uns aus Gottes Freigebigkeit geschenkt ist, bekannt, weisen darauf hin und, da sie ja Pfänder und Kennzeichen sind, bekräftigen sie es bei uns. Der Heilige Geist, den die Sakramente nicht etwa unterschiedslos allen zutragen, sondern den der Herr den Seinen insonderheit zuteil werden läßt, der ist es, der Gottes Gnadengaben mit sich bringt, der den Sakramenten in uns Raum schafft, und der es bewirkt, daß sie Frucht tragen.
Freilich leugnen wir nicht, daß Gott selbst mit der wirksamsten Kraft seines Geistes seiner Stiftung zur Seite steht, damit die von ihm verordnete Austeilung der Sakramente nicht unfruchtbar und eitel ist. Aber wir behaupten doch, daß die innerliche Gnade des Geistes, die ja von dem äußerlichen Amt unterschieden ist, dementsprechend auch für sich beachtet und bedacht werden muß. Gott gewährt also in Wahrheit alles, was er in den Zeichen verheißt und
bildlich darstellt, und die Zeichen bleiben nicht ohne Wirkung, damit es sich erweist, daß ihr Geber wahrhaftig und treu ist. Es geht hier nur um die Frage, ob Gott aus seiner eigenen oder, wie man sagt, aus der ihm innewohnenden Kraft heraus wirkt – oder ob er den äußeren Merkzeichen seine Stellvertretung überläßt. Wir behaupten nun aber, daß er, welche Werkzeuge er auch anwenden mag, doch von seinem alles begründenden Wirken keineswegs Abstand nimmt.
Wenn man in dieser Weise über die Sakramente lehrt, dann wird ihre Würde herrlich gepriesen, ihr Gebrauch deutlich angezeigt, ihr Nutzen überreich verherrlicht - und zugleich bei dem allem das beste Maß innegehalten, so daß ihnen nichts beigelegt wird, das ihnen nicht billig zukommt, und ihnen auch andererseits nichts abgesprochen wird, was ihnen gehört. Damit wird auch jenes Hirngespinst abgetan, bei dem die Ursache der Rechtfertigung und die Kraft des Heiligen Geistes in die Elemente wie in Gefäße oder Wagen eingeschlossen wird – und es wird zugleich jene vornehmste Kraft der Sakramente, die andere Leute beiseite gelassen haben, ausdrücklich dargelegt.
Hier müssen wir auch noch bemerken, daß das, was der Diener (am Wort) in seiner äußerlichen Handlung abbildet und bezeugt, von Gott selbst im Inneren gewirkt wird, damit nicht das, was er sich für sich allein vorbehält, auf einen sterblichen Menschen übertragen werde. Darauf macht in verständiger Weise auch Augustin aufmerksam; er sagt: „Wie kann es kommen, daß Mose heiligt – und auch Gott? Mose tut es nicht an Gottes Statt. Nein, er handelt mit sichtbaren Sakramenten durch seinen Dienst, Gott aber in unsichtbarer Gnade durch den Heiligen Geist, und darin liegt auch die ganze Frucht der sichtbaren Sakramente. Denn was sollen die wohl nützen ohne solche Heiligung durch die unsichtbare Gnade?“ (Fragen zum Heptateuch III,84).
IV,14,18
Der Begriff „Sakrament“ umfaßt in dem Sinne, wie wir ihn bisher dargelegt haben, allgemein sämtliche Zeichen, die Gott je den Menschen aufgetragen hat, um sie der Wahrheit seiner Verheißungen gewiß und sicher zu machen. Zuweilen haben diese Zeichen nun nach seinem Willen in natürlichen Dingen bestanden, zuweilen hat er sie auch in Wundern an den Tag gebracht.
Beispiele für die erste Art sind unter anderem folgende Geschehnisse. Gott gab dem Adam und der Eva den „Baum des Lebens“ zum Unterpfand der Unsterblichkeit, damit sie sich auf solche Unsterblichkeit unbekümmert Hoffnung machten, solange sie von der Frucht dieses Baumes aßen (Gen. 2,9; 3,22). Für Noah und seine Nachkommen stellte er den Regenbogen als ein Denkzeichen dafür auf, daß er fernerhin die Erde nicht wieder durch eine Sintflut verwüsten wollte (Gen. 9,13). Diese Zeichen sind für Adam und Noah Sakramente gewesen. Nicht, daß der Baum ihnen die Unsterblichkeit gewährt hätte, die er sich doch selbst nicht zu geben vermochte, oder daß der Regenbogen, der bloß ein Widerschein des Sonnenscheins an gegenüberliegenden Wolken ist, in der Lage gewesen wäre, die Wassermassen zurückzuhalten. Nein, es waren Sakramente, weil beide ein Zeichen trugen, das durch Gottes Wort in sie eingegraben war, damit sie Beweise und Siegel der Bundschlüsse Gottes wären. Auch war zuvor der Baum ein Baum und der Bogen ein Bogen; als sie aber von Gottes Wort gezeichnet waren, da wurde ihnen eine neue Gestalt zuteil, so daß sie nun anfingen, etwas zu sein, was sie vorher nicht gewesen waren. Damit nicht jemand meint, dies werde umsonst ausgesprochen, so ist der Bogen auch heute noch, für uns, ein Zeuge des Bundes, den der Herr mit Noah geschlossen hat, und sooft wir ihn anschauen, lesen wir an ihm die Verheißung Gottes, daß die Erde nie durch eine Sintflut untergehen soll. Wenn also irgendein Scheinphilosoph die Einfalt unseres Glaubens verlachen will und dazu die Behauptung aufstellt, daß solche Vielheit von Farben auf natürliche Weise aus dem Widerschein von Strahlen und einer gegenüberliegenden Wolke
entstünde, so wollen wir das wohl gelten lassen – aber wir lachen nun unsererseits über seinen Stumpfsinn, der Gott nicht als den Herrn und Lenker der Natur erkennt, der alle Elemente nach seinem Ermessen zur Dienstleistung an seiner Herrlichkeit benutzt. Wenn er der Sonne, den Sternen, der Erde und den Steinen solche Denkzeichen aufgeprägt hätte, dann wären sie alle für uns Sakramente. Denn weshalb ist rohes und gemünztes Silber nicht von gleichem Werte, obgleich es doch (in beiden Fällen) das nämliche Metall ist? Eben deshalb nicht, weil das rohe Silber nichts besitzt als seine Natur, das Silber dagegen, das mit dem amtlichen Prägestempel geschlagen ist, eine Münze wird und eine neue Bewertung empfängt. Und dann sollte Gott nicht in der Lage sein, seine Geschöpfe mit seinem Wort zu zeichnen, so daß sie zu Sakramenten werden, während sie zuvor bloße Elemente waren?
Beispiele für die zweite Gruppe von Zeichen waren es, als Gott dem Abraham an einem rauchenden Ofen einen Feuerschein zeigte (Gen. 15,17), als er, um dem Gideon den Sieg zu verheißen, das Fell mit Tau befeuchtete, während die Erde trocken blieb, und wiederum die Erde mit Tau bedeckte, während das Fell unberührt blieb (Richt. 6,37f.), und als er den Schatten der Sonnenuhr zehn Strich rückwärts gehen ließ, um dem Hiskia die Verheißung zu geben, daß er gesund werden sollte (2. Kön. 20,9-11; Jes. 38,7). Da diese Ereignisse geschahen, um der Schwachheit des Glaubens dieser Menschen Hilfe und Festigung zu verleihen, so waren auch sie Sakramente.
IV,14,19
Jedoch ist es die Aufgabe der hier geführten Erörterung, in besonderer Weise auf jene Sakramente einzugehen, die nach dem Willen des Herrn in seiner Kirche in regelmäßigem Gebrauch stehen sollen, um seine Diener und Knechte zu einem Glauben und zum Bekenntnis dieses einen Glaubens heranzufordern. „Denn“ – um Augustins Worte zu gebrauchen – „die Menschen können zu keinerlei Religion, sie sei nun wahr oder falsch, zusammenwachsen, wenn sie nicht durch ein gemeinsames Teilhaben an sichtbaren Zeichen miteinander verbunden werden“ (Gegen den Manichäer Faustus XIX,11). Da unser herrlicher Vater also diese Notwendigkeit vorsah, so hat er seit Anbeginn für seine Knechte bestimmte Übungen der Frömmigkeit eingerichtet. Diese hat dann der Satan auf gottlose und abergläubische Gottesdienste übertragen und damit in vielfältiger Weise entstellt und verdorben. Hierher kommen die Handlungen, mit denen die Heiden in ihre heiligen Dinge eingeweiht wurden, und auch die übrigen entarteten Gebräuche, die zwar von Irrtum und Aberglauben erfüllt, aber doch zugleich auch selbst ein Zeichen dafür waren, daß die Menschen bei dem Bekenntnis einer Religion solcher Zeichen nicht entraten können. Aber weil sich diese Bräuche nicht auf das Wort Gottes stützten und auch keine Beziehung zur Wahrheit fanden, die doch allen Zeichen als Ziel vorschweben muß, so sind sie nicht würdig, Erwähnung zu finden, wo man der heiligen Merkzeichen gedenkt, die von Gott eingerichtet und von ihrem Fundament nicht abgewichen sind, das heißt davon, daß sie Hilfsmittel für die wahre Frömmigkeit darstellen sollten.
Diese bestehen nun nicht in einfachen Zeichen, wie es der Regenbogen und der Baum (des Lebens) waren, sondern in Zeremonien; oder, wenn man es so lieber will: die Zeichen, die hier gegeben werden, sind Zeremonien. Und ebenso wie sie nach unserer obigen Darlegung von dem Herrn aus Zeugnisse der Gnade und des Heils sind, so sind sie wiederum von uns aus Merkzeichen unseres Bekenntnisses, mit denen wir öffentlich auf Gottes Namen schwören und unsererseits unsere Treue an ihn binden. Es ist daher treffend, wenn Chrysostomus diese Zeichen an einer Stelle (vertragliche) Versprechungen nennt, in denen uns einerseits Gott mit sich verbündet und wir uns andererseits zur Reinheit und Heiligkeit unseres Lebens verpflichten. Denn es wird ja hier tatsächlich zwischen Gott und uns eine gegenseitige Vertragsbindung aufgerichtet. Wie hier
nämlich der Herr verheißt, daß er alles durchstreichen und tilgen will, was wir uns durch unsere Verfehlungen an Schuld und Strafe zugezogen haben, und wie er uns in seinem eingeborenen Sohne mit sich versöhnt, so leisten wir ihm andererseits durch dies Bekenntnis die Verpflichtung zum Trachten nach Frömmigkeit und Unschuld. Man kann also mit gutem Grunde sagen, daß die Sakramente solche Zeremonien sind, durch die Gott sein Volk zum ersten darin üben will, den Glauben im Inneren zu nähren, zu erwecken und zu bekräftigen, und zum zweiten, seine Religion auch vor den Menschen zu bekennen.
IV,14,20
Diese Sakramente waren auch je nach den verschiedenen Zeitumständen verschieden, gemäß der Ordnung, in der es dem Herrn gefallen hat, sich bald auf die eine, bald auf die andere Weise den Menschen kundzugeben.
So ist dem Abraham und seiner Nachkommenschaft die Beschneidung aufgetragen worden (Gen. 17,10), und zu ihr kamen dann später Reinigungen, Opfer und andere Gebräuche auf Grund des mosaischen Gesetzes hinzu (Lev. 11-15; Lev. 1-10). Dies waren die Sakramente der Juden bis zum Kommen Christi.
Durch das Kommen Christi sind sie abgeschafft worden, und nun wurden zwei Sakramente eingerichtet, die heute bei der christlichen Kirche in Übung stehen, nämlich die Taufe und das Abendmahl des Herrn (Matth. 29,19; 26,26-28). Ich spreche nun hier von den Sakramenten, die dazu eingerichtet sind, von der gesamten Kirche geübt zu werden. Denn ich lasse es zwar nicht ungern gelten, daß man auch die Handauflegung, mit der die Diener der Kirche in ihr Amt eingewiesen werden, als Sakrament bezeichnet, aber ich zähle sie doch nicht zu den ordentlichen Sakramenten. Welche Bedeutung man aber den übrigen „Sakramenten“ geben soll, die man allgemein als solche aufzählt, das werden wir bald sehen.
Allerdings bezogen sich auch jene alten Sakramente auf den gleichen Richtpunkt, dem heute die unsrigen dienstbar sind: sie sollten nämlich zu Christus führen und geradezu bei der Hand zu ihm hinleiten, oder besser: sie sollten ihn gleich Bildern vergegenwärtigen und ihn kundmachen, damit er erkannt würde. Denn wir haben ja schon zuvor dargetan, daß die Sakramente gewissermaßen Siegel darstellen, mit denen die Verheißungen Gottes versiegelt werden, und es ist ferner völlig sicher, daß den Menschen nie irgendeine Verheißung Gottes zuteil geworden ist als allein in Christus (2. Kor. 1,20); sollen uns also die Sakramente von irgendeiner Verheißung Gottes Kunde geben, so müssen sie uns notwendig Christus zeigen! Hier ist jenes himmlische Urbild der Hütte und des im Gesetz vorgeschriebenen Gottesdienstes zu nennen, das dem Mose auf dem Berge vor Augen gehalten wurde (Ex. 25,9.40; 26,30). Zwischen den Sakramenten des Alten und denjenigen des Neuen Bundes besteht nur der eine Unterschied, daß jene den verheißenen Christus andeuteten, als er noch erwartet wurde, diese dagegen Christus als den bezeugen, der uns bereits gewährt und offenbart ist.
IV,14,21
Wenn diese Dinge Stück für Stück und in ihren Einzelheiten erklärt sind, so werden sie viel deutlicher werden.
Die Beschneidung war für die Juden ein Merkzeichen, das sie darauf aufmerksam machen sollte, daß alles, was aus dem Samen des Menschen hervorgeht, das heißt die gesamte Natur des Menschen, verderbt ist und des Beschneidens bedarf; zudem war sie ein Beweis und ein Erinnerungszeichen, mit dem sie sich in der Verheißung stärken sollten, die dem Abraham gegeben war, der Verheißung von dem gesegneten Samen, in dem „alle Völker auf Erden gesegnet werden“ sollten (Gen. 22,16), und von dem sie ja auch für sich selbst ihren Segen erwarten durften. Dieser heilbringende Same war aber nun, wie wir von Paulus gelehrt werden, Christus (Gal. 3,16), in dem allein sie wiederzuerlangen hofften, was sie in Adam verloren hatten. Die Beschneidung war also für sie das, was sie nach der Lehre des Paulus
für Abraham gewesen ist, nämlich ein „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“ (Röm. 4,11), das heißt: ein Siegel, vermöge dessen sie gewisser darin bestärkt werden sollten, daß ihnen ihr Glaube, mit dem sie jenen Samen erwarteten, von Gott für Gerechtigkeit gerechnet wurde. Wir werden aber den Vergleich zwischen Beschneidung und Taufe an anderer Stelle bei besserer Gelegenheit weiter verfolgen.
Waschungen und Reinigungen führten den Menschen des Alten Bundes ihre Unreinheit, Unflätigkeit und Beflecktheit vor Augen, mit der sie in ihrer Natur, besudelt waren; sie sagten ihnen aber auch ein anderes Bad zu, durch das all ihr Schmutz abgewischt und fortgewaschen werden sollte (Hebr. 9,10.14). Dies neue Bad nun war Christus, und durch sein Blut reingewaschen (1. Joh. 1,7; Apk. 1,5) tragen wir seine Reinheit vor Gottes Angesicht, damit es all unsere Befleckung bedeckt.
Die Opfer überführten die Alten von ihrer Ungerechtigkeit und lehrten sie zugleich, daß irgendeine Genugtuung erforderlich sei, kraft deren dem Urteil Gottes Genüge geleistet würde. Sie erfuhren hier also, daß ein oberster Priester kommen werde, ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Gott durch das Vergießen seines Blutes und durch die Darbietung eines Opfers, das zur Vergebung der Sünden hinreichte, Genugtuung verschaffte. Dieser oberste Priester war Christus (Hebr. 4,14; 5,5; 9,11): er vergoß sein eigenes Blut, er war selbst das Opfer; denn er erwies sich dem Vater gehorsam bis in den Tod (Phil. 2,8) und hat durch diesen Gehorsam den Ungehorsam des Menschen abgetan, der Gottes Zorn hervorgerufen hatte (Röm. 5,19).
IV,14,22
Was nun unsere (heutigen) Sakramente betrifft, so bieten sie uns Christus um so klarer dar, als er ja den Menschen auch näher offenbart ist, seitdem er vom Vater in Wahrheit so dargezeigt worden ist, wie er verheißen war. Denn die Taufe bezeugt uns, daß wir gereinigt und abgewaschen sind, und das Heilige Abendmahl, daß wir erlöst sind. Im Wasser wird die Abwaschung bildlich dargestellt, im Blute die Genugtuung. Dies beides findet man in Christus, der, wie Johannes sagt, gekommen ist „mit Wasser und Blut“ (1. Joh. 5,6), das heißt: der gekommen ist, um zu reinigen und zu erlösen. Dafür ist auch der Geist Gottes Zeuge. Ja, es sind drei, die es zusammen bezeugen, das Wasser, das Blut und der Geist (1. Joh. 5,7f.). Im Wasser und im Blute haben wir das Zeugnis unserer Reinigung und unserer Erlösung, der Geist aber gibt uns als der oberste Zeuge die Gewißheit des Glaubens an solches Zeugnis. Dies erhabene Geheimnis ist uns herrlich (in jenem Geschehnis) am Kreuze Christi vor Augen gestellt, als Wasser und Blut aus seiner heiligen Seite flossen (Joh. 19,34), die Augustin aus diesem Grunde auch mit Recht den Brunnquell unserer Sakramente genannt hat (Predigten zum Johannesevangelium 120,2; zu Psalm 40,10; zu Psalm 126,7; zu Psalm 138,2; Predigt 5,3).
Von diesen unseren Sakramenten aber müssen wir noch ein wenig ausführlicher sprechen. Daß sich hier auch die Gnade des Geistes reichlicher bezeugt (als bei den alten Sakramenten), das ist, wenn man Zeit mit Zeit vergleicht, keinem Zweifel unterworfen. Denn das gehört zur Herrlichkeit des Reiches Christi, wie wir es aus vielen Stellen, insbesondere aus dem siebenten Kapitel des Evangeliums Johannis entnehmen (Joh. 7,38f.). In diesem Sinne muß man auch das Wort des Paulus verstehen, unter dem Gesetz hätten „Schatten“ bestanden, in Christus dagegen sei der. „Körper“ (Kol. 2,17). Er hat an dieser Stelle nicht die Absicht, die Zeugnisse der Gnade, mit denen sich Gott vorzeiten den Vätern gegenüber als der Wahrhaftige erweisen wollte, genau wie heute uns gegenüber in der Taufe und im Heiligen Abendmahl, ihrer Wirkung zu entledigen, sondern er will im Wege des Vergleichs das rühmen, was uns gegeben ist, damit sich niemand
darüber verwundert, daß durch Christi Kommen die Zeremonien des Gesetzes abgeschafft sind.
IV,14,23
Die scholastische Lehrmeinung aber – um auch die noch im Vorbeigehen zu berühren –, nach der zwischen den Sakramenten des „alten“ und denen des „neuen Gesetzes“ ein so großer Unterschied bestehen soll, als ob jene die Gnade Gottes bloß angedeutet hätten, diese sie dagegen als gegenwärtig darböten, ist voll und ganz zu verwerfen. Denn wenn Paulus lehrt, die Väter hätten mit uns die gleiche geistliche Speise gegessen, und wenn er erläuternd erklärt, diese Speise sei Christus (1. Kor. 10,5), so spricht er von dem Sakrament des Alten Bundes ebenso machtvoll wie von den heutigen. Wer wollte es auch wagen, jenes Zeichen für inhaltlos zu erklären, das doch den Juden die wahre Gemeinschaft mit Christus darbot? Auch streitet der Stand der Erörterung, die Paulus an dieser Stelle führt, völlig klar für uns. Denn Paulus will verhindern, daß es jemand im Vertrauen auf eine wesenlose Erkenntnis Christi, auf den leeren Namen des Christentums und auf die äußerlichen Zeichen wagt, Gottes Urteil zu verachten. Dazu bringe er die Beweise göttlicher Strenge vor, die sich an den Juden sehen lassen: wir sollen eben wissen, daß die gleichen Strafen, die sie haben über sich ergehen lassen müssen, auch uns drohen, wenn wir uns den gleichen Lastern hingeben. Damit nun aber der Vergleich paßte, mußte er zeigen, daß hinsichtlich der Güter, deren wir uns nach seiner Weisung nicht fälschlich rühmen sollen, zwischen uns und den Juden keine Ungleichartigkeit besteht. Daher erklärt er zunächst, daß sie uns in den Sakramenten gleich sind, und läßt uns nicht ein Stückchen eines Vorrechts übrig, das uns etwa zu der Hoffnung Mut machen könnte, wir würden (im Falle solcher Verachtung des Gerichts Gottes) ungestraft bleiben. Auch dürfen wir ja unserer Taufe nicht mehr zuschreiben, als Paulus an anderer Stelle der Beschneidung beigelegt hat, indem er sie ein „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“ nennt (Röm. 4,11). Alles also, was uns heute in den Sakramenten dargeboten wird, das empfingen vorzeiten die Juden in den ihrigen, nämlich Christus mit seinen geistlichen Reichtümern. Die Kraft, die unsere Sakramente haben, die empfanden sie auch in den ihrigen, nämlich, daß sie ihnen als Siegel des göttlichen Wohlwollens gegen sie dienten, zur Hoffnung auf die ewige Seligkeit. Wären die Scholastiker geschickte Ausleger des Briefes an die Hebräer gewesen, so wären sie nicht dermaßen in Wahngebilde verfallen; tatsächlich aber haben sie nun in diesem Brief gelesen, mit den Zeremonien des Gesetzes seien die Sünden nicht gesühnt worden, ja, die alten Schatten hätten keinerlei Bedeutung für die Gerechtigkeit (Hebr. 10,1), und dann haben sie den Vergleich, der dort zur Verhandlung steht, beiseite gelassen, nur den einen Satz an sich gerissen, daß das Gesetz seinen Dienern aus sich heraus keinen Nutzen gebracht hat – und darüber die Meinung gewonnen, es habe sich da einfach um Bilder, gehandelt, die an Wahrheit leer gewesen wären. Die Absicht des Apostels dagegen ist es, dem Zeremonialgesetz jeglichen Wert abzusprechen, bis man zu Christus kommt, auf dem allein seine ganze Wirkkraft beruht.
IV,14,24
Die Scholastiker halten uns aber die Worte entgegen, die bei Paulus über die Beschneidung des Buchstabens zu lesen stehen, nämlich, daß sie vor Gott keinen Wert habe, keinen Nutzen bringe und eitel sei (Röm. 2,25; 1. Kor. 7,19; Gal. 6,15). Solche Aussagen scheinen die Beschneidung doch tief unter unsere Taufe hinabzudrücken. Ich antworte darauf: nein, durchaus nicht. Denn das nämliche hätte mit Recht auch von der Taufe gesagt werden können. Ja, es wird tatsächlich von ihr gesagt, und zwar zuerst von Paulus selbst, indem er darlegt, daß sich Gott um die äußerliche Abwaschung, durch die wir unsere Aufnahme in die Religion empfangen, keineswegs kümmert, wenn nicht unser Herz innerlich gereinigt wird und auch bis zum Äußersten in solcher Reinheit verharrt (1. Kor.
10,5). Zum Zweiten wird es auch von Petrus ausgesprochen, indem dieser bezeugt, daß die Wahrheit der Taufe nicht in der äußerlichen Abwaschung liegt, sondern in dem Zeugnis eines guten Gewissens (1. Petr. 3,21).
Aber – so wendet man ein – Paulus scheint doch außerdem an anderer Stelle die mit der Hand vollzogene Beschneidung voll und ganz zu verachten, indem er sie (zu ihrem Nachteil) mit der Beschneidung Christi vergleicht (Kol. 2,11). Ich antworte darauf, daß auch an dieser Stelle der Würde der Beschneidung keinerlei Eintrag geschieht. Paulus streitet hier gegen solche Leute, die die Beschneidung gleichsam als notwendig verlangten, während sie doch bereits abgeschafft war. Daher ermahnt er die Gläubigen, sie sollten die alten Schatten fahrenlassen und fest bei der Wahrheit beharren. Jene Lehrmeister, so sagt er, drängen darauf, daß eure Leiber beschnitten werden. Ihr aber seid geistlich beschnitten, nach Seele und Leib. Ihr habt also die Offenbarung der Sache – und die ist weit wichtiger als der Schatten! Nun hätte aber demgegenüber jemand einwenden können: wenn sie auch die Sache hätten, so sei deshalb doch das Bild nicht zu verachten; denn auch bei den Vätern hätte es jene Ablegung des alten Menschen gegeben, von der das Bild redete, und trotzdem sei für sie die äußerliche Beschneidung nicht überflüssig gewesen. Diesem Einwand kommt Paulus zuvor, indem er gleich hinzufügt, die Kolosser seien durch die Taufe mit Christus begraben (Kol. 2,12). Damit gibt er zu verstehen, daß die Taufe heute für die Christen das darstellt, was für die Alten die Beschneidung war, und daß deshalb die Beschneidung den Christen nicht auferlegt werden kann, ohne daß der Taufe Unrecht widerfährt.
IV,14,25
Weit schwieriger zu lösen ist dagegen die Frage, die uns durch eine dann folgende Stelle aufgegeben wird, die ich auch bereits angeführt habe; da heißt es nämlich, alle jüdischen Zeremonien seien „Schatten von dem“ gewesen, „das zukünftig war“, der „Körper selbst“ dagegen sei „in Christo“ (Kol. 2,17). Bei weitem am schwersten klarzustellen ist jedoch das, was in vielen Kapiteln des Briefes an die Hebräer verhandelt wird: da lesen wir, das Blut der Tiere habe die Gewissen nicht berührt (Hebr. 9,12f.), das Gesetz habe „den Schatten von den zukünftigen Gütern“ gehabt, nicht aber das Bild der Dinge selbst (Hebr. 10,1; 8,5), die Diener des Gesetzes hätten aus den von Mose eingesetzten Zeremonien keinerlei Vollkommenheit erlangt (Hebr. 7,19; 9,9; 10,1), und dergleichen mehr. Hier wiederhole ich nun, was ich bereits angedeutet habe: Paulus erklärt die Zeremonien nicht deshalb für schattenhaft, weil sie nichts Festes hätten, sondern weil ihre Erfüllung bis zur Offenbarung Christi gleichsam in der Schwebe war. Ferner behaupte ich, daß jene Stelle (Kol. 2,17) nicht im Blick auf die Wirkkraft der Zeremonien zu verstehen ist, sondern vielmehr im Blick auf die Art des in ihnen liegenden Hinweises. Denn ehe Christus im Fleische geoffenbart war, deuteten ihn alle Zeichen gleichsam als abwesend schattenhaft an, obwohl er den Gläubigen innerlich die Gegenwärtigkeit seiner Kraft, ja, seiner selbst zu erkennen gab. Vor allem aber muß man darauf achten, daß Paulus an allen diesen Stellen nicht beziehungslos redet, sondern im Zuge einer Auseinandersetzung; denn er hatte mit falschen Aposteln zu kämpfen, die der Meinung waren, allein in den Zeremonien liege die Frömmigkeit, ohne jede Rücksicht auf Christus; zur Widerlegung solcher Leute war es also genug, wenn er bloß der Frage nachging, was die Zeremonien an und für sich für einen Wert hätten. Dem gleichen Richtpunkt ist auch der Verfasser des Briefes an die Hebräer gefolgt.
Wir wollen also bedenken, daß die Erörterung sich hier nicht um die Zeremonien dreht, sofern sie in ihrer wahren, ursprünglichen Bedeutung verstanden werden, sondern vielmehr, sofern sie im Sinne einer falschen und verkehrten Auslegung verdreht sind; es geht hier nicht um den rechtmäßigen Gebrauch der Zeremonien, sondern um den Mißbrauch, den der
Aberglaube mit ihnen treibt. Was soll also verwunderliches daran sein, wenn die Zeremonien bei solcher Absonderung von Christus jeglicher Kraft verlustig gehen? Denn alle und jegliche Zeichen werden nichtig, wenn man die Sache wegnimmt, auf die sie hinweisen. Als Christus es einmal mit Menschen zu tun hatte, die da meinten, das Manna sei nichts anderes gewesen, als eine Speise für den Leib, da paßte er deshalb seine Worte an deren grobe Meinung an und sagte, er gebe durch seinen Dienst eine bessere Speise, welche die Seelen zur Hoffnung auf die Unsterblichkeit nährte (Joh. 6,27).
Will man eine klarere Lösung haben, so geht die Sache ihrem wesentlichen Inhalt nach auf folgendes hinaus: Erstens ist jener ganze Aufwand an Zeremonien, der im mosaischen Gesetz bestanden hat, eine wesenlose und nichtige Sache, wenn er nicht auf Christus gerichtet ist. Zweitens haben diese Zeremonien in der Weise die Richtung auf Christus gehabt, daß sie erst damals ihre Erfüllung fanden, als er im Fleische geoffenbart war. Und schließlich mußten sie mit dem Kommen Christi notwendig abgeschafft werden, genau wie der Schatten verblaßt, wenn das Licht der Sonne erstrahlt. Jedoch schiebe ich eine noch ausführlichere Erörterung über diesen Punkt bis an die Stelle auf, an der ich die Taufe mit der Beschneidung zu vergleichen beabsichtige. Deshalb begnüge ich mich hier mit einer kurzen Erwähnung.
IV,14,26
Vielleicht haben sich diese armseligen Klüglinge auch von den maßlosen Lobreden über die Sakramente täuschen lassen, die man bei den Alten mit Bezug auf unsere (heutigen) Zeichen zu lesen bekommt. So findet sich bei Augustin der Satz, die Sakramente des „alten Gesetzes“ hätten den Retter bloß verheißen, die unsrigen dagegen gewährten das Heil (zu Ps. 73,2). Da die Scholastiker nicht bemerkten, daß diese und ähnliche Redefiguren übertreibenden Charakter tragen, so haben sie auch ihrerseits ihre übertriebenen Lehrmeinungen von sich gegeben, aber in einem völlig anderen Sinn, als ihn die Schriften der Alten hatten. Denn Augustin hat an der obengenannten Stelle nichts anderes im Sinne gehabt, als was er auch an anderer Stelle schreibt, nämlich die Sakramente des mosaischen Gesetzes hätten Christus zuvor verkündigt, die unsrigen dagegen sagten ihn (als gegenwärtig) an (Fragen zum Heptateuch IV,33). Im gleichen Sinne heißt es in seiner Schrift gegen Faustus, die alten Sakramente seien Verheißungen solcher Dinge gewesen, die erst in Erfüllung gehen sollten, die unsrigen dagegen seien Hinweise auf solche, die bereits ihre Erfüllung gefunden hätten (Gegen den Manichäer Faustus XIX,14). Er will also gleichsam sagen: die alten Sakramente haben Christus bildlich dargestellt, als er noch erwartet wurde, die heutigen dagegen erzeigen ihn als den Gegenwärtigen, da er uns ja bereits gegeben ist. Er redet nun aber von der Art des Hinweises, der in den Sakramenten liegt, wie er sie auch an anderer Stelle aufzeigt, wenn er sagt: „Das Gesetz und die Propheten hatten Sakramente, die eine zukünftige Sache zuvor ansagten, die Sakramente unserer Zeit aber bezeugen, daß das gekommen ist, was jene noch als zukünftig verkündigten“ (Gegen die Briefe des Petilian II,37,87). Was er aber über die Sache und die Wirkung gedacht hat (die den alten Sakramenten eigen war), das setzt er an mehreren Stellen auseinander; so zum Beispiel, wenn er sagt, die Sakramente der Juden seien in ihren Zeichen verschieden gewesen, in der von ihnen angedeuteten Sache dagegen gleich, sie seien verschieden gewesen nach ihrer sichtbaren Erscheinung, aber gleich nach ihrer geistlichen Kraft (Predigten zum Johannesevangelium 26,12). Ebenso sagt er: „Bei verschiedenen Zeichen bleibt doch der gleiche Glaube. Denn mit der Verschiedenheit der Zeichen ist es ebenso bestellt wie mit der Verschiedenheit von Worten. Die Worte nämlich verändern im Wechsel der Zeiten ihren Klang, und überhaupt sind ja Worte nichts anderes als Zeichen. Die Väter haben den gleichen geistlichen Trank getrunken (wie wir), jedoch nicht den gleichen leiblichen. Ihr seht also, wie bei gleich bleibendem Glauben die Zeichen verändert sind.
Bei ihnen war der Fels (aus dem sie tranken 1. Kor. 10) Christus, für uns ist das, was uns auf dem Altar dargeboten wird, Christus. Sie haben als großes Sakrament das Wasser getrunken, das aus dem Felsen floß, und was wir trinken, das ist den Gläubigen bekannt. Betrachtet man die sichtbare Erscheinung, so ist es etwas anderes, richtet man sein Augenmerk aber auf die Bedeutung, die damit dem Verständnis nahegebracht wird, so haben sie den gleichen geistlichen Trank getrunken wie wir“ (Predigten zum Johannesevangelium 45,9). An anderer Stelle heißt es: „Bei den Geheimnissen (Sakramenten) war ihre Speise und ihr Trank der gleiche, den auch wir haben; aber die Gleichheit liegt in der Bedeutung und nicht in der Erscheinung; denn es ist der gleiche Christus, der ihnen in dem Felsen bildlich dargestellt war und uns im Fleische geoffenbart ist“ (zu Psalm 77,2).
Allerdings geben wir zu, daß es auch in diesem Stück einige Verschiedenheit zwischen den alten und den heutigen Sakramenten gibt. Beide bezeugen, daß uns die in Christus uns zukommende väterliche Freundlichkeit Gottes und die Gaben des Heiligen Geistes dargeboten werden; aber unsere heutigen Sakramente tun das leuchtender und klarer. In beiden wird Christus dargezeigt; aber das geschieht in unseren Sakramenten reichlicher und völliger, eben gemäß jener Unterschiedenheit des Alten vom Neuen Testament, von der wir oben bereits geredet haben. Das ist es, was Augustin – den wir als den besten und zuverlässigsten Zeugen der ganzen alten Zeit häufiger anführen – im Sinne hat, wenn er lehrt, nach der Offenbarung Christi seien Sakramente eingerichtet worden, die zwar der Zahl nach geringer (als die früheren), hinsichtlich ihrer Bedeutung dagegen erhabener und in ihrer Kraft vortrefflicher seien (Gegen Faustus XIX,13; Von der christlichen Unterweisung III,9,13; Brief 54,1 an Januarius).
Es ist angebracht, daß der Leser auch noch kurz darauf hingewiesen werde, daß alles, was sich die Klüglinge von dem einmal gewirkten Werk (opus operatum) zusammengeschwatzt haben, nicht nur falsch ist, sondern auch zu der Natur der Sakramente im Widerspruch steht. Gott hat die Sakramente doch eingerichtet, damit die Gläubigen, leer an allen Gütern und als arme Leute, nichts herzubringen als ihre Bettlerschaft. Daraus geht hervor, daß sie also mit dem Empfang der Sakramente nichts vollbringen, wodurch sie sich Lob verdienen könnten, und daß ihnen bei dieser Handlung – die im Blick auf sie von der Art ist, daß sie nicht wirken sondern empfangen – keinerlei Werk zugeschrieben werden kann.
Fünfzehntes Kapitel
Von der Taufe
IV,15,1
Die Taufe ist ein Zeichen der Einweihung, durch das wir in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden, um in Christus eingeleibt und damit zu den Kindern Gottes gerechnet zu werden. Sie ist uns aber nun – wie das nach unserer obigen Darlegung bei allen Sakramenten der Fall ist – von Gott zu dem Zweck gegeben, daß sie zum ersten unserem Glauben vor ihm und zum zweiten unserem Bekenntnis vor den Menschen diene. Auf die Art und Weise jeder dieser beiden Wirkungsformen wollen wir der Reihe nach eingehen.
Unserem Glauben leistet die Taufe einen dreifachen Dienst, den wir auch seinerseits Stück für Stück behandeln müssen.
Der erste besteht darin, daß sie uns von dem Herrn vor Augen gestellt wird, um ein Merkzeichen und Beweis unserer Reinigung zu sein oder – um besser auseinanderzusetzen, was ich meine – gleichsam eine unterschriebene Urkunde, mit der er uns bekräftigen will, daß alle unsere Sünden dergestalt abgetan, ausgestrichen und getilgt sind, daß sie nie mehr vor sein Angesicht kommen, daß ihrer nicht mehr gedacht wird und sie nicht mehr angerechnet werden. Denn er will, daß alle, die da glauben, zur Vergebung der Sünden getauft werden.
Daher haben diejenigen, die da gemeint haben, die Taufe sei nichts anderes als ein Erkennungsmerkmal oder Kennzeichen, mit dem wir unsere Religion vor den Menschen bekennten – so wie die Soldaten die Zeichen ihres Feldherrn tragen, um damit zu zeigen, daß sie seine Soldaten sind –, das nicht in Erwägung gezogen, was an der Taufe das erste war. Dies erste aber ist, daß wir die Taufe unter der Verheißung empfangen sollen: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden“ (Mark. 16,16).
IV,15,2
In diesem Sinne ist es aufzufassen, wenn Paulus schreibt, die Kirche sei von Christus, ihrem Ehegemahl, geheiligt worden und „gereinigt durch das Wasserbad im Wort“ des Lebens (Eph. 5,26). Und ebenso, wenn es an anderer Stelle heißt: „Nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes“ (Tit. 3,5). Im gleichen Sinne lesen wir bei Petrus, daß uns die Taufe selig mache (1. Petr. 3,21).
Denn Paulus hat mit seinen Worten nicht zu verstehen geben wollen, daß unsere Abwaschung und unsere Seligkeit durch das Wasser zustande kämen oder daß das Wasser die Kraft in sich trüge, uns zu reinigen, die Wiedergeburt zu schaffen oder Erneuerung zu schenken. Ebenso will auch Petrus nicht zum Ausdruck bringen, daß in diesem Sakrament die Ursache zur Seligkeit ergriffen würde, sondern er will nur zeigen, daß wir darin die Erkenntnis und Gewißheit solcher Güter erlangen; das wird auch durch den gegebenen Wortlaut deutlich genug dargetan. Denn Paulus nennt das Wort des Lebens und die Taufe miteinander in enger Verbindung, als wollte er sagen: durch das Evangelium wird uns die Botschaft von unserer Abwaschung und Reinigung zugetragen, und durch die Taufe wird solches Zeugnis versiegelt. Und Petrus fährt (an der genannten Stelle) unmittelbar fort, jene Taufe sei nicht die Ablegung der Befleckungen des Fleisches, sondern ein gutes Gewissen vor Gott (1. Petr. 3,21); dies aber kommt ja aus dem Glauben. Ja, die Taufe verheißt uns keine andere Reinigung als die, welche durch die Besprengung mit dem Blute Christi geschieht; denn dies Blut wird durch das Wasser bildlich dargestellt, das ja in ähnlicher Weise die Eigenschaft hat, zu reinigen und abzuwaschen. Wer will also behaupten, wir würden durch das
Wasser gereinigt, während eben dies doch sicher bezeugt, daß Christi Blut das wahre und einige Reinigungsbad ist? Daher ist es nicht möglich, einen klareren Grund zur Widerlegung der Phantastereien solcher Leute zu suchen, die alles auf die Kraft des Wassers beziehen, als eben aus der Bedeutung der Taufe selbst; denn die Taufe zieht unsere Sinne von jenem sichtbaren Element (eben dem Wasser), das uns vor die Augen gebracht wird, wie von allen anderen Mitteln ab, um sie allein an Christus zu binden.
IV,15,3
Man darf nun aber nicht glauben, die Taufe finde ihre Anwendung bloß im Bezug auf die Vergangenheit, so daß wir also für neue Versündigungen, in die wir nach der Taufe verfallen, andere, neue Sühnemittel suchen müßten, und zwar in wer weiß welchen anderen Sakramenten, als ob die Kraft der Taufe erloschen wäre. Durch diesen Irrtum ist es in alter Zeit dahin gekommen, daß manche Leute erst in äußerster Lebensgefahr, ja, erst wenn sie in den letzten Zügen lagen, durch die Taufe eingeweiht werden wollten, damit sie dergestalt für ihr ganzes Leben Vergebung erlangten. Gegen diese unangebrachte Vorsicht sprechen sich die alten Bischöfe in ihren Schriften sehr oft tadelnd aus. Zu welcher Zeit wir nun die Taufe auch empfangen mögen, so müssen wir stets das bedenken, daß wir damit zugleich für unser ganzes Leben abgewaschen und gereinigt werden. Sooft wir also in Sünde gefallen sind, sollen wir uns unsere Taufe ins Gedächtnis zurückrufen und unser Herz damit wappnen, damit es allezeit der Vergebung der Sünden gewiß und sicher sei. Denn obwohl es den Anschein hat, als ob die Taufe, einmal vollzogen, nun vergangen sei, so ist sie doch durch die späteren Sünden nicht abgetan. Denn es ist uns ja in ihr die Reinheit Christi dargereicht worden, und die bleibt allezeit in Kraft und wird von keinerlei Flecken überdeckt, sondern deckt alle unsere Unreinigkeiten zu und tilgt sie weg.
Dennoch dürfen wir hieraus für die Zukunft keine willkürliche Freiheit zum Sündigen herleiten, wie wir ja von dieser Erwägung aus in keiner Weise zu solcher Vermessenheit unterwiesen werden. Nein, diese Lehre wird nur solchen gesagt, die, nachdem sie gesündigt haben, unter ihren Sünden ermattet und bedrückt seufzen: sie sollen einen Grund haben, um sich aufzurichten und zu trösten, damit sie sich nicht in Verwirrung und Verzweiflung stürzen. So sagt Paulus, Christus sei uns zum Versöhner gemacht, zur Vergebung für die voraufgegangenen Missetaten (Röm. 3,25). Damit leugnet er nicht, daß wir in Christus eine dauernde und beständige Vergebung der Sünden empfangen bis zum Tode hin; aber er gibt zu verstehen, daß Christus vom Vater nur den armen Sündern gegeben ist, die unter dem Brenneisen des Gewissens verwundet sind und sich nun nach dem Arzte sehnen. Solchen Menschen wird Gottes Barmherzigkeit dargeboten. Wer sich aber aus solcher Straffreiheit den Anlaß und eine zügellose Freiheit zum Sündigen begründen will, der tut nichts anderes, als daß er Gottes Zorn und Gericht gegen sich hervorruft.
IV,15,4
Ich weiß nun freilich, daß sich allgemein eine andere Ansicht durchgesetzt hat: danach erlangen wir nach der Taufe die Vergebung durch die Wohltat der Buße und der Schlüssel(gewalt), während sie uns in der ersten Wiedergeburt allein durch die Taufe zuteil wird. Aber die Leute, die sich das erdichten, befinden sich darin auf einem Irrweg, daß sie nicht bedenken, wie die Schlüsselgewalt, von der sie reden, dergestalt von der Taufe abhängig ist, daß sie auf keine Weise von ihr getrennt werden kann. Der Sünder empfängt die Vergebung durch den Dienst der Kirche, das heißt also: nicht ohne die Predigt des Evangeliums. Was hat diese nun aber für einen Inhalt? Doch den, daß wir durch Christi Blut von unseren Sünden gereinigt werden! Was aber ist das Zeichen und Zeugnis dieses Reinigungsbades anders als die Taufe? Wir sehen also, daß jene (kirchliche) Lossprechung (in der „Schlüsselgewalt“) zur Taufe in Beziehung steht.
Der Irrtum, von dem ich hier rede, hat uns nun das ersonnene Sakrament der Buße erwachsen lassen, von dem ich schon manches kurz ausgeführt habe und den Rest an dem dafür vorgesehenen Platz behandeln werde. Es ist nun aber nichts Verwunderliches dabei, wenn die Menschen, die in der Grobheit ihres Wesens maßlos an äußerlichen Dingen festhängen, auch in diesem Stück den Fehler an den Tag gelegt haben, daß sie sich mit der reinen Einrichtung Gottes nicht zufriedengaben und deshalb neue Mittel aufbrachten, die sie sich selbst ausgedacht hatten. Als ob die Taufe nicht selbst das „Sakrament der Buße“ darstellte! Wenn uns die Buße nun für das ganze Leben anempfohlen wird, so muß auch die Kraft der Taufe bis zu den gleichen Grenzen ausgedehnt werden. Daher unterliegt es keinem Zweifel, daß alle Frommen sich im ganzen Lauf ihres Lebens, sooft sie vom Bewußtsein ihrer Sünde gequält werden, ihre Taufe wieder ins Gedächtnis zu rufen wagen, um sich dadurch in der Zuversicht auf jene einige, dauernde Abwaschung zu stärken, die wir im Blute Christi haben.
IV,15,5
Noch eine zweite Frucht gewährt uns die Taufe, weil sie uns nämlich unsere Abtötung (mortificatio) in Christus und das neue Leben (nova vita) in ihm zeigt. Denn wir sind, so sagt Paulus, „in seinen Tod getauft“, „mit ihm begraben in den Tod“, um nun „in Neuheit des Lebens unseren Wandel zu führen“ (Röm. 6,3f.). Mit diesen Worten ermahnt uns der Apostel nicht bloß zur Nachfolge Christi, als ob er etwa sagte, wir würden durch die Taufe dazu ermuntert, nach dem Vorbild des Sterbens Christi unseren Begierden zu sterben und nach dem Beispiel seiner Auferweckung zur Gerechtigkeit aufzuerstehen. Nein, er geht der Sache tiefer auf den Grund, indem er darauf hinweist, daß uns Christus durch die Taufe seines Todes teilhaftig gemacht hat, so daß wir in solchen Tod eingeleibt werden (Röm. 6,5). Und wie der Zweig seine Substanz und seine Nahrung aus der Wurzel zieht, in die er eingeleibt ist, so erfahren auch die, welche die Taufe mit dem ihr zukommenden Glauben annehmen, in Wahrheit die Wirkkraft des Todes Christi in der Abtötung ihres Fleisches und zugleich die Wirkkraft seiner Auferstehung in ihrer Lebendigmachung durch den Geist (Röm. 6,8). Von da aus nimmt Paulus auch den Anlaß zu einer Ermahnung: sind wir Christen, so müssen wir auch der Sünde „gestorben sein“ und „der Gerechtigkeit leben“ (Röm. 6,11). Den gleichen Beweis verwendet er an anderer Stelle, indem er schreibt, wir seien „beschnitten“ und hätten den alten Menschen ausgezogen, nachdem wir „durch die Taufe mit Christo begraben“ sind (Kol. 2,11f.). In diesem Sinne hat er die Taufe an der oben bereits angeführten Stelle auch als „Bad der Wiedergeburt und Erneuerung“ bezeichnet (Tit. 3,5). Es wird uns also in der Taufe zunächst die gnadenweise Vergebung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit verheißen und alsdann die Gnade des Heiligen Geistes, die uns zu neuem Leben umgestaltet.
IV,15,6
Schließlich empfängt unser Glaube aus der Taufe auch den Nutzen, daß sie uns mit Gewißheit bezeugt, daß wir nicht nur in Christi Tod und Leben eingeleibt, sondern auch selbst dergestalt mit Christus geeint sind, daß wir aller seiner Güter teilhaftig werden. Denn dazu hat er die Taufe an seinem eigenen Leibe geweiht und geheiligt (Matth. 3,13-17), daß er mit uns gemeinsam an ihr teilhätte und sie nun das festeste Band der Einung und Gemeinschaft darstellte, die er mit uns einzugehen sich herabgelassen hat. Daher beweist Paulus daraus, daß wir in der Taufe „Christum angezogen“ haben, den Satz, daß wir Gottes Kinder sind (Gal. 3,26f.). So sehen wir, daß die Erfüllung der Taufe in Christus liegt: ihn nennen wir aus diesem Grunde auch im eigentlichen Sinne den, an dem die Taufe hängt (proprium fidei obiectum). Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Apostel nach unseren Berichten auf seinen
Namen getauft haben (Apg. 8,16; 19,5), obwohl ihnen doch die Weisung geworden war, auf den „Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ zu taufen (Matth. 28,19). Denn alles, was uns in der Taufe an Gaben Gottes vorgelegt wird, das kann man allein in Christus finden. Doch kann es nicht anders sein, als daß der, der auf Christus tauft, zugleich auch den Namen des Vaters und des Heiligen Geistes anruft. Denn wir empfangen die Reinigung durch das Blut Christi darum, weil der barmherzige Vater uns in seiner unvergleichlichen Freundlichkeit zu Gnaden hat annehmen wollen und dazu diesen Mittler zwischen sich und uns gestellt hat, damit er uns bei ihm Gunst erwirkte. Die Wiedergeburt aber empfangen wir aus Christi Tod und Auferstehung nur dann, wenn wir, durch den Geist geheiligt, mit einer neuen, geistlichen Natur erfüllt werden. Daher steht es so, daß wir die Ursache unserer Reinigung wie unserer Wiedergeburt im Vater, ihren Wirkgrund in Christus und ihre Wirkung im Heiligen Geiste erlangen und gleichsam in Unterschiedenheit anschauen. So hat zuerst Johannes, so haben alsdann auch die Apostel mit der „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ getauft (Matth. 3,6.11; Luk. 3,3.16; Joh. 3,23; 4,1; Apg. 2,38.41). Dabei verstanden sie unter „Buße“ solche Wiedergeburt und unter „Vergebung der Sünden“ jene Abwaschung (im obigen Sinne).
IV,15,7
Durch diese Darlegungen wird es auch völlig gewiß, daß das Amt des Johannes (nämlich des Täufers) durchaus das gleiche gewesen ist, wie es hernach den Aposteln zugewiesen wurde. Denn die verschiedenen Hände, von denen die Taufe verwaltet wird, machen die Taufe selbst nicht anders; nein, das Gleichbleiben der Lehre zeigt, daß auch die gleiche Taufe besteht. Johannes und die Apostel waren einhellig in einer Lehre, beide haben sie zur Buße, beide zur Vergebung der Sünden, beide auf den Namen Christi getauft, von dem die Buße und die Vergebung der Sünden kam. Johannes sagte von ihm: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“ (Joh. 1,29), und damit erklärte er ihn für das Opfer, das dem Vater wohlgefällig ist, für den Erwirker der Gerechtigkeit und den Geber des Heils. Was hätten die Apostel wohl diesem Bekenntnis hinzufügen können?
Deshalb darf sich niemand dadurch irremachen lassen, daß sich die Alten Mühe geben, die Taufe des Johannes von derjenigen der Apostel zu unterscheiden. Denn die Männer der Alten Kirche dürfen bei uns nicht in solcher Wertschätzung stehen, daß dadurch die Gewißheit der Schrift ins Wanken gebracht wird. Wer wird wohl mehr auf Chrysostomus hören, der da erklärt, in die Taufe des Johannes sei die Vergebung der Sünden nicht eingeschlossen gewesen (Predigten zum Matthäusevangelium 10,1), als auf Lukas, der im Gegenteil behauptet, Johannes habe die „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ verkündigt (Luk. 3,3)? Ebensowenig annehmbar ist die spitzfindige Meinung des Augustin, in der Taufe des Johannes seien die Sünden in Hoffnung vergeben worden, in der Taufe Christi dagegen erfolge eine tatsächliche Vergebung (Von der Taufe gegen die Donatisten V,10,12). Denn der Evangelist bezeugt klar und deutlich, daß Johannes in seiner Taufe die Vergebung der Sünden verheißen hat, und wie soll es unter solchen Umständen erforderlich sein, diese Aussagen abzuschwächen, wo doch kein Zwang dazu vorliegt?
Will aber jemand aus dem Worte Gottes erfahren, welcher Unterschied zwischen diesen beiden Taufen bestanden hat, so wird er keinen anderen finden als den, daß Johannes auf den taufte, der da kommen sollte, die Apostel aber auf den, der sich bereits offenbart hatte (Luk. 3,16; Apg. 19,4).
IV,15,8
Die Tatsache, daß nach der Auferstehung Christi die Gnadengaben des Heiligen Geistes reichlicher ausgegossen worden sind, hat nichts damit zu schaffen, daß man etwa eine Verschiedenheit der beiden Taufen behaupten könnte. Denn die Taufe,
die noch zur Zeit des Erdenwandels Christi von den Aposteln verwaltet wurde, ist als seine Taufe bezeichnet worden, und doch war mit ihr kein größerer Reichtum des Geistes gegeben als mit der Taufe des Johannes. Ja, selbst nach der Himmelfahrt wurden die Samaritaner, obwohl sie doch auf den Namen Jesu getauft worden waren, nicht über das gewöhnliche Maß hinaus mit dem Geiste begabt, das auch den früheren Gläubigen zuteil geworden war – bis Petrus und Johannes zu ihnen gesandt wurden, um ihnen die Hände aufzulegen (Apg. 3,14.17).
Nur eine einzige Tatsache hat nach meinem Dafürhalten die Männer der Alten Kirche zu ihrer Behauptung veranlaßt, die Taufe des Johannes sei nur eine Vorbereitung auf die Taufe der Apostel: sie lasen nämlich, Paulus hätte Leute, die die Taufe des Johannes schon einmal empfangen hatten, zum zweiten Male getauft (Apg. 19,3.5). Aber in was für einen Irrtum sie dabei geraten sind, das wird anderwärts an der dafür vorgesehenen Stelle aufs deutlichste auseinandergesetzt werden.
Was soll es nun bedeuten, wenn Johannes sagte, er taufe zwar mit Wasser, es werde aber Christus kommen, um mit dem Heiligen Geist und mit Feuer zu taufen (Matth. 3,11)? Diese Frage läßt sich mit wenigen Worten lösen. Denn Johannes hatte nicht etwa die Absicht, die eine Taufe von der anderen zu unterscheiden, nein, er verglich seine Person mit Christi Person und legte dar, wie er seinen Dienst mit Wasser tat, Christus dagegen der Geber des Heiligen Geistes war, der dann solche Kraft auch mit einem sichtbaren Wunder ans Licht bringen sollte, an dem Tage nämlich, als er den Aposteln unter feurigen Zungen den Heiligen Geist senden würde (Apg. 2,3). Was konnten nun die Apostel darüber (d.h. über das Amt des Johannes) hinaus beanspruchen? Was können auch die beanspruchen, die heutzutage Taufen vollziehen? Denn sie sind doch bloß Diener an einem äußerlichen Zeichen, Christus dagegen ist der Geber der inwendigen Gnade. So lehren es eben die gleichen Theologen der Alten Kirche selbst, und zwar vor allem Augustin, der sich in seinem Kampf gegen die Donatisten vornehmlich auf den Satz stützt, der Täufer möge sein, wer er wolle, so habe doch Christus allein bei der Taufe die Führung inne (Gegen den Brief des Parmenian II,11,23).
IV,15,9
Das, was wir von der Abtötung (des Fleisches) wie auch von der Abwaschung gesagt haben, wurde im Volke Israel schattenhaft angedeutet, und Paulus sagt aus diesem Grunde, das Volk sei „mit der Wolke und mit dem Meer“ getauft worden (1. Kor. 10,2). Die Abtötung wurde bildlich dargestellt, als der Herr dem Volke bei seiner Befreiung aus der Hand und aus der grausamen Knechtschaft des Pharao einen Weg durch das Rote Meer bahnte und den Pharao selbst samt den Feinden, den Ägyptern, die dem Volke im Rücken nachstellten und es über dem Nacken bedrohten, ertränkte (Ex. 14,21.26-28). Denn in der gleichen Weise verheißt der Herr auch uns in der Taufe und zeigt er es uns durch das von ihm gegebene Zeichen, daß wir aus der Gefangenschaft Ägyptens, das heißt aus der Knechtschaft der Sünde, durch seine Kraft herausgeführt und befreit sind, und daß unser Pharao, das heißt der Teufel, ertränkt ist, obwohl er auch so noch nicht davon abläßt, uns zu quälen und zu ermüden. Wie aber jener ägyptische Pharao nicht in der Tiefe des Meeres versenkt war, sondern am Ufer dahingestreckt lag und die Israeliten mit seinem furchtbaren Anblick noch in Schrecken jagte, aber doch keinen Schaden zu tun vermochte – so droht auch unser Pharao noch, er zeigt seine Waffen, er gibt sich uns kund, aber besiegen kann er uns nicht!
In der „Wolke“ (Num. 9,15; Ex. 13,21) lag ein Merkzeichen der Reinigung. Denn wie der Herr jene Israeliten mit einer über ihnen schwebenden Wolke bedeckte und ihnen dadurch Kühlung gewährte, damit sie bei der erbarmungslosen Glut der Sonne nicht ermatteten und dahinsanken, so erkennen auch wir in der Taufe, daß wir durch Christi Blut Deckung und Schutz erfahren, damit Gottes Strenge, die in Wahrheit eine unerträgliche Flamme ist, nicht mehr auf uns laste.
Freilich war dies Geheimnis damals noch dunkel und wurde es nur von wenigen erkannt; aber da es keine andere Art und Weise gibt, die Seligkeit zu erlangen, als sie in diesen beiden Gnadengaben (Abtötung und Abwaschung) liegt, so wollte Gott den alten Vätern, die er zu Erben angenommen hatte, die Merkzeichen nicht vorenthalten, die diese beiden Gaben veranschaulichten.
IV,15,10
Jetzt leuchtet auch ein, wie verkehrt die von manchen Leuten in älterer Zeit vertretene und von anderen bis jetzt noch festgehaltene Lehre ist, durch die Taufe würden wir von der Erbsünde und von der Verderbnis, die sich von Adam aus auf seine gesamte Nachkommenschaft ausgebreitet hat, losgesprochen und frei gemacht und zu jener Gerechtigkeit, jener Reinheit unserer Natur zurückgebracht, die Adam behalten hätte, wenn er in der Unschuld verblieben wäre, in welcher er anfangs erschaffen war. Denn diese Art Lehrer haben nie und nimmer erfaßt, was Erbsünde, was ursprüngliche Gerechtigkeit und was die Gnadengabe der Taufe ist.
Nun haben wir aber in einer früheren Erörterung schon festgestellt, daß die Erbsünde die Bosheit und Verderbnis unserer Natur ist, die uns erstens des Zorns Gottes schuldig macht und dann (zweitens) auch die Werke in uns hervorbringt, die die Schrift als „Werke des Fleisches“ bezeichnet (Gal. 5,19). Wir müssen also hier diese beiden Dinge getrennt voneinander betrachten.
Erstens: Weil wir in allen Stücken unserer Natur dergestalt verdorben und verkehrt sind, so werden wir schon allein um solcher Verderbtheit willen vor Gott verdientermaßen als verdammt und überführt angesehen; denn ihm ist nichts wohlgefällig als Gerechtigkeit, Unschuld und Reinheit. Und so tragen sogar die Kindlein vom Mutterleibe her ihre Verdammnis in sich: sie haben zwar die Früchte ihrer Ungerechtigkeit noch nicht an den Tag gebracht, aber der Same ist schon in ihrem Inneren beschlossen. Ja, ihre ganze Natur ist gewissermaßen ein Same der Sünde, und deshalb kann es nicht geschehen, daß sie Gott nicht verhaßt und abscheulich wäre. Die Gläubigen erlangen nun durch die Taufe die Gewißheit, daß diese Verdammnis aufgehoben und von ihnen genommen ist; denn durch dies Zeichen gibt uns ja der Herr, wie bereits gesagt, die Zusage, daß ein vollständiger und vollgültiger Erlaß geschehen ist, sowohl der Schuld, die uns hätte zugerechnet werden, als auch der Strafe, die wir um solcher Schuld willen hätten auf uns nehmen müssen. Zugleich erfassen die Gläubigen die Gerechtigkeit – aber eine solche, wie sie das Volk Gottes in diesem Leben erlangen kann, nämlich eine Gerechtigkeit, die allein durch Zurechnung zustande kommt, weil nämlich der Herr in seiner Barmherzigkeit die Seinen als gerecht und unschuldig gelten läßt.
IV,15,11
Zum zweiten ist zu beachten, daß solche Verkehrtheit niemals in uns untätig bleibt, sondern fort und fort neue Früchte hervorbringt, nämlich jene Werke des Fleisches, die wir weiter oben beschrieben haben (vergleiche Buch II, Kapitel 1, Sektion 8). Es geht hier nicht anders als bei einem brennenden Ofen, der immerfort Flammen und Funken aus sich herausbläst, oder bei einer Quelle, die Wasser ohne Ende aus sich hervorsprudelt. Denn die Begehrlichkeit kommt bei den Menschen nie voll und ganz zum verschwinden oder zum Erlöschen, bis sie durch den Tod von dem Leibe des Todes befreit werden und sich damit selbst völlig ausziehen. Die Taufe gibt uns zwar die Verheißung, daß unser Pharao (vergleiche Sektion 9)
ertränkt ist, sie verheißt uns die Abtötung der Sünde, aber nicht so, daß die Sünde nun nicht mehr bestünde oder uns nicht mehr zu schaffen machte, sondern nur in der Weise, daß sie uns nicht mehr überwindet. Denn solange wir in das Gefängnis unseres Leibes eingeschlossen dahinleben, werden in uns Überreste der Sünde wohnen, sie werden aber, wenn wir im Glauben die Verheißung festhalten, die uns Gott in der Taufe gegeben hat, nicht herrschen und das Regiment führen.
Es soll sich aber niemand betrügen, niemand soll sich in seiner Bosheit gefallen, wenn er hört, daß die Sünde allezeit in uns wohnt. Denn das wird nicht gesagt, damit solche, die auch ohnehin mehr als genug zum Sündigen geneigt sind, über ihren Sünden sorglos einschlafen; nein, es ist nur gesagt, damit Menschen, die von ihrem Fleische gekitzelt und gestochen werden, nicht ermatten und verzweifeln. Solche Leute sollen vielmehr bedenken, daß sie einen großen Fortschritt gemacht haben, wenn sie es erfahren, daß ihre Begehrlichkeit von Tag zu Tag ein wenig geringer wird – bis sie an das Ziel gelangt sind, dem sie zustreben, nämlich zu dem letzten Vergehen ihres Fleisches, das sich in dem Vergehen dieses sterblichen Lebens vollendet. Unterdessen sollen sie nicht davon ablassen, tapfer zu kämpfen, nach einem Fortschreiten zu streben und sich zum völligen Siege anzustacheln. Denn auch das muß ihre Anstrengungen um so mehr schärfen, daß sie sehen, wie ihnen, nachdem sie sich lange Zeit heftig abgemüht haben, doch noch gar viel Arbeit übrigbleibt. So müssen wir dafür halten: wir werden zur Abtötung unseres Fleisches getauft, die von der Taufe an bei uns ihren Anfang nimmt, die wir Tag für Tag weiter treiben, die aber ihre Vollendung dann empfangen wird, wenn wir aus diesem Leben zu dem Herrn hinüberwandern.
IV,15,12
Wir sprechen hier nichts anderes aus, als was der Apostel Paulus im siebenten Kapitel des Briefes an die Römer mit höchster Klarheit darlegt. Er hatte ja zunächst von der gnadenweisen Gerechtigkeit gehandelt. Nun gab es aber einige gottlose Leute, die von da aus zu der Folgerung kamen, man könne sein Leben nach eigener Willkür führen, weil wir ja durch die Verdienste unserer Werke doch Gottes Wohlgefallen nicht erlangten. Demgegenüber fährt Paulus nun fort und erklärt, daß alle, die mit der Gerechtigkeit Christi umkleidet werden, zugleich durch den Geist ihre Wiedergeburt empfangen und ein Unterpfand solcher Wiedergeburt in der Taufe besitzen (Röm. 6,3ff.). Daraufhin ermahnt er die Gläubigen, der Sünde in ihren Gliedern keine Herrschaft zu gestatten (Röm. 6,12). Und da er nun wußte, daß bei den Gläubigen allezeit einige Schwachheit bestehen werde, so fügte er, damit sie dadurch nicht entmutigt würden, den Trost hinzu, sie stünden nicht unter dem Gesetz (Röm. 6,14). Nun konnte es jedoch abermals den Anschein gewinnen, als könnten die Christen übermütig werden, und zwar eben darum, weil sie ja nicht unter dem Joch des Gesetzes stünden. Deshalb geht Paulus im weiteren darauf ein, von welcher Art diese Abschaffung des Gesetzes ist (Röm. 7,1-6), und zugleich, welchen Gebrauch das Gesetz bei uns findet (Röm. 7,1-13) – eine Frage, die er bereits zweimal aufgeschoben hatte. Der Hauptinhalt dieser Darlegungen ist nun der: wir sind von der Strenge des Gesetzes frei gemacht, um mit Christus in festem Lebenszusammenhang zu stehen. Das Amt des Gesetzes besteht darin, daß wir von unserer Verkehrtheit überführt werden, um unsere Ohnmacht und unser Elend zu bekennen. Weil nun aber diese Verkehrtheit der Natur an einem unheiligen Menschen, der ohne die Furcht Gottes seinen Begierden die Zügel schießen läßt, nicht so leicht in die Erscheinung tritt, so nimmt Paulus einen wiedergeborenen Menschen als Beispiel, das heißt sich selbst. Er sagt also, daß er fort und fort mit den Überresten seines Fleisches zu kämpfen hat und daß er von elender Knechtschaft in Fesseln gehalten wird, so daß er sich dem Gehorsam gegen das göttliche Gesetz nicht völlig zu weihen vermag. So ist er genötigt, unter Seufzen den Ausruf zu tun: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von diesem Leibe, der
dem Tode unterworfen ist?“ (Röm. 7,24; nicht ganz Luthertext). Wenn nun die Kinder Gottes in einem Kerker gefangengehalten werden, solange sie leben, so müssen sie notwendig über der Betrachtung ihrer gefährlichen Lage in großer Angst sein, sofern dieser Furcht nicht entgegengetreten wird. Zu diesem Zweck fügt daher Paulus den Trost an: „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind“ (Röm. 8,1). Damit lehrt er, daß die, welche der Herr einmal zu Gnaden angenommen, in die Gemeinschaft mit seinem Christus eingeleibt und durch die Taufe in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen hat, wenn sie im Glauben an Christus verharren, zwar von der Sünde berannt werden und gar die Sünde in sich herumtragen mögen, aber dennoch von Schuld und Verdammnis los sind. Wenn das eine einfache und sachgerechte Auslegung (der Worte) des Paulus ist, so besteht kein Grund, daß jemand meint, wir trügen hier eine ungebräuchliche Lehre vor.
IV,15,13
Unserem Bekenntnis vor den Menschen aber dient die Taufe in folgender Weise. Sie ist nämlich ein Merkzeichen, mit dem wir öffentlich bekennen, daß wir zum Volke Gottes gerechnet werden wollen, mit dem wir bezeugen, daß wir mit allen Christenmenschen zur Verehrung des einen Gottes und zu einer Religion in Eintracht verbunden sind, und mit dem wir endlich unserem Glauben vor der Öffentlichkeit Ausdruck geben, damit nicht nur unsere Herzen das Lob Gottes atmen, sondern auch unsere Zunge und alle Glieder unseres Leibes mit allen Zeichen, die sie von sich geben können, davon widerhallen. Denn in solcher Weise wird, wie es sich gehört, alles, was wir haben, in den Dienst der Ehre Gottes gestellt, von der alles erfüllt sein muß, und zugleich werden die übrigen Menschen durch unser Beispiel zu gleichem Eifer angespornt. Dies hatte Paulus im Auge, als er die Korinther fragte, ob sie nicht in Christi Namen getauft worden seien (1. Kor. 1,13). Denn damit deutet er an, daß sie sich eben dadurch, daß sie auf Christi Namen getauft waren, ihm angelobt hatten, daß sie sich auf seinen Namen eidlich verpflichtet und vor den Menschen ihre Treue an ihn gebunden hatten, so daß sie jetzt niemand anders mehr zu bekennen vermochten als Christus allein – wofern sie nicht das Bekenntnis ableugnen wollten, das sie in der Taufe abgelegt hatten.
IV,15,14
Nachdem wir nun dargetan haben, was unser Herr mit der Einsetzung der Taufe bezweckt hat, können wir auch leicht ein Urteil darüber gewinnen, in welcher Weise wir sie gebrauchen oder empfangen sollen. Denn sofern sie dazu gegeben ist, unseren Glauben aufzurichten, zu erhalten und zu festigen, müssen wir sie gleichsam wie aus der Hand ihres Gebers nehmen und billigerweise die Gewißheit und die Überzeugung haben, daß er es ist, der durch das Zeichen zu uns redet, daß er es ist, der uns reinigt und abwäscht und die Erinnerung an unsere Missetaten austilgt, daß er es ist, der uns seines Todes teilhaftig macht, der dem Satan das Reich wegnimmt, der die Kräfte unserer Begehrlichkeit schwächt, ja, der mit uns in eins zusammenwächst, so daß wir als solche, die ihn angezogen haben, für Kinder Gottes gelten. Diese Gaben, so behaupte ich, reicht er unserer Seele inwendig so wahrhaftig und gewiß dar, so gewiß wir sehen, wie unser Leib äußerlich abgewaschen, untergetaucht und umspült wird. Denn es besteht hier eine Entsprechung oder ein Gleichnis, und die bilden die sicherste Regel bei den Sakramenten: wir sollen in leiblichen Dingen die geistlichen empfangen, als ob sie uns vor Augen gestellt wären; denn es hat dem Herrn gefallen, sie unter solchen Bildern zur Darstellung zu bringen. Das beruht nun nicht darauf, daß solche Gnadengaben etwa an das Sakrament angebunden oder in es eingeschlossen wären, damit sie uns durch die Kraft des Sakraments zuteil würden; nein, es geschieht nur darum, weil der Herr uns unter diesen Merkzeichen seinen Willen bezeugt, nämlich eben dies, daß er uns das alles ge-
währen will. Er gewährt uns aber auch nicht nur eine Augenweide, indem er uns etwa bloß das äußerliche Schaubild sehen ließe, sondern er führt uns an die Sache selbst heran und bringt das, was er bildlich darstellt, zugleich wirkungskräftig zur Erfüllung.
IV,15,15
Ein Beweis für diese Ausführungen mag der Hauptmann Cornelius sein. Er war schon zuvor der Vergebung der Sünden teilhaftig geworden, hatte schon zuvor die sichtbaren Gnadengaben des Heiligen Geistes zum Geschenk erhalten; dann empfing er die Taufe (Apg. 10,48); aber er suchte nun aus der Taufe nicht eine reichlichere Vergebung zu erlangen, sondern dies Unterpfand sollte ihm zu einer gewisseren Übung im Glauben, ja, zu einer Vermehrung seiner Zuversicht dienen.
Vielleicht mag aber jemand den Einwand gemacht haben: Warum sagte dann aber Ananias zu Paulus, er solle seine Sünden durch die Taufe abwaschen (Apg. 22,16)? Was soll das für eine Bedeutung gehabt haben, wenn doch durch die Kraft der Taufe selbst keine Abwaschung der Sünden stattfindet? Ich antworte darauf folgendes: Wenn uns der Herr, soweit es das Empfinden unseres Glaubens berührt, etwas darreicht, so heißt es, daß wir es empfangen, erlangen und uns erwirken, und zwar ganz gleich, ob solche Gabe ein erstmaliges Zeugnis darstellt oder ob sie ein bereits gegebenes Zeugnis stärker und gewisser bekräftigt. Ananias hatte also nur dies eine im Sinn: Damit du, Paulus, Gewißheit erlangst, daß dir deine Sünden vergeben sind, so laß dich taufen; denn der Herr verheißt in der Taufe die Vergebung der Sünden: die nimm an, und dann sei unbesorgt.
Ich habe allerdings nicht die Absicht, die Kraft der Taufe zu schmälern, als ob also zum Zeichen nicht Sache und Wahrheit hinzuträten, sofern Gott durch die äußerlichen Mittel wirkt. Jedoch erlangen wir aus diesem Sakrament wie aus allen anderen nur soviel, wie wir im Glauben empfangen. Fehlt der Glaube, so wird das Sakrament zum Beweis unserer Undankbarkeit, der uns vor Gott als Angeklagte hinstellt, weil wir uns der im Sakrament gegebenen Verheißung gegenüber ungläubig verhalten haben.
Insofern aber die Taufe ein Merkzeichen unseres Bekenntnisses ist, sollen wir dadurch das Zeugnis ablegen, daß unsere Zuversicht in Gottes Barmherzigkeit und unsere Reinheit in der Vergebung der Sünden besteht, die uns durch Jesus Christus zugekommen ist, und daß wir in die Kirche Gottes eintreten, um mit allen Gläubigen in einer Einmütigkeit des Glaubens und der Liebe einträchtig zu leben. Dies letztere hatte Paulus im Sinn, als er sagte, wir seien alle in einem Geiste getauft, um ein Leib zu sein (1. Kor. 12,13).
IV,15,16
Wir haben nun oben festgestellt, daß das Sakrament nicht nach der Hand dessen zu beurteilen ist, der es verwaltet, sondern gleichsam nach Gottes eigener Hand, weil es ja ohne jeden Zweifel von Gott ausgegangen ist. Ist das aber wahr, so läßt sich daraus entnehmen, daß dem Sakrament durch die Würdigkeit dessen, der es austeilt, nichts hinzugetan oder weggenommen wird. Und wie es bei den Menschen, wenn ein Brief ausgesandt wird, nichts ausmacht, wer der Briefbote oder wie dieser geartet ist, wofern nur die Handschrift und das Zeichen (des Absenders) genugsam bekannt sind, so muß es auch uns genügen, bei den Sakramenten die Handschrift und das Zeichen unseres Herrn zu erkennen, von welchem Boten sie uns auch schließlich zugetragen werden mögen.
Damit haben wir eine treffende Widerlegung des Irrtums der Donatisten, die die Kraft und den Wert des Sakraments nach der Würdigkeit des Dieners (der Kirche) bemaßen. Von der gleichen Art sind heutzutage unsere Wiedertäufer,
die uns, weil wir die Taufe im päpstlichen Reiche von Gottlosen und Götzendienern empfangen haben, bestreiten, daß wir rechtmäßig getauft seien, und deshalb mit wilder Schärfe die Wiedertaufe verlangen.
Gegen die Albernheiten dieser Leute werden wir nun mit einem hinreichend stichhaltigen Beweisgrund gewappnet, wenn wir bedenken, daß wir durch die Taufe nicht in den Namen irgendeines Menschen eingeweiht werden, sondern in den Namen „des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Matth. 23,19), und daß deshalb die Taufe nicht Sache eines Menschen, sondern Gottes Sache ist, von wem sie auch schließlich ausgeteilt sein mag. Mögen die Leute, die uns getauft haben, auch noch so wenig Ahnung von Gott und der ganzen Frömmigkeit gehabt, mögen sie sie auch noch so sehr verachtet haben, so haben sie uns doch nicht dazu getauft, daß wir mit ihnen an ihrer Unwissenheit und Heiligtumsschändung Gemeinschaft haben sollten, sondern sie haben uns zum Glauben an Jesus Christus getauft; denn sie haben nicht ihren eigenen, sondern Gottes Namen angerufen und uns auch auf keinen anderen Namen getauft. War diese Taufe aber Gottes Taufe, so trug sie auch unzweifelhaft die Verheißung von der Vergebung der Sünden, der Abtötung des Fleisches, der geistlichen Lebendigmachung und des Teilhabens an Christus in sich. In der gleichen Weise hat es den Juden nichts geschadet, daß sie von unreinen und abtrünnigen Priestern beschnitten worden waren, auch wurde deshalb das Zeichen nicht geltungslos, so daß es erforderlich gewesen wäre, es zu wiederholen, nein, es war genug, wenn man zu der reinen, ursprünglichen Art zurückkehrte.
Die Wiedertäufer wenden ein, die Taufe müsse doch in der Versammlung der Frommen gefeiert werden; aber dieser Einwand hat nicht die Wirkung, die ganze Kraft einer Sache zum Verlöschen zu bringen, die zu einem Teil in Verderbnis geraten ist. Denn wenn wir lehren, was gebührenderweise geschehen sollte, damit die Taufe rein und von jeglicher Befleckung ledig sei, so schaffen wir Gottes Einrichtung nicht ab, so sehr sie auch die Götzendiener verderben mögen. Obgleich nämlich die Beschneidung einst durch viele abergläubische Gebräuche verunstaltet war, so hörte sie deshalb doch nicht auf, als Merkzeichen der Gnade zu gelten, und als Josia und Hiskia aus ganz Israel diejenigen sammelten, die von Gott abgefallen waren, da riefen sie diese Leute dennoch nicht zu einer zweiten Beschneidung auf.
IV,15,17
Nun fragen uns aber die Wiedertäufer, was für ein Glaube denn von unserer Seite eine Reihe von Jahren hindurch auf die Taufe gefolgt sei. Sie wollen mit dieser Frage ihre Meinung durchsetzen, unsere Taufe sei eben ohne Gültigkeit gewesen, da sie ja nur dann an uns geheiligt wird, wenn Wort und Verheißung im Glauben angenommen sind. Auf diese Frage geben wir die Antwort: Wir waren allerdings blind und ungläubig und haben lange Zeit hindurch die Verheißung, die uns in der Laufe gegeben war, nicht festgehalten. Die Verheißung selbst aber war von Gott und ist deshalb allezeit unerschüttert, fest und wahrhaftig geblieben. Denn obwohl alle Menschen lügenhaft und treubrüchig sind, so hört doch Gott nicht auf, wahrhaftig zu sein (Röm. 3,3f.), obwohl sie alle verloren sind, so bleibt doch Christus das Heil! Wir geben also zu, daß uns die Taufe zu jener Zeit nicht das mindeste genützt hat; denn die Verheißung, die uns in ihr dargereicht wird und ohne welche sie nichts ist, lag vernachlässigt da. Jetzt aber, da wir durch Gottes Gnade anfangen, umzukehren, jetzt klagen wir unsere Blindheit und Herzenshärtigkeit an, daß wir uns so großer Güte Gottes gegenüber so lange undankbar verhalten haben. Jedoch sind wir des Glaubens, daß die Verheißung selbst nicht zunichte geworden ist; nein, wir erwägen vielmehr: Gott verheißt durch die Taufe die Vergebung der Sünden, und auf Grund dieser Verheißung wird er sie ohne Zweifel allen gewähren, die da glauben. Diese Verheißung ist uns in der Taufe dargeboten worden; also wollen wir sie im Glauben
erfassen! Lange Zeit hindurch zwar war sie für uns um unseres Unglaubens willen begraben – so wollen wir sie also jetzt durch den Glauben ergreifen!
Als daher der Herr das jüdische Volk zur reuigen Umkehr auffordert, da gibt er ihm keine Vorschrift über eine Wiederholung der Beschneidung – obwohl es doch, wie gesagt, von gottlosen und frevlerischen Händen beschnitten war und lange Zeit hindurch in der Umstrickung durch dich nämliche Gottlosigkeit gelebt hatte – nein, er dringt allein auf die Bekehrung des Herzens. Denn so sehr der Bund von diesem Volk verletzt worden war, so blieb doch das Merkzeichen solchen Bundes auf Grund der Einsetzung des Herrn allezeit fest und unverletzlich. Die reuige Umkehr war also die einzige Bedingung für die Wiederaufnahme des Volkes in den Bund, den Gott in der Beschneidung einmal mit ihm geschlossen hatte – in der Beschneidung, die es allerdings durch die Hand bundbrüchiger Priester empfangen und seinerseits, soviel es das vermochte, aufs neue befleckt und in ihrer Wirkung zum Erlöschen gebracht hatte.
IV,15,18
Jetzt hoffen aber die Wiedertäufer ein feuriges Geschoß gegen uns loszuschleudern, indem sie darauf verweisen, daß Paulus doch Leute wiedergetauft habe, die die Taufe des Johannes schon einmal empfangen hatten (Apg. 19,3.5). Nun war aber doch nach unserem Zugeständnis die Taufe des Johannes voll und ganz die gleiche wie heutzutage die unsrige: wie also jene Leute (Apg. 19), die zuvor verkehrt unterwiesen waren, nach ihrer Unterweisung im rechten Glauben auf solchen Glauben wiedergetauft wurden, so ist auch jene (von uns unter dem Papsttum empfangene) Taufe, die ohne die wahre Lehre blieb, (an und für sich) für nichts zu achten, und wir müssen aufs neue getauft werden, und zwar auf die wahre Religion, in der wir jetzt erstmalig unterwiesen sind. (Soweit die gegnerische Meinung.)
Manche haben nun die Ansicht, es habe da einen falschen Nachfolger des Johannes gegeben, der diese Leute (von denen Apg. 19 die Rede ist) mit der ersten Taufe in einem eitlen Aberglauben eingeweiht hätte. Eine Vermutung in dieser Richtung scheinen sie der Tatsache zu entnehmen, daß die genannten Johannesjünger bekennen, sie seien ohne jegliche Kunde vom Heiligen Geiste, während doch Johannes nie und nimmer Jünger von solcher Unkundigkeit von sich ausgesandt hätte. Nun ist es aber nicht wahrscheinlich, daß es (überhaupt) Juden gegeben haben sollte, die – auch wenn sie durchaus keine Taufe empfangen hätten – jeglicher Kenntnis des Heiligen Geistes bar gewesen wären, wo dieser doch in so vielen Zeugnissen der Schrift kundgemacht wird. Wenn diese Johannesjünger also die Antwort geben, sie wüßten nicht, „ob ein heiliger Geist sei“ (Apg. 19,2), so ist das so zu verstehen, als wenn sie gesagt hätten, sie hätten noch nicht gehört, ob die Gnadengaben des Geistes, über die sie von Paulus befragt wurden, den Jüngern Christi zuteil würden. Ich gebe nun aber meinerseits zu, daß die Taufe, die diese Leute empfangen hatten, die wahrhaftige Taufe des Johannes und (damit) ein und dasselbe gewesen ist wie die Taufe Christi. Dagegen bestreite ich, daß sie aufs neue getauft worden wären. Was bedeuten nun die Worte: „Da ließen sie sich taufen auf den Namen ... Jesu“ (Apg. 19,5)? Manche erläutern diese Stelle so, als ob diese Jünger durch Paulus nur in der lauteren Lehre unterwiesen worden wären. Ich möchte es aber einfältiger so verstehen, daß sie durch Auflegung der Hände die Taufe des Heiligen Geistes, das heißt die sichtbaren Gnadengaben des Geistes, zum Geschenk bekommen haben. Es ist ja nicht neu, daß eben diese Gaben mit dem Namen „Taufe“ bezeichnet werden. So wird berichtet, daß sich die Apostel am Tage der Pfingsten an die Worte des Herrn von der Taufe mit Feuer und Heiligem Geist erinnert haben (Apg. 1,5). Und Petrus erwähnt, daß ihm die nämlichen Worte (Christi) ins Gedächtnis gekommen sind, als er die Gnadengaben gewahrte, die sich auf Cornelius, sein Haus und seine Verwandtschaft ergossen hatten (Apg. 11,16).
Zu der hier gegebenen Deutung unserer Stelle (Apg. 19) steht es auch nicht im Widerspruch, daß es nachher weiter heißt: „Und da Paulus die Hände auf sie legte, kam der Heilige Geist auf sie“ (Apg. 19,6). Denn Lukas erzählt hier nicht zwei verschiedene Vorgänge, sondern er schließt sich der bei den Hebräern gebräuchlichen Erzählungsform an: diese stellen zunächst den wesentlichen Inhalt der Sache an die Spitze und legen die Sache dann ausführlicher dar. Dies kann (an unserer Stelle) jedermann an dem Zusammenhang der Worte selbst beobachten. Lukas sagt nämlich: „Da sie das hörten, ließen sie sich taufen auf den Namen ... Jesu. Und da Paulus die Hände auf sie legte, kam der Heilige Geist auf sie“ (Apg. 19,5f.). In der zweiten Aussage wird beschrieben, wie es bei der (im ersten Satzglied allgemein erwähnten) Taufe (im einzelnen) zugegangen ist.
Wenn nämlich die Unwissenheit (dieser Jünger) die frühere Taufe mit einem Mangel behaftete, so daß sie durch eine zweite zurechtgebracht werden müßte, so hätten von allen Menschen zuallererst die Apostel wiedergetauft werden müssen, die all die drei Jahre nach ihrer Taufe kaum ein geringes Stücklein der reinen Lehre in sich aufgenommen hatten. Und wieviel Ströme würden bei uns wohl hinreichend sein, um so viele Taufen zu wiederholen, soviel Unwissenheit durch des Herrn Barmherzigkeit Tag für Tag an uns gestraft wird?
IV,15,19
Kraft, Würde, Nutzen und Zweck dieses Geheimnisses (Sakraments) müssen, wenn ich mich nicht irre, jetzt zureichend geklärt sein. Was nun das äußerliche Merkzeichen (d.h. die äußerliche Gestaltung der Taufe) betrifft, – ach, wenn da doch Christi ursprüngliche Einrichtung in dem Maße ihre Gültigkeit behalten hätte, daß sie imstande gewesen wäre, den Vorwitz der Menschen in Schranken zu halten! (Tatsächlich aber war es ganz anders.) Als ob es eine verächtliche Sache wäre, nach Christi Weisung mit Wasser getauft zu werden, so hat man eine Einsegnung oder besser eine Verzauberung des Wassers erfunden, die dazu führte, daß die wahrheitsgemäße Weihe des Wassers befleckt wurde. Dann hat man nachher noch die Wachskerze und das Salböl folgen lassen, und man war der Meinung, erst das Anblasen (des Täuflings durch den Priester) eröffnete der Taufe den Zugang. Es ist mir zwar durchaus bekannt, wie althergebracht dieses Gemisch von fremdartigen Zusätzen ist; aber es ist trotzdem recht und billig, daß ich samt allen Frommen alles mit Abscheu von mir weise, was die Menschen zu Christi Einsetzung hinzuzufügen sich erdreistet haben. Als nun der Satan gewahrte, wie durch die törichte Leichtgläubigkeit der Welt fast schon in den Ausgangszeiten des Evangeliums seine Betrügereien ohne Mühe zur Annahme gelangten, da ging er weiter vor und brachte noch gröberen Spott und Hohn auf: daher kommt es denn, daß man in zügelloser Willkür das Spützen und anderes Possenzeug zu offenbarer Schmähung der Taufe eingeführt hat. An dergleichen Erfahrungen sollen wir lernen, daß es nichts Heiligeres, nichts Besseres und nichts Gefahrloseres gibt, als daß man sich an der Autorität Christi allein genügen läßt.
Daher wäre es besser, man ließe allen schaubühnenhaften Prunk beiseite, der die Augen der Einfältigen blendet und ihre Sinne abstumpft, und hielte folgendes Verfahren ein: Sooft jemand getauft werden soll, läßt man ihn bei der Versammlung der Gläubigen gegenwärtig sein und stellt ihn Gott dar, wobei die ganze Kirche wie ein Zeuge ihr Augenmerk auf den Vorgang hat und über den Täufling betet; darauf wird das Glaubensbekenntnis gesprochen, in welchem der Neuling unterwiesen werden soll, die Verheißungen werden mitgeteilt, die für die Taufe gelten; dann wird der Neuling auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft (Matth. 28,19), und schließlich wird er unter Gebet und Danksagung entlassen. Bei diesem Verfahren wäre nichts ausgelassen, was zur Sache gehört, und jene eine Zeremonie, die von Gott, dem Urheber des Sakraments, ausgegangen
ist, würde ohne Überdeckung durch irgendwelchen fremdartigen Schmutz aufs klarste erstrahlen.
Im übrigen macht es rein nichts aus, ob der Täufling ganz untergetaucht wird, ob das einmal oder dreimal geschieht, oder ob man ihn bloß mit Wasser übergießt und damit besprengt. Das muß vielmehr nach der Verschiedenheit der Länder den Kirchen freistehen. Allerdings bedeutet das Wort „Taufen“ selbst soviel wie „Untertauchen“, und es steht fest, daß die Alte Kirche den Brauch der Untertauchung festgehalten hat.
IV,15,20
Weiter ist es belangreich zu wissen, daß es ein verkehrtes Verfahren ist, wenn sich amtlose Leute die Verwaltung der Taufe anmaßen. Denn die Ausübung der Taufe ist wie auch die Austeilung des Heiligen Abendmahls ein Teil des kirchlichen Amtes. Auch hat doch Christus den Auftrag zum Taufen nicht an Frauen oder an irgendwelche beliebigen Menschen erteilt, sondern er hat diese Aufgabe denen zugewiesen, die er als Apostel eingesetzt hatte. Und wenn er seinen Jüngern gebot, sie sollten bei der Austeilung des Heiligen Abendmahls so verfahren, wie er es selbst vor ihren Augen gemacht hatte, so hatte er dabei doch unzweifelhaft, da er ja das Amt eines rechten Verwalters dieses Sakraments ausübte, den Willen, daß sie bei ihrem Tun seinem Beispiel nachfolgen sollten.
Es hat sich nun seit vielen Jahrhunderten, ja, bereits seit der Ursprungszeit der Kirche der Gebrauch durchgesetzt, daß bei Lebensgefahr auch Leute aus dem Volke („Laien“) die Taufe übten, sofern kein Diener am Wort zeitig genug zugegen war. Ich sehe nun aber nicht, mit was für einer stichhaltigen Begründung man das verteidigen könnte. Auch die Alten selbst, die diese Sitte entweder innehielten oder doch duldeten, waren sich nicht darüber im klaren, ob es mit Recht so gemacht würde. Denn Augustin gibt diesem Zweifel Ausdruck, wenn er sagt: „Wenn schon ein Laie unter dem Druck der Not die Taufe erteilt hat, so weiß ich nicht, ob es fromm gehandelt wäre, wenn jemand behauptete, man müsse eine solche Taufe wiederholen. Denn wenn dergleichen ohne jede zwingende Notwendigkeit geschieht, so ist es die Anmaßung eines fremden Amtes; drängt dagegen die Not, so ist es entweder überhaupt kein Vergehen oder doch ein läßliches“ (Gegen den Brief des Parmenian II,13,29). Was die Frauen betrifft, so ist auf dem Konzil zu Karthago ohne jede Ausnahme der Beschluß gefaßt worden, sie sollten es sich unter keinen Umständen herausnehmen, zu taufen.
Aber, so wird man entgegnen, es besteht doch die Gefahr, daß der Kranke, falls er ohne Taufe dahinscheidet, der Gnadengabe der Wiedergeburt verlustig geht! Nein, durchaus nicht. Wenn Gott die Verheißung, gibt, daß er unser Gott sein will und der Gott unseres Samens nach uns (Gen. 17,7), so kündigt er uns damit an, daß er unsere Kinder schon vor ihrer Geburt zu den Seinen annimmt. In jenem Wort ist ihr Heil beschlossen. Und es wird sich doch niemand erdreisten, Gott dermaßen seine Verachtung zu bezeugen, daß er es bestreiten wollte, daß Gottes Verheißung aus sich selbst heraus stark genug ist, ihre Wirkung zu zeitigen!
Wieviel Schaden jener übelerdachte Glaubenssatz mit sich gebracht hat, nach welchem die Taufe heilsnotwendig sein soll, das merken nur wenige, und deshalb nimmt man sich auch recht wenig vor ihm in acht. Denn wenn sich einmal die Ansicht durchgesetzt hat, daß alle verlorengehen, denen es nicht beschieden war, mit Wasser getauft zu werden, so ist ja unsere Lage übler als die des Alten Volkes, es steht dann geradezu so, als ob der Gnade Gottes bei uns engere Grenzen gezogen wären als unter dem Gesetz; denn unter solchen Umständen muß man ja meinen, Christus sei nicht gekommen, die Verheißungen zu erfüllen, sondern sie zunichtezumachen, weil ja dann die Verheißung an und für sich, die dazumal Wirkkraft genug besaß, um einem Kinde vor Ablauf des achten Tages (an dem die
Beschneidung stattfinden sollte) das Heil zu verschaffen, heute ohne die Beihilfe des Zeichens keine Gültigkeit hätte.
IV,15,21
Was für eine Gepflogenheit vor Lebzeiten des Augustin geherrscht hat, das ergibt sich zunächst aus Tertullian, der berichtet, einer Frau sei es nicht gestattet, in der Kirche zu reden, auch nicht zu lehren, zu taufen und zu opfern, damit sie nicht die Aufgabe eines dem Manne, geschweige denn eines dem Priester zustehenden Amtes für sich beanspruchte (De velandis virginibus 9). Ein vollgültiger Zeuge für den gleichen Sachverhalt ist Epiphanius, der an einer Stelle dem Marcion vorwirft, er gäbe den Frauen die Freiheit zu taufen (Gegen den Ketzer Marcion Panarion 42,4).
Ich kenne auch sehr wohl die Antwort derjenigen, die die entgegengesetzte Ansicht vertreten; sie sagen nämlich, es bestehe doch ein großer Unterschied zwischen der gewöhnlichen Übung und einem außerordentlichen Mittel, das beim Drang der äußersten Not zur Anwendung komme. Epiphanius aber erklärt, es sei Hohn und Spott, wenn man den Frauen die Freiheit zum Taufen gebe, und er macht dabei keine Ausnahme: daraus ergibt sich also deutlich genug, daß dieser Unfug von ihm verdammt wird, so daß er unter keinem Vorwande beschönigt werden kann (ebenda 42,4). Auch im dritten Buche (seiner Schrift), wo er die Lehre vertritt, selbst die heilige Mutter Christi habe solche Erlaubnis nicht gehabt, fügt er keine Einschränkung hinzu (ebenda 79,3).
IV,15,22
Unangebracht ist es, wenn man hier das Beispiel der Zippora anführt (Ex. 4,25). Da sich nämlich der Engel Gottes beruhigte, nachdem Zippora einen Stein genommen und ihren Sohn damit beschnitten hatte, so zieht man daraus fälschlich die Folgerung: also habe ihr Tun die Billigung Gottes gefunden. Wäre das richtig, so müßte man auch behaupten, der Gottesdienst, den die von Assyrien herangeführten Heiden aufgerichtet hatten, habe Gott wohlgefallen.
Es läßt sich aber mit anderen triftigen Gründen nachweisen, daß es unbedacht ist, wenn man das Vorgehen jener törichten Frau als etwas zur Nachahmung Bestimmtes hinstellt. Es würde schon voll und ganz zur Widerlegung dieser Ansicht genügen, wenn ich sagte: dies vorgehen der Frau ist etwas Einzigartiges gewesen und darf deshalb nicht als Beispiel verwendet werden, zumal da man nirgendwo zu lesen bekommt, daß in alter Zeit die Priester in besonderer Weise den Auftrag zur Beschneidung überkommen haben, und Beschneidung und Taufe also (in dieser Hinsicht) verschieden gestellt sind. Christi Worte nämlich sind klar und deutlich: „Gehet hin ... und lehret alle Völker und taufet sie ...“ (Matth. 28,19). Denn er hat ja die nämlichen Männer zu Herolden des Evangeliums und zu Dienern der Taufe eingesetzt; nun darf sich aber in der Kirche nach dem Zeugnis des Apostels niemand eine Ehre anmaßen, er sei denn „berufen ... gleichwie Aaron“ (Hebr. 5,4); wer also tauft, ohne rechtmäßig berufen zu sein, der greift in ein fremdes Amt (vgl. 1. Petr. 4,15).
Paulus spricht es doch laut und deutlich aus, daß auch bei ganz geringfügigen Dingen wie bei Speise und Trank alles „Sünde“ ist, was wir mit bedenklichem Gewissen angreifen (Röm. 14,23). Läßt man also die Taufe durch Frauen geschehen, so liegt darin eine noch viel schwerere Versündigung, weil ja auf diese Weise offenkundig die von Christus gelehrte Regel verletzt wird; denn wir wissen, daß es uns verboten ist, das auseinanderzureißen, was Gott verbindet.
Aber alles dies lasse ich beiseite; ich möchte nur, daß der Leser sein Augenmerk darauf richtet, daß Zippora nichts weniger im Sinne hatte, als Gott einen Dienst zu leisten. Sie sah ihren Sohn in Gefahr, und nun geriet sie in Ärger und Murren hinein und schleuderte, nicht ohne Entrüstung, seine Vorhaut zur Erde; damit be-
schimpfte sie aber ihren Mann derart, daß sie zugleich gegen Gott selbst zürnte. Kurz, es liegt auf der Hand, daß ihr ganzes Verhalten aus innerlicher Zuchtlosigkeit erwachsen ist; denn sie empörte sich gegen Gott und ihren Mann, weil sie sich genötigt sah, das Blut ihres Sohnes zu vergießen. Zudem ist auch zu bedenken: selbst wenn sie sich in allen anderen Dingen rechtschaffen verhalten hätte, so bliebe es doch jedenfalls ein unentschuldbarer Vorwitz, daß sie ihren Sohn in Gegenwart ihres Mannes beschnitt und – und dabei war doch dieser ihr Mann nicht irgendein beliebiger amtloser Mensch, sondern eben Mose, Gottes vornehmster Prophet, der so groß war, daß in Israel nie ein größerer aufgestanden ist als er. Zippora hatte also zu ihrem Tun ebensowenig das Recht, wie es etwa (auch nach der Meinung der Gegner) heutzutage die Frauen (zur Taufe) unter den Augen eines Bischofs hätten.
Aber diese Erörterung wird ohne Not alsbald von dem Grundsatz zur Klärung gebracht: wenn es Kindern widerfährt, daß sie aus dem gegenwärtigen Leben wieder ausziehen müssen, ehe es ihnen geschenkt war, im Wasser untergetaucht (d.h. getauft) zu werden, so werden sie dadurch nicht vom Himmelreich ausgeschlossen. Im Gegenteil: wir haben bereits gesehen, daß wir Gottes Bund keine geringe Unehre widerfahren lassen, wenn wir uns nicht auf ihn verlassen (und etwa so tun), als ob er an und für sich kraftlos wäre. Denn seine Wirkung ist weder von der Taufe noch von irgendwelchen Zusätzen abhängig. Das Sakrament kommt dann wie ein Siegel hinterher; aber nicht, als ob es Gottes Verheißung, die an und für sich kraftlos wäre, erst Geltung verschaffte, sondern es soll sie uns ausschließlich bekräftigen. Daraus ergibt sich: die Kinder der Gläubigen werden nicht zu dem Zweck getauft, daß sie nun erst Kinder Gottes würden, während sie zuvor fremd außerhalb der Kirche gestanden hätten; nein, sie werden darum mit einem feierlichen Zeichen in die Kirche aufgenommen, weil sie kraft der Gnadengabe der Verheißung schon zuvor zum Leibe Christi gehört haben.
Wenn also bei der Unterlassung des Zeichens weder Trägheit noch Geringschätzung, noch Nachlässigkeit waltet, so sind wir vor aller Gefahr sicher. Es ist also viel heiliger, wenn wir der Anordnung Gottes solche Ehrerbietung erweisen, daß wir keine Sakramente anderswoher suchen als daher, wo der Herr sie niedergelegt hat. Und können wir solche Sakramente nicht von der Kirche erlangen – so gilt doch: Gottes Gnade ist nicht dergestalt an die Sakramente gebunden, daß wir sie nicht (auch ohne sie) im Glauben aus dem Worte Gottes erlangten!
Sechzehntes Kapitel
Die Kindertaufe steht mit Christi Stiftung und mit dem Wesen des Zeichens aufs beste im Einklang
IV,16,1
Nun haben aber zu unserer Zeit gewisse krankhafte Geister wegen der Kindertaufe schwere Wirrnisse in der Kirche erregt, und sie lassen auch noch nicht davon ab, Aufruhr zu machen. Ich kann angesichts dieser Tatsache nicht umhin, hier einen Anhang folgen zu lassen, um das Wüten dieser Leute in Schranken zu weisen. Wenn dieser Anhang jemandem zu weitläufig vorkommt, so bitte ich, der Betreffende wolle bei sich erwägen, wie doch die Reinheit der Lehre bei einer so ausnehmend wichtigen Sache und wie ebenfalls der Friede der Kirche bei uns von solchem Wert sein müssen, daß man etwas, das zu ihrer Herbeiführung beitragen mag, ohne Widerwillen aufnehmen muß. Außerdem werde ich mich bemühen, diese Erörterung derartig einzurichten, daß sie nicht wenig dazu dienen wird, das Geheimnis der Taufe klarer zu erläutern.
Der Beweisgrund, mit dem die genannten Leute gegen die Kindertaufe angehen, ist dem Anschein nach wirklich beifallswürdig: sie erklären nämlich, die Kindertaufe sei auf keine Einsetzung Gottes begründet, sondern bloß durch die Vermessenheit und den verkehrten Vorwitz der Menschen aufgebracht worden und dann in törichter Leichtfertigkeit ohne Überlegung zur Annahme gekommen. (Dieser Beweisgrund scheint gut zu sein.) Denn wenn sich ein Sakrament nicht auf das sichere Fundament des Wortes Gottes stützt, so hängt es an einem Faden. Was will man aber sagen, wenn es sich bei rechter Betrachtung der Sache klar herausstellen wird, daß man solche Schmach fälschlich und unbillig der heiligen Anordnung Gottes aufbrennt?
Wir wollen also zunächst die Entstehung der Kindertaufe untersuchen. Und wenn es sich dann herausstellen sollte, daß sie allein von der Unbedachtheit der Menschen ersonnen ist, so wollen wir sie fahrenlassen und die wahre Übung der Taufe ausschließlich nach dem Worte Gottes bemessen. Erweist es sich aber, daß die Kindertaufe durchaus nicht ohne die gewisse Autorität Gottes besteht, so müssen wir uns davor hüten, durch Untergrabung der heiligen Einrichtungen Gottes auch gegen ihren Urheber selbst Verachtung zu zeigen.
IV,16,2
Zunächst ist es ein hinreichend bekannter und bei allen Frommen angenommener Satz, daß die rechte Betrachtung der Zeichen nicht bloß auf den äußeren Zeremonien beruht, sondern vor allem von der Verheißung abhängt und von den geistlichen Geheimnissen, zu deren Darstellung der Herr eben die Zeremonien anordnet. Wer also gründlich feststellen will, was für einen Wert die Taufe hat, welchem Zweck sie dient, kurz, was sie überhaupt ist, der darf seine Erkenntnis nicht bei dem „Element“ oder bei dem leiblichen Anblick stehenbleiben lassen, sondern muß sie vielmehr zu den Verheißungen Gottes emporrichten, die uns darin dargeboten, und zu den tieferen Verborgenheiten, die uns darin vergegenwärtigt werden. Wer die kennt, der hat die wohlbegründete Wahrheit der Taufe und sozusagen ihre ganze Substanz erfaßt, und von da aus wird er dann auch darüber belehrt werden, was die äußerliche Besprengung für einen Sinn und Nutzen hat. Und auf der anderen Seite: wer jene entscheidenden Dinge verächtlich beiseite läßt und seinen Sinn voll und ganz an die äußere Zeremonie geheftet und festgebunden hält, der wird weder die Kraft noch das eigentliche wesender Taufe verstehen, ja, er wird nicht einmal begreifen, was das Wasser (dabei) bedeutet und welchen Nutzen es hat. Dieser Satz ist von zu vielen und zu klaren Zeugnissen der Schrift bewiesen, als daß es vonnöten wäre, vorderhand noch
weiter auf ihn einzugehen. Es bleibt uns also noch die Aufgabe übrig, auf Grund der in der Taufe gegebenen Verheißungen danach zu forschen, was die Kraft und das Wesen der Taufe ist. Die Schrift zeigt, daß wir in der Taufe erstens auf die Reinigung von den Sünden hingewiesen werden, die wir durch Christi Blut erlangen. Zum Zweiten werden wir in der Taufe nach dem Zeugnis der Schrift auf die Ertötung des Fleisches hingewiesen, die in dem Teilhaben am Tode Christi besteht, durch welchen die Gläubigen zu einem neuen Leben wieder, geboren werden, – und damit auch (drittens) auf die Gemeinschaft mit Christus. Zu dieser Hauptsumme läßt sich alles in Beziehung setzen, was in der Schrift über die Taufe gelehrt ist; abgesehen davon, daß die Taufe außerdem auch ein Merkzeichen für die Bezeugung der Religion vor den Menschen ist.
IV,16,3
Nun stand aber für das Volk Gottes vor Einrichtung der Taufe an deren Stelle die Beschneidung, und wir wollen also untersuchen, welcher Unterschied zwischen diesen beiden Zeichen besteht und in welchen gemeinsamen Eigenschaften sie übereinstimmen. Daraus soll dann auch deutlich werden, was vom einen zum anderen hinüberführt.
Als der Herr dem Abraham den Auftrag gibt, die Beschneidung zu üben, da sagt er vorweg, er wolle sein und seines Samens Gott sein (Gen. 17,7.10). Dabei fügt er hinzu, wie die Fülle und der vollgenügende Reichtum aller Dinge bei ihm liegt (Gen. 17,1.6.8), damit Abraham dafür hält, daß seine Hand für ihn der Brunnquell alles Guten sein werde. In diesen Worten ist die Verheißung des ewigen Lebens enthalten. So legt sie Christus aus und entnimmt ihnen den Beweis, um die Unsterblichkeit und Auferstehung der Gläubigen darzutun. Denn Gott, so sagt er, „ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen“ (Matth. 22,32; Luk. 20,38). In dem gleichen Sinne äußert sich Paulus: er will den Ephesern zeigen, aus was für einem Verderben sie der Herr befreit hatte, und dazu zieht er aus der Tatsache, daß sie zu dem Bund der Beschneidung keinen Zutritt gehabt hatten, die Folgerung, sie seien damals „ohne Christum“, „ohne Gott“, „ohne Hoffnung“ und „fremd den Testamenten der Verheißung“ gewesen (Eph. 2,12) – denn alles das umschloß eben dieser Bund! Nun besteht aber der erste Zugang zu Gott, der erste Schritt zu unsterblichem Leben in der Vergebung der Sünden. Daher ergibt sich, daß der Verheißung von unserer Reinigung, die uns in der Taufe gegeben wird, diese (in der Beschneidung gegebene) entspricht. Nachher legt der Herr dem Abraham die Verpflichtung auf, in Aufrichtigkeit und Unschuld des Herzens „vor ihm zu wandeln“ (Gen. 17,1) – das steht zu der Abtötung und Wiedergeburt in Beziehung (wie sie in der Taufe zur Darstellung kommt). Und damit sich niemand im unklaren darüber ist, daß die Beschneidung ein Zeichen der Abtötung ist, so gibt Mose an anderer Stelle noch eine deutlichere Darlegung, indem er nämlich das israelitische Volk dazu ermahnt, dem Herrn die Vorhaut seines Herzens zu beschneiden (Deut. 10,16), und zwar darum, weil es „aus allen Völkern“ der Erde zu Gottes Volk erwählt worden sei (Deut. 10,15). Wie Gott, als er sich die Nachkommenschaft des Abraham zum Volke annimmt, den Befehl zur Beschneidung gibt (Gen. 17), so tut Mose kund, daß das Volk an seinem Herzen beschnitten werden muß, und damit legt er eben dar, was die Wahrheit (d.h. das wahre Wesen) der fleischlichen Beschneidung ist (Deut. 30,6). Und damit sich keiner aus eigener Kraft um solche Herzensbeschneidung mühte, so lehrt Mose, daß sie ein Werk der Gnade Gottes ist. Das alles wird von den Propheten so oft eingeschärft, daß es nicht erforderlich ist, hier die vielen Zeugnisse aufzuführen, die einem ohne weiteres immer wieder begegnen.
Wir stellen also fest, daß den Vätern in der Beschneidung die gleiche geistliche Verheißung zuteil geworden ist, wie sie uns in der Taufe gegeben wird; denn die Beschneidung gab ihnen eine bildliche Darstellung der Vergebung der Sünden und der Abtötung des Fleisches. Und außerdem: wie nach unserer obigen Darlegung das Fundament der Taufe Christus ist, in welchem diese beiden Gaben (Vergebung der Sünden und Abtötung des Fleisches) liegen, so ist er zweifellos auch das Fundament der Beschneidung. Denn er wird dem Abraham verheißen, und in ihm der Segen über alle Völker. Zur Versiegelung dieser Gnade aber wird ja das Zeichen der Beschneidung hinzugefügt.
IV,16,4
Jetzt läßt sich ohne Mühe feststellen, was in diesen beiden Zeichen Ähnliches liegt und was sie voneinander unterscheidet.
Die Verheißung, in der nach unserer Darstellung die Kraft der Zeichen besteht, ist bei beiden dieselbe: es ist eben die Verheißung der väterlichen Huld Gottes, der Vergebung der Sünden und des ewigen Lebens. Zweitens ist auch die im Bilde veranschaulichte Sache (res figurata) eine und dieselbe, nämlich die Wiedergeburt. Das Fundament, auf dem die Erfüllung dieser Dinge beruht, ist bei beiden das gleiche. Daher liegt in dem inwendigen Geheimnis, auf Grund dessen die ganze Kraft und Eigenart der Sakramente beurteilt werden muß, keinerlei Unterschied.
Der Unterschied, der noch bleibt, der liegt in der äußerlichen Zeremonie, die doch das geringste Stück ist – denn das wichtigste beruht ja auf der Verheißung und der im Bilde veranschaulichten Sache.
Daher kann man feststellen, daß sich alles, was zur Beschneidung paßt, zugleich auch auf die Taufe bezieht, abgesehen von dem Unterschied in der äußerlichen Zeremonie.
Auf diesen Zusammenhang und diesen Vergleich werden wir bei der Hand geleitet durch die Regel des Apostels, in der uns geboten wird, alle Auslegung der Schrift nach dem Verhältnismaß des Glaubens (analogia fidei) auszurichten (Röm. 12,3.6). Und in der Tat tritt die Wahrheit in diesem Stück dermaßen vor uns hin, daß wir sie schier betasten können. Denn genau wie einst für die Juden der erste Schritt in die Kirche in der Beschneidung bestand, weil sie ihnen ja gewissermaßen als Merkzeichen diente, vermöge dessen sie Gewißheit davon erlangten, daß sie in Gottes Volk und Hausgenossenschaft aufgenommen wurden, und mit dem sie auch wiederum ihrerseits versprachen, Gott nachzufolgen – genau so werden auch wir durch die Taufe Gott geweiht, um zu seinem Volke hinzugerechnet zu werden und uns wiederum auch selbst eidlich an ihn zu binden. Daraus ergibt sich unstreitig, daß die Taufe an die Stelle der Beschneidung getreten ist, um an uns das gleiche Amt zu erfüllen.
IV,16,5
Wir wollen jetzt der Frage nachgehen, ob es recht ist, wenn man die Taufe auch Kindern zuteil werden läßt. Wenn sich nun hier jemand bloß bei dem Element des Wassers und bei der äußerlichen Übung aufhalten will, es aber nicht unternimmt, seinen Sinn dem geistlichen Geheimnis zuzuwenden – müssen wir dann nicht sagen, daß der sich gar zu albern verhält, ja, Wahnvorstellungen hegt? Trägt man aber diesem geistlichen Geheimnis Rechnung, so wird man ohne Zweifel feststellen, daß die Taufe den Kindern mit Recht zugedient wird, und zwar weil sie ihnen eben zukommt. Denn der Herr hat in alter Zeit die Kinder nicht der Beschneidung gewürdigt, ohne sie (damit) all der Dinge teilhaftig zu machen, die dazumal durch die Beschneidung angezeigt wurden. Sonst, wenn er sein Volk mit trügerischen Merkzeichen verführt hätte, so hätte er mit ihm ja in lauter Gaukeleien seinen Spott getrieben – und das ist schon abscheulich anzuhören! Denn er gibt doch ausdrücklich kund, daß die Beschneidung eines Kindleins gleich einem Siegel wirken sollte, um die Verheißung des Bundes zu versiegeln. Bleibt der Bund nun aber fest
und unerschüttert bestehen, so kommt er heute den Kindern der Christen nicht weniger zu, als er sich unter dem Alten Testament auf die Kinder der Juden bezog. Und wenn sie nun der im Zeichen veranschaulichten Sache teilhaftig sind, weshalb soll ihnen dann das Zeichen vorenthalten werden? Wenn sie die Wahrheit erlangen, weshalb soll man ihnen das Bild verwehren?
Allerdings hängt bei dem Sakrament das äußere Zeichen derart mit dem Wort zusammen, daß es nicht von ihm losgerissen werden kann. Soll aber (trotzdem) eine Unterscheidung stattfinden, so frage ich: welches von beiden wollen wir denn höher achten? Es ist doch in der Tat so: da wir sehen, daß das Zeichen dem Worte dienstbar ist, so werden wir sagen, daß es ihm nachsteht, und wir werden ihm den niedrigeren Platz zuweisen. Wenn also das Wort (in) der Taufe für die Kinder bestimmt ist – weshalb soll man ihnen dann das Zeichen, das heißt: das Anhängsel zum Wort, vorenthalten? Wenn außer diesem einen Grunde auch keine anderen zur Verfügung stünden, so würde er doch vollauf hinreichen, um alle zu widerlegen, die hätten Einspruch erheben wollen.
Man macht aber den Einwand, für die Beschneidung habe ein festgelegter Tag bestanden (für die Taufe dagegen nicht). Aber das ist offenkundig eine Ausflucht. Wir geben zu, daß wir nicht mehr wie die Juden an bestimmte Tage gebunden sind, aber wenn der Herr zwar keinen Tag vorschreibender trotzdem erklärt, daß es ihm wohlgefällt, daß die Kinder in feierlichem Brauch in seinen Bund aufgenommen werden – was verlangen wir dann mehr?
IV,16,6
Jedoch eröffnet uns die Schrift eine noch gewissere Erkenntnis der Wahrheit. Denn es ist doch im höchsten Maße offenkundig, daß der Bund, den der Herr einmal mit Abraham geschlossen hat, für die Christen heute nicht weniger Bestand besitzt als einst für das jüdische Volk, und daß sich darum auch jenes Wort nicht weniger auf die Christen bezieht als damals auf die Juden (vgl. Gen. 17,10). Wir müßten sonst schon der Meinung sein, Christus hätte durch sein Kommen die Gnade des Vaters vermindert oder verkürzt – und solche Meinung wäre ja nicht frei von abscheulicher Gotteslästerung! So wurden also die Kinder der Juden, weil sie, zu Erben des Bundes gemacht, von den Kindern der Gottlosen unterschieden wurden, als „heiliger Same“ bezeichnet (Esra 9,2), und eben aus dem nämlichen Grunde gelten nun die Kinder der Christen als heilig, selbst wenn nur einer der Eltern, von denen sie abstammen, gläubig ist, und nach dem Zeugnis des Apostels unterscheiden sie sich von dem unreinen Samen der Abgöttischen (1. Kor. 7,14). Nun hat der Herr, gleich nachdem er mit Abraham den Bund geschlossen hatte, das Gebot gegeben, diesen Bund in einem äußeren Zeichen den Kindern zu versiegeln (Gen. 17,12); was für einen Grund sollen also die Christen angeben können, weshalb sie diesen Bund nicht auch heute vor ihren Kindern bezeugen und versiegeln sollten?
Es soll mir auch keiner den Einwand machen, nach der Vorschrift des Herrn sei kein anderes Merkzeichen zur Bekräftigung seines Bundes bestimmt gewesen als eben die Beschneidung, und die sei ja schon seit langer Zeit abgeschafft. Denn hier läßt sich leicht entgegnen: Gott hat für die Zeit des Alten Testaments zur Bekräftigung seines Bundes die Beschneidung eingesetzt; nachdem diese nun abgeschafft ist, bleibt doch allezeit die gleiche Begründung zu solcher Bekräftigung bestehen, die wir mit den Juden gemeinsam haben. Daher muß man fort und fort fleißig darauf achthaben, was den Juden und uns gemeinsam ist und was jene gesondert von uns besitzen. Der Bund ist gemeinsam, gemeinsam ist auch die Ursache zu seiner Bekräftigung. Nur die Art und Weise solcher Bekräftigung ist verschieden: das war nämlich für sie die Beschneidung, an deren Stelle dann für uns die Taufe getreten ist. Sonst, nämlich wenn das Zeugnis, vermöge dessen die Juden über das Heil ihres Samens Gewißheit bekamen, uns entrissen würde, hätte
Christi Kommen die Wirkung gehabt, daß Gottes Gnade für uns dunkler und schwächer bezeugt wäre, als sie es früher für die Juden war. Das kann man nun aber nicht ohne die schlimmste Schmähung Christi aussprechen; denn durch ihn hat sich doch die grenzenlose Güte des Vaters deutlicher und freundlicher auf die Erde ergossen und den Menschen kundgetan als je zuvor. Wir müssen also notwendig zugeben, daß solche Güte Gottes heute wahrhaftig nicht engherziger verborgen gehalten und auch nicht mit einem geringeren Zeugnis verherrlicht werden darf, als es einst unter den dunklen Schatten des Gesetzes geschehen ist.
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Nun wollte also Jesus, der Herr, einen Beweis geben, an dem die Welt begreifen sollte, daß sein Kommen nicht einer Eingrenzung der Barmherzigkeit des Vaters diente, sondern vielmehr ihrer Ausbreitung; und zu diesem Zweck nahm er die Kindlein, die man zu ihm brachte, freundlich in die Arme und tadelte die Jünger, die sie von, dem Zutritt zu ihm fernzuhalten versuchten, weil sie damit eben die, denen das Himmelreich gehörte, von ihm wegleiteten, durch den doch allein der Zugang zum Himmel offensteht (Matth. 19,13-15).
Aber, so könnte jemand sagen, was hat denn diese Umarmung, die Christus übt, mit der Taufe für Ähnlichkeit? Denn es wird doch nicht erzählt, daß Jesus diese Kinder getauft habe; sondern wir hören bloß, daß er sie aufgenommen, umarmt und gesegnet hat. Wenn wir also seinem Vorbild nachfolgen wollen, so wollen wir den Kindern mit Gebeten zur Seite stehen, aber sie nicht taufen.
Wir dagegen wollen Christi Verhalten etwas aufmerksamer bedenken als solche Art Menschen. Denn man darf nicht leichthin über die Tatsache hinweggehen, daß Christus dem Gebot, ihm die Kindlein zu bringen, die Ursache hinzufügt: „Denn solcher ist das Himmelreich“ (Matth. 19,14). Hernach bezeugt er dann seinen Willen mit der Tat, indem er die Kindlein in die Arme nimmt und sie dem Vater durch sein Gebet und seinen Segen anbefiehlt. Wenn es recht und billig ist, Christus die Kinder zuzuführen – weshalb denn nicht auch, sie zur Taufe zuzulassen, die doch das Merkzeichen unserer Einung und Gemeinschaft mit Christus ist? Wenn „solcher ist das Himmelreich“, weshalb soll man ihnen dann das Zeichen verweigern, mit dem ihnen gleichsam der Zugang zur Kirche eröffnet wird, damit sie, darin aufgenommen, den Erben des Himmelreichs zugerechnet werden? Wie ungerecht verfahren wir doch, wenn wir die abweisen, die Christus zu sich einlädt, wenn wir die, die er mit seinen Gaben ziert, (dieser Gaben) berauben, wenn wir die ausschließen, die er selbst aus freien Stücken zu sich läßt: Und wenn wir eine Erörterung darüber anstellen sollen, wie sehr sich die Taufe von dem unterscheidet, was Christus an dieser Stelle getan hat, so müssen wir doch fragen, wieviel höher soll uns denn etwa die Taufe stehen, in der wir (bloß) bezeugen, daß die Kinder in Gottes Bund eingeschlossen werden, als das Aufnehmen und Umarmen, die Handauflegung und das (segnende) Gebet, mit denen Christus in eigener Person erklärt, daß sie ihm gehören und von ihm geheiligt werden?
Unsere Widersacher bringen aber auch noch eine andere Ausflucht vor, mit der sie sich bemühen, der hier angezogenen Stelle auszuweichen; aber damit legen die nur ihre eigene Unwissenheit an den Tag. Sie ziehen nämlich aus Christi Wort: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ die spitzfindige Folgerung, diese Kinder wären schon etwas älter gewesen, weil sie doch bereits in der Tage gewesen wären, zu ihm zu „kommen“. Aber diese Kinder werden von den Evangelisten als „brephe kai paidia“ bezeichnet, und mit solchen Ausdrücken meinen die Griechen Kindlein, die noch an der Mutter Brust hängen. „Kommen“ ist also einfach für
„herannahen“ gesetzt! Da sieht man aber, was für Trügereien solche Leute zum Vorwand zu nehmen genötigt werden, die sich gegen die Wahrheit verhärtet haben! Ferner machen sie geltend, das Himmelreich werde an dieser Stelle nicht den Kindern (im Sinne des Kindesalters) zugesprochen, sondern solchen (Menschen, auch Erwachsenen), die ihnen ähnlich seien; denn es heiße ja „solcher“, nicht „ihrer“. Aber dieser Einwand ist um nichts stichhaltiger als der vorige. Denn wenn man das gelten läßt – was soll dann wohl aus Christi Begründung werden, mit der er doch zeigen will, daß ihm Kinder dem Alter nach nicht fremd sind? Er gebietet, man solle Kinder zu ihm kommen lassen, und darum ist nichts deutlicher, als daß er ein wirkliches Kindesalter meint! Damit dies sein Gebot nicht widersinnig erscheint, setzt er hinzu: „Denn solcher ist das Himmelreich.“ Darunter müssen doch (nach Lage der Dinge) notwendig auch die Kinder (im Sinne des Kindesalters) mit beschlossen sein; wenn es aber so steht, dann ist es auch völlig deutlich, daß der Ausdruck „solcher“ die Kinder selbst und solche bezeichnet, die ihnen ähnlich sind.
IV,16,8
Jetzt gibt es keinen mehr, der nicht einsähe, daß die Kindertaufe keineswegs „vom Menschen aus zusammengeschmiedet worden“ ist – sie stützt sich ja auf eine so kräftige Billigung der Schrift! Auch ist es kein hinreichend schönscheinendes Geschwätz, was diejenigen vorbringen, die den Einwand erheben, man finde es doch nirgendwo (berichtet), daß auch nur ein einziges Kind durch die Hand der Apostel getauft worden wäre. Nun wird das allerdings von den Evangelisten nicht ausdrücklich berichtet; aber auf der anderen Seite werden, sooft sich auch die Taufe einer Familie erwähnt findet, die Kinder nicht ausgeschlossen. Wer will nun also – vorausgesetzt, daß er eben nicht wahnwitzig ist – daraus den Schluß ziehen, die Kinder seien nicht getauft worden?
Wenn solcherlei Beweisgründe etwas gelten sollten, so müßten in gleicher Weise auch die Frauen vom Abendmahl des Herrn ausgeschlossen werden, weil wir nirgendwo zu lesen bekommen, daß sie zur Zeit der Apostel dazu zugelassen worden sind (Apg. 16,15.32). Wir begnügen uns hier eben mit der Regel des Glaubens, denn wenn wir erwägen, was die Einsetzung des Abendmahls für einen Sinn hat, so werden wir daraufhin auch leicht ein Urteil darüber gewinnen, welchen Menschen an seiner Ausübung Anteil zu geben ist.
Das gleiche beobachten wir auch bei der Taufe. Denn sobald wir darauf achten, zu welchem Zweck sie eingerichtet ist, liegt es für uns auch klar auf der Hand, daß sie den Kindern nicht weniger zukommt als Menschen von höherem Lebensalter. Man kann sie also den Kindern nicht wegnehmen, ohne dadurch dem Willen des Gebers, das heißt dem Willen Gottes, offen Eintrag zu tun.
Wenn die Wiedertäufer aber bei dem einfältigen Volke die Behauptung ausstreuen, es sei nach Christi Auferstehung eine lange Reihe von Jahren vergangen, in denen die Kindertaufe unbekannt gewesen sei, so ist das eine ganz jämmerliche Lüge. Denn es gibt keinen (kirchlichen) Schriftsteller, er mag noch so alt sein, der nicht mit Sicherheit den Ursprung der Kindertaufe auf die Zeit der Apostel zurückführte.
IV,16,9
Damit nun niemand die Kindertaufe als unnütz und müßig verachtet, bleibt uns noch übrig aufzuzeigen, welche Früchte aus dieser Übung sowohl den Gläubigen erwachsen, die ihre Kinder zur Taufe vor die Kirche bringen, als auch den Kindern selbst, die mit dem geheiligten Wasser getauft werden.
Wenn es allerdings jemandem in den Sinn kommt, die Kindertaufe unter diesem Vorwand (nämlich sie brächte keinen Nutzen) zu verlachen, der treibt auch mit dem von dem Herrn gegebenen Gebot der Beschneidung seinen Spott. Denn was sollten solche Leute wohl zum Kampf gegen die Kindertaufe vorbringen können,
das nicht auf das Beschneidungsgebot zurückfiele? Auf diese Weise ahndet der Herr die Anmaßung derer, die gleich verdammen, was sie mit dem Empfinden ihres Fleisches nicht begreifen.
Jedoch rüstet uns Gott noch mit anderen Waffen aus, um der Torheit dieser Leute entgegenzutreten. Diese heilige Einrichtung, durch die unserem Glauben, wie wir es erfahren, in herrlichster Tröstung Hilfe zuteil wird, verdient es nämlich nicht, als überflüssig bezeichnet zu werden. Denn das Zeichen Gottes, das einem jungen Knaben gegeben wird, bekräftigt wie ein aufgedrücktes Siegel die Verheißung, die dem frommen Vater oder der frommen Mutter gegeben ist, und erklärt es für abgemacht, daß der Herr nicht nur der Gott des Vaters oder der Mutter, sondern auch der Gott ihres Samens sein und nicht nur ihnen selbst mit seiner Güte und Gnade begegnen will, sondern auch ihren Nachfahren bis ins tausendste Glied. Da nun hierbei Gottes unermeßliche Freundlichkeit an den Tag tritt, so gibt sie solchen Menschen zunächst den reichsten Anlaß, seinen Ruhm zu preisen, und durchdringt ihr frommes Herz mit ungewöhnlicher Freude, durch welche sie zugleich um so kräftiger dazu angereizt werden, solch frommen Vater wiederzulieben, weil sie ja wahrnehmen, wie er um ihretwillen auch für ihre Nachkommenschaft sorgt.
Ich kümmere mich auch nicht darum, wenn hier jemand einwendet, zur Bekräftigung des Heils unserer Kinder müsse auch die Verheißung (allein) genügen. Denn es hat Gott (nun einmal) anders gefallen: er hat unsere Schwachheit erkannt und hat ihr eben in demselben Maße, in dem er sie erkannt hat, in dieser Sache Nachsicht widerfahren lassen wollen. Wer also die Verheißung, daß sich Gottes Barmherzigkeit auch auf seine Kinder ausdehnen soll, annimmt, der soll bedenken, daß es seine pflichtmäßige Aufgabe ist, solche Kinder zur Zeichnung mit dem Merkzeichen dieser Barmherzigkeit vor die Kirche zu tragen und sich daraufhin zu um so gewisserer Zuversicht zu ermuntern, weil er ja mit eigenen Augen sieht, wie der Bund des Herrn auf den Leib seiner eigenen Kinder aufgeprägt ist.
Auf der anderen Seite empfangen auch die Kinder aus ihrer Taufe mancherlei Gewinn, weil sie ja dadurch in den Leib der Kirche eingefügt werden und damit den anderen Gliedern (an diesem Leibe) noch wesentlich nachdrücklicher anbefohlen sind. Und wenn sie dann herangewachsen sind, so werden sie durch ihre Taufe nicht wenig zum ernsten Trachten nach der Verehrung Gottes angespornt, der sie ja durch das feierliche Merkzeichen ihrer Adoption zu Kindern angenommen hat, ehe sie ihn ihres Alters halben als Vater zu erkennen vermochten.
Und schließlich muß uns aufs höchste jenes Fluchwort schrecken, nach welchem Gott als Vergelter auftreten will, wenn es jemand verächtlich von sich weist, seinen Sohn mit dem Merkzeichen des Bundes zu zeichnen, weil ja durch solche Verachtung des Zeichens die dargebotene Gnade abgewiesen und gleichsam abgeschworen wird (Gen. 17,14).
IV,16,10
Jetzt wollen wir die Beweisgründe erörtern, mit denen gewisse rasende Tiere unaufhörlich gegen diese heilige Einrichtung Gottes anrennen. Zunächst: da sie wohl merken, wie sie durch die Ähnlichkeit von Taufe und Beschneidung über alle Maßen ins Gedränge und in die Enge geraten, so geben sie sich Mühe, diese beiden Zeichen durch einen großen Gegensatz voneinander loszutrennen, damit es nur ja den Anschein gewinnt, daß das eine mit dem anderen nichts gemein hätte. Sie behaupten nämlich, es würden hier (erstens) verschiedene Dinge bezeichnet, der Bund sei (zweitens) ein völlig anderer, und (drittens) auch der Ausdruck „Kinder“ sei nicht in gleichem Sinne gebraucht.
a) Wenn sie nun aber jene erste Behauptung zu beweisen trachten, so wenden sie vor, die Beschneidung sei ein Zeichen der Abtötung, nicht aber der
Taufe gewesen. Das geben wir ihnen wahrlich mit größter Bereitwilligkeit zu. Denn es gewahrt uns den besten Beistand. Wir benutzen auch zu unserem Beweis keinen anderen Satz als den, daß Taufe und Beschneidung Zeichen der Abtötung sind. Auf Grund dessen stellen wir fest, daß die Taufe an die Stelle der Beschneidung getreten ist, damit sie uns das gleiche veranschaulicht, was die Beschneidung vorzeiten den Juden als Zeichen vor Augen hielt.
b) Und wenn es gilt, die Verschiedenheit des Bundes zu verteidigen – in was für barbarischer Verwegenheit zerreißen und verderben sie dann die Schrift! Das geschieht nicht etwa an einer einzigen Stelle, sondern so, daß sie nichts heil und unversehrt lassen! Die Juden schildern sie uns nämlich als dermaßen fleischlich, daß sie mehr dem Vieh gleichen als den Menschen. Sie erklären eben, der Bund, der mit den Juden geschlossen worden sei, gehe nicht über das zeitliche Leben hinaus, und die Verheißungen, die ihnen zuteil geworden wären, bezögen sich bloß auf gegenwärtige und leibliche Güter. Was würde, wenn sich diese Lehre durchsetzte, anders übrigbleiben, als daß das jüdische Volk eine Zeitlang durch Gottes Wohltat gesättigt worden sei – nicht anders, als man eine Sauherde im Roben mästet –, um dann schließlich im ewigen Verderben zugrunde zu gehen? Denn wenn wir die Beschneidung und die mit ihr verbundenen Verheißungen anführen, dann antworten sie sogleich, die Beschneidung sei ein unter dem Buchstaben stehendes Zeichen (literale signum), und ihre Verheißungen seien fleischlich gewesen.
IV,16,11
In der Tat, wenn die Beschneidung ein unter dem Buchstaben stehendes Zeichen war, dann muß man über die Taufe genau in der gleichen Weise urteilen. Denn der Apostel erklärt im zweiten Kapitel des Briefes an die Kolosser das eine Zeichen nicht mehr für geistlich als das andere (Kol. 2,11). Er sagt nämlich, wir seien in Christo „beschnitten mit der Beschneidung ohne Hände“, „durch Ablegung des sündlichen Leibes“, der „in unserem Fleische“ wohnte; und diese Beschneidung nennt er die „Beschneidung Christi“. Dann fügt er zur Erläuterung dieses Satzes hinzu, wir seien „mit Christus begraben durch die Taufe“ (Kol. 2,12). Was will Paulus nun mit diesen Worten anders sagen, als daß die Erfüllung und die Wahrheit der Taufe zugleich die Wahrheit und die Erfüllung der Beschneidung ist, weil sie ja beide eine und dieselbe Sache bildlich veranschaulichen? Denn er bemüht sich doch zu beweisen, daß die Taufe für die Christen das gleiche ist, was früher für die Juden die Beschneidung war. Da wir aber schon deutlich auseinandergesetzt haben, daß die Verheißungen beider Zeichen und auch die in ihnen dargestellten Geheimnisse miteinander zusammenstimmen, so wollen wir uns vorderhand nicht dabei aufhalten. Ich möchte die Gläubigen nur ermahnen, auch ohne daß ich etwas sage, bei sich zu bedenken, ob man ein Zeichen, dem nichts als Geistliches und Himmlisches innewohnt, für irdisch und für Buchstabensache halten darf.
Damit sie nun aber ihren Nebeldampf nicht bei schlichten Leuten an den Mann bringen, wollen wir die Behauptung, mit der sie diese unverschämte Lüge zu decken suchen, im Vorbeigehen entkräften. Es ist gewisser als gewiß, daß die vornehmsten Verheißungen, in die der Bund verfaßt war, den Gott unter dem Alten Testament mit den Israeliten geschlossen hat, geistlich gewesen sind und sich auf das ewige Leben bezogen haben. Ebenso sicher ist es, daß diese Verheißungen, wie es sich gebührte, von den Vätern auch geistlich aufgenommen worden sind, damit sie aus ihnen Zuversicht auf das ewige Leben schöpften, nach dem sie sich mit allen Regungen ihres Herzens sehnten. Indessen leugnen wir aber durchaus nicht, daß Gott ihnen sein Wohlwollen auch mit irdischen und fleischlichen Wohltaten bezeugt hat, und behaupten auch, daß durch diese Wohltaten jene Hoffnung auf die geistlichen Verheißungen bekräftigt worden ist. So geschah
es, als er seinem Knecht Abraham die ewige Seligkeit zusagte: er wollte ihm einen handgreiflichen Beweis seiner Huld vor Augen stellen und fügte darum die weitere Verheißung hinzu, nach welcher Abraham das Land Kanaan besitzen sollte (Gen. 15,1.18). Man muß also alle irdischen Verheißungen, die dem jüdischen Volk zuteil geworden sind, in dem Sinne auffassen, daß die geistliche Verheißung als die Hauptsache stets den ersten Platz innehat und die anderen darauf bezogen werden. Da ich diese Dinge aber bei der Darlegung des Unterschieds zwischen dem Alten und Neuen Testament ausführlicher behandelt habe, so begnüge ich mich hier mit einer recht kurzen Erwähnung.
IV,16,12
c) Im Bezug auf die Bezeichnung „Kinder“ finden sie (zwischen Beschneidung und Taufe) den Unterschied, daß unter dem Alten Testament diejenigen als Kinder Abrahams erscheinen, die ihren (natürlichen) Ursprung von seinem Samen herleiteten, während dieser Begriff heute diejenigen meint, die seinem Glauben nachfolgen. Deshalb habe, so behaupten sie weiter, jene fleischliche Kinderschaft, die durch die Beschneidung in die Gemeinschaft des Bundes aufgenommen wurde, die geistlichen Kinder des Neuen Testaments bildlich veranschaulicht, die aus Gottes Wort zu unsterblichem Leben wiedergeboren seien.
In diesen Worten sehen wir freilich ein geringes Fünklein von Wahrheit; aber diese oberflächlichen Geister vergehen sich darin schwer, daß sie das an sich reißen, was ihnen zuerst in die Hand gerät, und sich dabei auf das eine Wort hartnäckig versteifen, während man doch eigentlich weiter gehen und vieles miteinander vergleichen müßte. Von da aus kann es dann nicht anders zugehen, als daß sie gleich auf irrige Vorstellungen geraten; denn sie gehen bei keiner Sache auf eine gründliche Erkenntnis aus.
Wir geben allerdings zu, daß der fleischliche Same Abrahams eine Zeitlang den Platz des geistlichen Samens innegehabt hat, der durch den Glauben in ihn eingeleibt wird. Denn wir werden seine Kinder genannt, ob auch zwischen ihm und uns keinerlei natürliche Verwandtschaft besteht (Gal. 4,28; Röm. 4,12). Wenn sie nun aber der Meinung sind – und diese Ansicht geben sie völlig klar zu erkennen –, daß dem fleischlichen Samen Abrahams niemals die geistliche Segnung Gottes verheißen worden sei, dann sind sie darin bei weitem im Irrtum. Daher müssen wir uns nach einem besseren Richtpunkt ausrichten, zu dem wir durch die völlig sichere Führung der Schrift hingeleitet werden. Der Herr verheißt also dem Abraham einen zukünftigen Samen, in dem „alle Völker der Erde gesegnet werden sollen“, und zugleich gibt er ihm die Zusage, er wolle sein und seines Samens Gott sein (Gen. 12,3; 17,6). Alle, die nun Christus als den Geber solchen Segens im Glauben annehmen, die sind Erben dieser Verheißung und heißen deshalb „Kinder Abrahams“.
IV,16,13
Allerdings haben sich nach der Auferstehung Christi die Grenzen des Reiches Gottes weit und breit zu allen Völkern hin unterschiedslos zu erweitern angefangen, damit nach Christi Wort von allen Seiten die Gläubigen versammelt werden, um „mit Abraham und Isaak und Jakob“ in himmlischer Herrlichkeit zu Tische zu sitzen (Matth. 8,11). Aber Gott hatte trotzdem schon viele hundert Jahre zuvor die Juden mit solch großer Barmherzigkeit umfaßt. Und da er unter Übergehung aller anderen dieses eine Volk auserwählt hatte, um in ihm eine Zeitlang seine Gnade beschlossen sein zu lassen, so erklärte er es auch für sein „Eigentum“ und für das von ihm erworbene Volk (Ex. 19,5).
Zur Bezeugung solcher Wohltätigkeit wurde dem Volke die Beschneidung gegeben, die ein Merkzeichen darstellte, das die Juden darüber unterweisen sollte, daß Gott der Hüter ihres Heils sei. Durch solche Erkenntnis wurden ihre
Herzen zur Hoffnung auf das ewige Leben aufgerichtet. Denn was soll dem wohl fehlen, den Gott einmal in seine Hut aufgenommen hat? Daher bedient sich auch der Apostel, um zu beweisen, daß die Heiden zusammen mit den Juden Abrahams Kinder sind, folgender Redeweise: „Abraham ist im Glauben gerechtfertigt worden, als er noch unbeschnitten war. Das Zeichen aber der Beschneidung empfing er dann zum Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens ..., auf daß er würde ein Vater aller, die da glauben und nicht beschnitten sind, ... und würde auch ein Vater der Beschneidung, und zwar nicht derer, die sich allein der Beschneidung rühmen, sondern auch wandeln in den Fußtapfen des Glaubens, welcher war in unserem Vater Abraham, als er noch nicht beschnitten war“ (Röm. 4,10-12; gelegentlich nicht Luthertext). Sehen wir da nicht, wie beide in ihrer Würde gleichgestellt werden? Denn eine Zeitlang, soweit es Gott bestimmt hatte, war Abraham ein Vater der Beschneidung. Als dann, wie der Apostel an anderer Stelle schreibt (Eph. 2,14), der Zaun abgebrochen war, der die Heiden von den Juden trennte, und damit auch den Heiden der Zugang zum Reiche Gottes eröffnet wurde, da wurde Abraham auch zu ihrem Vater, und zwar ohne das Zeichen der Beschneidung, weil sie ja an Stelle der Beschneidung die Taufe haben.
Wenn aber Paulus ausdrücklich erklärt, Abraham sei nicht der Vater derer, die bloß aus der Beschneidung sind (Röm. 4,12), so ist das gesagt, um die Überheblichkeit gewisser Leute zu dämpfen, die die Sorge um die Frömmigkeit beiseite ließen und sich bloß der Zeremonien rühmten. Es geschieht in der gleichen Weise, wie man auch heute der Eitelkeit derer entgegentreten könnte, die bei der Taufe nichts suchen als das Wasser.
IV,16,14
Aber hiergegen wird man eine andere Stelle aus dem Apostel, und zwar Römer 9,7, anführen: da lehrt er, die, welche nach dem Fleische (Abrahams Nachkommen) sind, seien nicht Abrahams Kinder (Röm. 9,7f.), sondern zu seinem Samen würden nur die gerechnet, die „Kinder der Verheißung“ sind. Denn es hat den Anschein, als wollte er hier zu verstehen geben, daß die fleischliche Verwandtschaft mit Abraham, die wir doch auf eine gewisse Stufe stellen, nichts sei.
Wir müssen jedoch aufmerksamer darauf achten, was für einen Fall der Apostel an dieser Stelle behandelt. Er will nämlich den Juden zeigen, wie gar nicht die Güte Gottes an den Samen Abrahams gebunden ist, ja, wie rein nichts die fleischliche Verwandtschaft mit ihm aus sich selbst heraus schafft, und zum Beweis dafür verweist er auf Ismael und Esau; denn diese wurden doch, obwohl sie nach dem Fleisch echte Nachkommen des Abraham waren, verworfen, als ob sie Fremde wären, während der Segen auf Isaak und Jakob ruhte. Daraus ergibt sich, was Paulus dann hernach behauptet: das Heil hängt von Gottes Barmherzigkeit ab, mit der er begegnet, wem er will (Röm. 10,15f.), und die Juden haben keinen Grund, weshalb sie sich unter Berufung auf den Bund gefallen oder rühmen sollten, sofern sie nicht das Gesetz des Bundes innehalten, das heißt: dem Wort gehorchen.
Und wiederum: nachdem er den Juden das eitle Vertrauen auf ihre Herkunft weggenommen hatte, gewahrte er nun doch auf der anderen Seite, daß der Bund, den Gott einmal mit der Nachkommenschaft Abrahams eingegangen war, in keiner Weise ungültig werden konnte, und deshalb setzt er im elften Kapitel auseinander, daß die fleischliche Verwandtschaft des Abraham ihrer Würde nicht beraubt werden kann; denn um ihretwillen sind ja, so lehrt er, die Juden die ersten und geborenen Erben des Evangeliums, wofern sie nicht wegen ihrer Undankbarkeit als Unwürdige verworfen sind, freilich dann so, daß der himmlische Segen nicht voll und ganz von ihrem Volke gewichen ist. Aus diesem Grunde nennt er sie, so widerspenstig und bundbrüchig sie auch waren, nichtsdestoweniger „heilig“
(Röm. 11,16) – soviel Ehre läßt er dem heiligen Geschlecht zuteil werden, das Gott seines heiligen Bundes gewürdigt hätte –, uns dagegen betrachtet er im Verhältnis zu ihnen gleichsam als nachgeborene oder auch als unzeitig geborene Kinder Abrahams, und zwar durch Aufnahme in die Kindschaft, nicht auf Grund natürlicher Abkunft, wie wenn ein Reis von seinem Baum heruntergeschlagen ist und auf einen fremden Stamm gepfropft wird (Röm. 11,17). Damit die Juden also nicht um ihr Vorrecht gebracht würden, so mußte ihnen das Evangelium an erster Stelle verkündigt werden. Denn sie sind in Gottes Hausgenossenschaft gleichsam die Erstgeborenen. Deshalb mußte ihnen diese Würde zuteil werden, bis sie die angebotene Ehre verwarfen und es mit ihrer Undankbarkeit dahin brachten, daß sie nun auf die Heiden überging. Mit wieviel Halsstarrigkeit sie nun aber auch dabei beharren mögen, mit dem Evangelium Krieg zu führen, so dürfen wir sie deshalb trotzdem nicht verachten, wenn wir doch bedenken, daß um der Verheißung willen Gottes Segen immer noch unter ihnen bleibt, wie denn jedenfalls der Apostel bezeugt, daß dieser Segen nie ganz von ihnen weichen wird; „denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (Röm. 11,29).
IV,16,15
Da sehen wir, was die Verheißung, die der Nachkommenschaft des Abraham gegeben worden ist, für einen Wert hat und auf welcher Waage sie gewogen werden muß. Daher zweifeln wir allerdings nicht daran, daß bei der Unterscheidung zwischen den Erben des Reiches und den Bastarden und Fremden allein Gottes Erwählung nach freiem Rechte das Regiment führt; zugleich jedoch erkennen wir, daß es ihm gefallen hat, den Samen Abrahams in besonderer Weise mit seiner Barmherzigkeit zu umfangen und diese Barmherzigkeit, damit sie als besser bezeugt gelte, durch die Beschneidung zu versiegeln. Mit der christlichen Kirche ist es nun durchaus ebenso bestellt. Denn wie Paulus oben auseinandersetzt, daß die Juden durch ihre Eltern geheiligt würden, so lehrt er an anderer Stelle, daß die Kinder der Christen von ihren Eltern die gleiche Heiligung empfangen (1. Kor. 7,14). Daraus ergibt sich, daß sie verdientermaßen von anderen abgesondert werden, die ihrerseits als unrein beschuldigt werden.
Wer kann nun noch daran zweifeln, daß es völlig verkehrt ist, wenn die Wiedertäufer jetzt weiter die Behauptung folgen lassen, die Kinder, die dazumal beschnitten worden seien, hätten bloß die geistliche Kindschaft bildlich veranschaulicht, die sich aus der Wiedergeburt durch das Wort Gottes erhebt? So spitzfindig nämlich philosophiert der Apostel nicht, wenn er doch schreibt, Christus sei ein „Diener der Beschneidung“, um die Verheißungen zu erfüllen, die den Vätern gegeben waren (Röm. 15,8); denn das ist doch gerade, als wenn er sich in folgender Weise ausspräche: da der Bund, der mit Abraham geschlossen ist, auf seinen Samen Bezug hat, so ist Christus, um das vom Vater einmal gegebene Wort zu erfüllen und einzulösen, dem jüdischen Volke zum Heil gekommen. Sieht man nun, wie nach dem Urteil des Paulus auch nach der Auferstehung Christi die Verheißung des Bundes nicht nur sinnbildlich (allegorice), sondern dem Wortlaut nach an dem fleischlichen Samen Abrahams in Erfüllung gehen mußte? Hierher gehört es auch, daß Petrus Apostelgeschichte 2,39 den Juden die Kunde gibt, daß ihnen und ihrem Samen kraft Bundesrechts die Wohltat des Evangeliums zukomme, und daß er sie dann gleich im folgenden Kapitel als „des Bundes Kinder“, das heißt seine Erben, bezeichnet (Apg. 3,25). Hiervon weicht auch nicht wesentlich die andere oben bereits angeführte Stelle aus dem Apostel ab, an der er dafürhält und behauptet, daß die Beschneidung, die den Kindern aufgeprägt ist, ein Zeichen der Gemeinschaft darstellt, die sie mit Christus haben (Eph. 2,11f.).
Und wahrlich – was soll denn, wenn wir auf das Geschwätz der Wiedertäufer hören, aus jener Verheißung werden, mit der der Herr im zweiten Hauptstück (Gebot) seines Gesetzes seinen Knechten die Zusage gibt, er wolle ihrem Samen bis
ins tausendste Glied „Barmherzigkeit tun“? Sollen wir hier etwa zu Allegorien unsere Zuflucht nehmen? Aber das wäre doch eine gar zu possenhafte Ausflucht. Oder sollen wir etwa behaupten, das sei abgeschafft? Aber damit würde das Gesetz der Auflösung verfallen – und Christus wollte es doch vielmehr bekräftigen, sofern es uns zum Guten und zum Leben gereicht! Es soll also keiner Auseinandersetzung unterworfen sein, daß Gott gegen die Seinen so gütig und freigebig ist, daß er um ihretwillen auch die Kinder, die sie gezeugt haben, zu seinem Volke gezählt haben will.
IV,16,16
Die Unterscheidungen, die die Wiedertäufer außerdem zwischen Taufe und Beschneidung einzutragen sich bemühen, sind nicht nur lächerlich und alles Scheins einer Begründung ledig, sondern auch untereinander widerspruchsvoll. Denn sie behaupten zunächst, die Taufe beziehe sich auf den ersten Tag des geistlichen Streites, die Beschneidung dagegen auf den achten, nachdem die Abtötung bereits vollendet sei. Aber gleich darauf vergessen sie diesen Satz, kehren das Liedlein um und nennen die Beschneidung eine bildliche Darstellung der Abtötung des Fleisches, die Taufe dagegen das Begrabenwerden des Fleisches, zu dem nur die kommen könnten, die bereits gestorben wären. Welche Wahnvorstellungen geisteskranker Leute könnten wohl in solcher Leichtfertigkeit auseinanderbersten? Denn nach dem ersten Satz muß die Taufe vor der Beschneidung den Vorrang haben, nach dem zweiten wird sie auf einen untergeordneten Platz verwiesen. Jedoch ist das Beispiel nicht neu, daß die Geister der Menschen, sobald sie alles, was sie sich erträumt haben, als gewissestes Wort Gottes anbeten, dergestalt auf und nieder wirbeln.
Wir behaupten also, daß jener erstgenannte Unterschied eine reine Träumerei darstellt. Wenn man schon den achten Tag (an dem die Beschneidung statt, finden sollte) zum Anlaß für allegorische Deutungen nehmen wollte, so durfte es trotzdem nicht in dieser Weise geschehen. Viel besser wäre es, wenn man die Zahl acht nach dem Vorgang der Alten auf die am achten Tage (nach Beginn der Leidenszeit) erfolgte Auferstehung bezöge, weil wir ja wissen, daß auf ihr die Neuheit des Lebens beruht, oder auf den ganzen Lauf des gegenwärtigen Lebens, in dem ja die Abtötung immerfort weitergehen muß, bis es zu seinem Ende gekommen und damit auch die Abtötung des Fleisches vollkommen geworden ist. Jedoch läßt es sich auch so ansehen, daß Gott auf die Zartheit des Alters hat Rücksicht nehmen wollen, indem er die Beschneidung auf den achten Tag aufschob, weil ja die (dadurch entstehende) Verwundung für die eben erst Geborenen, die noch von der Mutter her eine rötliche Haut hatten, recht gefährlich werden mußte.
Wieviel mehr Kraft mag nun die zweite Behauptung der Wiedertäufer haben, daß wir, schon zuvor gestorben, durch die Taufe begraben würden? Denn die Schrift erhebt doch ausdrücklich Einspruch dagegen und sagt, daß wir mit der Bestimmung in den Tod begraben werden, daß wir ersterben und daraufhin nach solcher Abtötung trachten (Röm. 6,4)!
Ebenso geschickt ist die Ausflucht: wenn die Taufe der Beschneidung gleichgestaltet werden sollte, so dürften Mädchen eben nicht getauft werden. Denn es ist doch völlig abgemacht, daß durch das Zeichen der Beschneidung die Heiligung des Samens Israels bezeugt wurde; ist es aber so, dann ergibt sich daraus auch ohne Zweifel, daß dies Zeichen zur Heiligung von männlichen wie weiblichen Nachkommen gleichermaßen gegeben war. Es wurden aber allein die Leiber der Knäblein mit diesem Zeichen versehen, weil es bei ihnen von Natur aus möglich war; aber doch so, daß die Mädchen durch die Knaben gewissermaßen Mitgenossen und Teilhaberinnen an diesem Zeichen waren. Wir wollen also dergleichen Albernheiten der Wiedertäufer weit von uns fern sein lassen und an der Ähnlichkeit von Taufe und Beschneidung festhalten; denn wir sehen, daß diese in dem inwendigen Geheimnis, in den (mit ihnen verbundenen) Verheißungen, in der Ausübung und in der Wirkung ganz hervorragend zustande kommt.
IV,16,17
Eine sehr stichhaltige Begründung, weshalb man die Kinder von der Taufe fernhalten müßte, meinen die Wiedertäufer auch vorzuschützen, indem sie darauf verweisen, daß die Kinder ihres Alters wegen noch nicht imstande seien, das in der Taufe dargestellte Geheimnis zu erfassen. Denn dies Geheimnis (so sagen sie) ist doch die geistliche Wiedergeburt, die nicht in die erste Kindheit fallen kann. Daher ziehen sie die Folgerung, man müsse die Kinder, ehe sie zu dem Alter herangewachsen seien, das zu einer zweiten Geburt paßte, für nichts anderes achten als eben für Kinder Adams. Aber gegen alle diese Behauptungen erhebt Gottes Wahrheit allenthalben Widerspruch. Denn wenn man diese Kinder unter Adams Kindern lassen muß, so läßt man sie damit im Tode; denn in Adam können wir nichts als sterben. Demgegenüber aber gebietet Christus, man solle ihm die Kinder zuführen (Matth. 19,14). Und warum das? Weil er das Leben ist! Um sie also lebendig zu machen, macht er sie seiner teilhaftig – während die Wiedertäufer sie unterdessen weit von ihm wegweisen und dem Tode überantworten.
Wenn sie nämlich die Ausflucht machen, diese Kinder gingen doch, wenn man sie als Adams Kinder betrachtete, deshalb nicht verloren, so wird ihr Irrtum vom Zeugnis der Schrift mehr als genug widerlegt. Denn sie spricht es aus, daß in Adam alle sterben (1. Kor. 15,22), und daraus folgt dann doch, daß keine Hoffnung auf Leben mehr übrigbleibt als allein in Christus. Damit wir also zu Erben des Lebens werden, müssen wir mit ihm Gemeinschaft haben. Und da auf der anderen Seite anderwärts geschrieben steht, daß wir von Natur allesamt dem Zorn Gottes verfallen (Eph. 2,3) und in Sünden empfangen sind (Ps. 51,7), womit doch fort und fort die Verdammnis verbunden ist, so müssen wir also aus unserer Natur ausziehen, bevor uns ein Zugang zum Reiche Gottes offensteht. Und wie sollte sich wohl eine deutlichere Aussage finden lassen als die, daß „Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können“ (1. Kor. 15,50)? Es muß also alles, was uns eigen ist, abgetan werden – und das wird nicht ohne Wiedergeburt geschehen –; dann (erst) werden wir diesen Besitz des Reiches schauen! Und endlich: redet Christus wahrheitsgemäß, wenn er verkündigt, daß er das Leben ist (Joh. 11,25; 14,6), so müssen wir notwendig in ihn eingeleibt werden, damit wir aus der Knechtschaft des Todes befreit werden.
Aber, so sagen sie, wie sollen denn Kinder wiedergeboren werden, die noch mit gar keiner Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattet sind? Wir antworten dagegen: wenn das Werk Gottes auch unserem Begreifen nicht zugänglich ist, so ist es trotzdem nicht etwa nicht vorhanden. Ferner ist völlig klar, daß die Kinder, die errettet werden sollen – und zweifellos werden aus diesem Lebensalter durchaus einige errettet –, zuvor von dem Herrn wiedergeboren werden. Denn wenn sie die ihnen angeborene Verderbtheit vom Mutterleibe an mitbringen, so müssen sie von ihr gereinigt sein, ehe sie in Gottes Reich eingelassen werden; denn da kommt nichts Beflecktes oder Besudeltes hinein (Apk. 21,27). Wenn sie als Sünder geboren werden, wie es doch David sowohl als Paulus behaupten (Eph. 2,3; Ps. 51,7), so bleiben sie Gott entweder mißfällig und verhaßt – oder sie müssen gerechtfertigt werden. Und was suchen wir weiter, wo doch der Richter selbst offen erklärt, daß der Zugang zum Leben keinem offensteht als den Wiedergeborenen (Joh. 3,3)?
Um widerspruchslustige Leute von der Art der Wiedertäufer zum Schweigen zu bringen, so hat er an Johannes dem Täufer, den er (schon) im Mutterleibe heiligte, einen Beweis dafür erbracht, was er bei den anderen zu tun vermag (Luk. 1,15). Nichts werden die Wiedertäufer auch mit der Ausflucht erreichen, mit der sie hier spielen: sie sagen nämlich, das sei (nur) einmal so geschehen, und daraus ergebe sich nicht gleich die Folgerung, daß der Herr mit den Kindern durchweg so zu verfahren pflege. Denn in dieser Weise führen wir unseren Beweis auch nicht! Wir wollen nur zeigen, daß es unbillig und böswillig ist, wenn sie Gottes Kraft in so
enge Grenzen zwängen, in die sie sich nicht einschließen läßt. Ebensoviel Gewicht hat auch eine zweite Ausflucht, die sie machen. Sie bringen nämlich die Behauptung vor, nach der gebräuchlichen Gepflogenheit der Schrift bedeute die Wendung „Vom Mutterleibe an“ ebensoviel wie „Von früher Jugend auf“. Aber es läßt sich doch klar und deutlich wahrnehmen, daß der Engel, als er dem Zacharias jene Botschaft kundtat (Luk. 1,15), etwas anderes im Sinne gehabt hat, nämlich daß das Kind, noch nicht geboren, mit dem Heiligen Geist erfüllt werden sollte. Wir wollen also nicht versuchen, Gott ein Gesetz aufzuerlegen, daß er etwa die, die er will, nicht in der gleichen Weise heiligen könnte, wie er das Kindlein Johannes geheiligt hat; denn seiner Kraft ist doch (seither) nichts abgegangen.
IV,16,18
Gewißlich ist Christus dazu von frühester Jugend auf geheiligt worden, daß er seine Auserwählten von jedem beliebigen Lebensalter an ohne Unterschied in sich heiligte. Denn wie er zur Vernichtung der Schuld des Ungehorsams, der in unserem Fleische begangen worden war, eben dies Fleisch selber anzog, um um unsertwillen und an unserer Statt den vollkommenen Gehorsam zu leisten, so wurde er auch „empfangen vom Heiligen Geiste“, damit er, in dem von ihm angenommenen Fleische mit seiner Heiligkeit voll und ganz durchdrungen, ihn auch auf uns überfließen ließe. Haben wir in Christus (seit seinen frühesten Kindertagen) das vollkommenste Vorbild aller Gnadengaben, mit denen Gott seine Kinder beschenkt, so kann er uns eben auch in dem Stück als Beweis dienen, daß das kindliche Alter nicht gar so sehr im Widerspruch zur Heiligung steht.
Wie dem auch sei, so stellen wir doch unstreitig fest, daß keiner von den Auser, wählten (also auch kein Kind!) aus dem gegenwärtigen Leben abberufen wird, der nicht zuvor durch den Geist Gottes geheiligt und wiedergeboren würde. Wenn die Wiedertäufer dagegen den Einwand erheben, der Heilige Geist kenne in der Schrift keine andere Wiedergeburt als die, welche „aus unvergänglichem Samen“, das heißt durch das Wort Gottes, geschehen sei (1. Petr. 1,23), so ist das eine verkehrte Auslegung jener Petrus-Stelle; denn Petrus faßt darin einzig die Gläubigen zusammen, die durch die Predigt des Evangeliums unterwiesen worden waren. Wir geben freilich zu, daß für solche Gläubige das Wort des Herrn der einzige Same ihrer geistlichen Wiedergeburt ist; aber wir bestreiten, daß man daraus entnehmen könnte, daß Kinder nicht durch Gottes Kraft wiedergeboren werden könnten; denn diese Kraft kann er so leicht und so mühelos handhaben, wie sie für uns unbegreiflich und bewunderungswürdig ist. Ferner wäre es auch nicht gefahrlos genug, dem Herrn das Vermögen abzusprechen, sich auch den Kindern auf irgendeine Weise kundzugeben und dadurch erkennbar zu machen.
IV,16,19
Aber, so sagen sie, der Glaube kommt doch aus dem Hören (Röm. 10,17), und davon haben doch die Kinder noch gar keine Erfahrung gewonnen; auch können sie nicht in der Lage sein, Gott zu erkennen, weil Mose lehrt, daß ihnen die Erkenntnis des Guten und Bösen abgeht (Deut. 1,39). Aber die Wiedertäufer bemerken nicht, daß der Apostel, wenn er das Hören (der Predigt) für den Anfang des Glaubens erklärt, allein die gewöhnliche Ordnung und Austeilungsform beschreibt, die der Herr bei der Berufung der Seinen innezuhalten pflegt, ihm aber keine bleibende Regel setzt, so daß er kein anderes Verfahren einschlagen könnte. Eine solche andere Weise hat er unzweifelhaft bei der Berufung vieler Menschen angewandt, die er auf innerliche Weise durch die Erleuchtung vermittelst des Heiligen Geistes ohne jedes Dazwischentreten der Predigt mit der wahren Erkenntnis seiner selbst beschenkt hat. Wenn die Wiedertäufer aber der Ansicht sind, es sei recht widersinnig, wenn man den Kindern, denen doch
Mose (schon) das Begreifen von Gut und Böse abspricht, irgendwelche Erkenntnis Gottes zuschreiben wollte, so möchte ich doch, daß sie mir die Frage beantworteten, welche Gefahr denn darin liegen soll, wenn man sagt, daß sie nun ein Stücklein der Gnade empfangen, deren vollen Reichtum sie bald nachher genießen sollen. Denn die Fülle des Lebens besteht doch in der vollkommenen Erkenntnis Gottes; wenn nun aber einige unter den Kindern, die der Tod gleich in ihrer frühesten Jugend aus diesem Leben hinwegnimmt, in das ewige Leben übergehen, so werden sie damit also unzweifelhaft zum Anschauen des Angesichts Gottes in seiner vollendeten Gegenwärtigkeit zugelassen. Wenn der Herr also solche Kinder mit dem vollen Strahlenglanz seines Lichtes erleuchten wird – weshalb sollte er sie dann nicht auch, wenn es ihm gefällt, für die gegenwärtige Zeit mit einem geringen Fünklein solchen Lichtes bestrahlen, vor allem wo er sie doch erst dann ihrer Unwissenheit entkleidet, wenn er sie aus dem Knechthaus des Fleisches hinwegnimmt? Ach sage dies nicht, weil ich unbedacht behaupten wollte, die Kinder seien mit dem nämlichen Glauben begabt, den wir in uns erfahren, oder sie hätten überhaupt eine dem Glauben ähnliche Erkenntnis – das möchte ich lieber in der Schwebe lassen –, sondern nur, um die törichte Anmaßung solcher Leute ein wenig in Schranken zu weisen, die, je wie ihnen die Backen aufgeblasen sind, alles Erdenkliche unbekümmert bestreiten oder behaupten.
IV,16,20
Um aber ihrer Ansicht in diesem Stück einen noch kräftigeren Nachdruck zu verschaffen, fügen sie die Behauptung hinzu, die Taufe sei doch das Sakrament der Buße und des Glaubens; aus diesem Grunde aber müsse man sich, da doch weder Buße noch Glauben in die zarteste Kindheit fielen, davor in acht nehmen, daß diese Bedeutung des Sakraments durch Zulassung der Kinder zur Gemeinschaft an der Taufe eitel und inhaltslos würde. Aber diese Geschosse richten sich nun mehr gegen Gott als gegen uns. Denn es geht aus vielen Zeugnissen der Schrift völlig deutlich hervor, daß auch die Beschneidung ein Zeichen der Buße gewesen ist. Zudem wird sie von Paulus als „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“ bezeichnet (Röm. 4,11). Man muß also Gott selbst darüber zur Rechenschaft ziehen, weshalb er geboten hat, die Beschneidung den Leibern der Kinder aufzuprägen. Denn da es nun mit Taufe und Beschneidung gleich bestellt ist, so können sie der Beschneidung nichts geben, ohne es zugleich auch der Taufe zuzugestehen. Wenn sie sich hier wieder nach ihrer gewohnten Ausflucht umsehen, damals seien durch das kindliche Alter die geistlichen Kinder bildlich veranschaulicht gewesen, so ist ihnen der Weg schon verrammelt. Wir behaupten also: da Gott die Beschneidung, die doch ein Sakrament der Buße und des Glaubens war, den Kindern hat zuteil werden lassen, so kann es nicht widersinnig erscheinen, wenn sie nun auch der Taufe teilhaftig werden, es sei denn, daß man gegen Gottes Einsetzung offen seine Wut auslassen wollte. Jedoch erstrahlt wie in allen Taten Gottes, so auch eben in dieser genug Weisheit und Gerechtigkeit, um den Widerstand der Gottlosen zu dämpfen. Denn obwohl die Kinder in dem Augenblick, da sie beschnitten wurden, mit ihrem Verstand noch nicht begriffen, was jenes Zeichen für eine Bedeutung hätte, so wurden sie trotzdem in Wahrheit zur Abtötung ihrer verderbten und befleckten Natur beschnitten, um dann später, wenn sie herangewachsen waren, ihre Betrachtung auf solche Abtötung zu richten. Kurzum, dieser Einwand läßt sich ohne Mühe durch die Erwägung aus der Welt schaffen: die Kinder werden auf ihre künftige Buße und ihren künftigen Glauben hin getauft; beide haben in ihnen noch keine Gestalt gewonnen, aber durch das verborgene Wirken des Geistes liegt dennoch der Same zu beiden in ihnen beschlossen.
Durch diese Antwort wird dann auch alles auf einmal umgestoßen, was sie von der Bedeutung der Taufe hernehmen und gegen uns kehren. Dazu gehört auch der Lob-
preis, mit dem die Taufe von Paulus ausgezeichnet wird, indem er sie das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung“ nennt (Tit. 3,5). Daraus ziehen sie den Schluß, die Taufe dürfte also niemand gewährt werden, er sei denn dieser Dinge fähig. Aber wir können dann eben auf der anderen Seite wieder einwenden, daß dann auch die Beschneidung, die doch die Wiedergeburt bezeichnete, niemandem anders als Wiedergeborenen hätte erteilt werden dürfen. Und auf diese Weise würde dann Gottes Einsetzung von uns verdammt werden. Daher haben, wie ich schon mehrfach berührt habe, alle Beweisgründe, die dazu angetan sind, die Beschneidung ins Wanken zu bringen, auch zur Bekämpfung der Taufe keine Kraft. Sie können auch nicht entwischen, wenn sie sagen: was sich mit Sicherheit auf Gottes Autorität stütze, das sei für uns fest und unerschütterlich, auch wenn keine Begründung dafür erkennbar wäre, diese Ehrerbietung aber komme weder der Kindertaufe noch anderen ähnlichen Dingen zu, weil sie uns nicht durch ein ausdrückliches Wort Gottes anbefohlen seien. Denn sie bleiben dann immerfort in dem Entweder-Oder befangen: Gottes Gebot, die Kinder zu beschneiden, war entweder rechtmäßig und keinerlei Ausflüchten unterworfen – oder es war eben tadelnswert; lag nun aber nichts Ungereimtes oder Widersinniges in diesem Gebot, so wird man auch bei der Übung der Kindertaufe nichts Widersinniges aufweisen können.
IV,16,21
Den Makel der Widersinnigkeit, den sie uns nun an dieser Stelle aufzubrennen versuchen, wischen wir folgendermaßen ab. Wenn Menschen, die der Herr seiner Erwählung gewürdigt hat, nach Empfang des Zeichens der Wiedergeburt aus diesem gegenwärtigen Leben wieder ausziehen, ehe sie herangewachsen sind, so erneuert er sie mit der uns unbegreiflichen Kraft seines Geistes auf eine Weise, von der er selbst allein vorsieht, daß sie zum Ziele führt. Widerfährt es ihnen, zu einem Alter aufzuwachsen, in dem sie über die Wahrheit der Taufe unterwiesen werden können, so werden sie dadurch um so mehr zum Eifer um jene Erneuerung angefeuert, wo sie ja nun erfahren, daß sie mit dem Merkzeichen solcher Erneuerung schon gleich seid frühester Jugend beschenkt worden sind, um im ganzen Lauf ihres Lebens nach ihr zu trachten.
Eben hierauf muß es bezogen werden, wenn Paulus an zwei Stellen lehrt, wir würden durch die Taufe mit Christus begraben (Röm. 6,4; Kol. 2,12). Denn er meint hier nicht, daß der, der durch die Taufe eingeweiht werden soll, schon vorher mit Christus begraben sein muß, sondern er legt die Lehre, die der Taufe zugrunde liegt, schlicht dar, und zwar solchen gegenüber, die bereits getauft sind. Es werden also nicht einmal wahnwitzige Leute auf Grund dieser Stelle die Meinung verteidigen können, diese Lehre gehe der Taufe vorauf. In dieser Weise machten Mose und die Propheten das Volk darauf aufmerksam, was die Beschneidung für eine Bedeutung hatte, mit der doch die Hörer schon als Kinder gezeichnet worden waren (Deut. 10,16; Jer. 4,4)!
Den gleichen Sinn hat es, wenn Paulus auch an die Galater schreibt, als sie getauft worden wären, da hätten sie „Christum angezogen“ (Gal. 3,27). Wozu das? Sie sollten eben fortan Christo leben, weil sie ihm vorher nicht gelebt hatten! Und obwohl bei älteren Menschen der Empfang des Zeichens auf das Begreifen des Geheimnisses folgen soll, so muß doch bald dargelegt werden, daß es mit den Kindern eine andere Bewandtnis hat.
Anders läßt sich auch jene Petrusstelle nicht auffassen, in der die Wiedertäufer einen wesentlichen Schutz zu finden meinen; Petrus sagt da von der Taufe, sie sei nicht eine Abwaschung zum Abtun der Befleckungen des Leibes, sondern das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott, durch die Auferstehung Christi (1. Petr. 3,21). Auf Grund dieser Stelle behaupten sie nun, der Kindertaufe werde nichts übriggelassen, als daß sie eine eitle Sache, ein Nebelrauch sei, und zwar, weil eben diese
Wahrheit (von der Petrus redet) weit von ihr weg sei. Aber hier versündigen sie sich abermals durch die irrige Meinung, die darin besteht, daß sie verlangen, die Sache müsse stets in der zeitlichen Reihenfolge dem Zeichen vorausgehen. Denn auch die Wahrheit der Beschneidung bestand in dem nämlichen „Zeugnis eines guten Gewissens“. Hätte diese Wahrheit nun unumgänglich (der Zeit nach) vorausgehen müssen, so wären die Kinder nie und nimmer auf Gottes Geheiß beschnitten worden. Aber indem der Herr selbst zeigt, daß der Wahrheit der Beschneidung das Zeugnis eines guten Gewissens innewohnt, und indem er trotzdem gleichzeitig die Weisung gibt, die kleinen Kinder zu beschneiden, gibt er genugsam zu verstehen, daß in dieser Hinsicht die Beschneidung auf die künftige Zeit hin erteilt wird. Daher darf man in der Kindertaufe an gegenwärtiger Wirkung nicht mehr suchen, als daß sie den Bund, den der Herr mit den Kindern geschlossen hat, bekräftigt und als gültig erweist. Die sonstige Bedeutung dieses Sakraments wird dann später folgen, zu der Zeit, die Gott selber vorgesehen hat.
IV,16,22
Ich nehme an, daß es jetzt keinen mehr gibt, der nicht deutlich gewahrte, daß alle derartigen Beweisgründe lauter Verkehrungen der Schrift darstellen. Die übrigen, die von der gleichen Art sind, wollen wir in Eile durchgehen. Die Wiedertäufer machen den Einwurf, die Taufe werde doch zur Vergebung der Sünden erteilt. Ist das zugestanden, so wird es unsere Meinung überreichlich stützen. Denn da wir als Sünder geboren werden, so haben wir bereits vom Mutterleibe her Vergebung und Verzeihung nötig. Und da ferner Gott diesem Lebensalter die Hoffnung auf Barmherzigkeit nicht abschneidet, sondern sie vielmehr gewiß macht, weshalb sollen wir ihm dann das Zeichen, das doch weit niedriger steht als die Sache selbst, wegreißen? Deshalb kehren wir das Geschoß, das sie sich bemühten gegen uns zu schleudern, gegen sie selbst und sagen: die Kinder erhalten die Vergebung der Sünden zum Geschenk, also darf man ihnen auch das Zeichen (solcher Vergebung) nicht rauben.
Zugleich bringen sie auch ein Wort aus dem Briefe an die Epheser vor, nach welchem die Kirche von dem Herrn gereinigt ist „durch das Wasserbad im Wort“ des Lebens (Eph. 5,26). Nun hätte man kein Wort anführen können, das zur Widerlegung ihres Irrtums geeigneter gewesen wäre. Denn aus ihm ergibt sich für uns ein bequemer Beweis: wenn Christus will, dass die Abwaschung, mit der er seine Kirche reinigt, in der Taufe bezeugt sei, so erscheint es nicht billig, dass jene Abwaschung bei den Kindern dies Zeugnis entbehren soll, die doch mit Recht auf die Seite der Kirche gerechnet werden, da sie ja Erben des Himmelreichs heißen. Denn Paulus begreift die gesamte Kirche ein, wenn er sagt, sie sei durch dies Wasserbad gereinigt.
Eine völlig gleiche Folgerung ziehen wir auch daraus, wenn Paulus an anderer Stelle sagt, wir seien durch die Taufe in den Leib Christi eingefügt (1. Kor. 12,13); daraus entnehmen wir nämlich, dass die Kinder, die er doch zu seinen Gliedern hinzurechnet, getauft werden müssen, damit sie nicht von seinem Leibe losgerissen werden.
Da sieht man, wie gewaltig sie mit soviel Kriegswerkzeug gegen die Schutzwälle unseres Glaubens anrennen!
IV,16,23
Jetzt kommen sie auf die Übung und Gepflogenheit der apostolischen Zeit zu sprechen, in der sich niemand finde, der zur Taufe zugelassen worden wäre, ohne zuvor seinen Glauben und seine Bußfertigkeit bekannt zu haben. Denn als Petrus von solchen, die zur Umkehr gesonnen waren, gefragt wurde: „Was sollen wir nun tun?“, da gab er ihnen den Rat, erstens Buße zu tun, und zweitens sich „zur Vergebung der Sünden“ taufen zu lassen (Apg. 2,37f.). Ebenso gab Philippus, als
jener Kämmerer getauft zu werden bat, zur Antwort: „Glaubst du von ganzem Herzen, so mag’s wohl sein“ (Apg. 8,37). Hieraus hoffen nun die Wiedertäufer für sich (das Zugeständnis) erreichen zu können, dass es durchaus nicht recht sei, wenn man jemandem die Taufe erteilte, ohne dass Glaube und Buße vorausgingen. Ja, wahrhaftig, wenn wir dieser Begründung stattgeben, so wird die erste Stelle (Apg. 2), an der man keine Erwähnung des Glaubens zu hören bekommt, den Beweis erbringen, dass allein die Buße genügt, und die zweite (Apg. 8), in der sich nun die Buße durchaus nicht findet, wird beweisen, dass der Glaube allein genug ist! Sie werden nun meines Erachtens demgegenüber behaupten, diese beiden Stellen stützten sich gegenseitig und müßten deshalb miteinander verbunden werden. Auch ich sage meinerseits, dass man hier vergleichen muß andere Stellen, die zur Auflösung dieses Knotens einige Bedeutung haben. Denn es gibt in der Schrift viele Aussagen, deren Verständnis von den jeweiligen Umständen abhängt. Ein derartiges Beispiel haben wir eben in den gegenwärtig zur Verhandlung stehenden Stellen vor uns; denn die Menschen, denen Petrus und Philippus die angeführten Worte sagen, stehen in einem Alter, das dazu geschickt ist, nach Buße zu trachten und Glauben zu fassen. Wir bestreiten mit Nachdruck, dass solche Leute die Taufe empfangen dürften, wofern man nicht ihre Bekehrung und ihren Glauben wahrgenommen hat, freilich nur, soweit man sie mit dem Urteil von Menschen erkunden kann. Aber es ist mehr als genug deutlich, dass man die Kinder einer anderen Gruppe zurechnen muß. Denn wenn sich in alter Zeit jemand an Israel anschloß, um mit ihm Gemeinschaft an der Religion zu haben, so mußte er im Bunde des Herrn unterwiesen und im Gesetz unterrichtet werden, ehe er das Zeichen der Beschneidung empfing, weil er nach seiner Herkunft ein Ausländer war, das heißt ein Fremdling gegenüber dem Volke Israel, mit dem der Bund geschlossen worden war, den die Beschneidung bekräftigte.
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In dieser Weise macht auch der Herr, als er den Abraham zu sich aufnimmt, den Anfang nicht mit der Beschneidung, indem er ihm etwa in der Zwischenzeit verschwiege, was er mit diesem Zeichen im Sinne hat; nein, er kündigt ihm zunächst an, was für einen Bund er mit ihm zu schließen beabsichtigt (Gen. 15,1), und dann, nachdem Abraham der Verheißung Glauben geschenkt hat, macht er ihn auch des Sakraments teilhaftig (Gen. 17,11). Weshalb ist es nun so, dass das Sakrament bei Abraham dem Glauben folgt, bei seinem Sohne Isaak dagegen jeglicher Erkenntnis vorausgeht? Eben deshalb, weil es recht und billig war, dass einer, der erst im Erwachsenenalter in die Gemeinschaft des Bundes aufgenommen wurde, mit dem er bis dahin gar nichts zu tun gehabt hatte, zuvor dessen Bedingungen gründlich kennenlernte, während es dagegen mit dem Kinde, das von ihm stammte, nicht ebenso bestellt war; denn es war ja kraft Erbrechts, nach der gegebenen Form der Verheißung schon vom Mutterleibe an in den Bund eingeschlossen. Oder, um die Sache klarer und kürzer darzulegen: wenn die Kinder der Gläubigen ohne Beihilfe ihres Verständnisses des Bundes teilhaftig sind, so besteht kein Grund, weshalb man sie von dem Zeichen fernhalten könnte, und zwar etwa mit der Begründung, sie könnten noch nicht auf die Bedingungen des Bundes schwören. Hier liegt unzweifelhaft der Grund, weshalb Gott mehrfach erklärt, dass die Kinder, die von den Israeliten abstammten, ihm erzeugt und geboren wären (Ez. 16,20; 23,37). Denn ohne Zweifel behandelt er die Kinder derer, denen er verheißen hat, er wolle ihres Samens Vater sein, als seine Kinder (vgl. Gen. 17,7). Wer aber ungläubig ist und von gottlosen Eltern abstammt, der gilt als fremd gegenüber der Gemeinschaft des Bundes, bis er durch den Glauben mit Gott geeint wird. Es ist daher nichts Verwunderliches dabei, wenn er ihm auch an dem Zeichen keinen Anteil gibt; denn dessen Bedeutung wäre ja bei ihm trügerisch und eitel. In diesem Sinne schreibt auch Paulus, dass die Heiden, solange sie in ihrer Abgötterei ver-
sunken waren, außerhalb des Testaments (d.h. des Bundes) standen (Eph. 2,12). Die ganze Sache läßt sich, wenn ich mich nicht täusche, in folgender Zusammenfassung zu klarer Lösung bringen: die Menschen, die erst im Erwachsenenalter den Glauben an Christus annehmen, dürfen, da sie ja bis dahin als Fremde außerhalb des Bundes gestanden haben, nur dann mit der Taufe gezeichnet werden, wenn Glaube und Buße dazwischentreten, die ihnen allein den Zugang zur Gemeinschaft des Bundes eröffnen können; die Kinder aber, die von Christen abstammen, werden ja sogleich mit ihrer Geburt von Gott in die Erbschaft des Bundes aufgenommen und sind dementsprechend auch zur Taufe zuzulassen. Hierauf ist der Bericht des Evangelisten zu beziehen, dass Johannes diejenigen getauft hat, die ihre Sünden bekannten (Matth. 3,6) – ein Vorbild, das nach unserer Ansicht auch heute noch innegehalten werden muß. Denn wenn sich ein Türke zur Taufe erbötig zeigte, so dürfte er von uns nicht unbedacht getauft werden, wofern er nämlich nicht ein Bekenntnis abgelegt hätte, das der Kirche Genüge täte.
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Ferner bringen die Wiedertäufer die Worte Christi vor, die im dritten Kapitel des Johannesevangeliums wiedergegeben werden und in denen nach ihrer Meinung bei der Taufe die tatsächliche Wiedergeburt erfordert wird: „Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (Joh. 3,5). Man sehe doch, so sagen sie, wie die Taufe durch den Mund des Herrn als Wiedergeburt bezeichnet wird! Mit welchem Vorhand wollen wir es nun beschönigen, dass wir solche, die doch, wie mehr als genug bekannt, zur Wiedergeburt nicht im mindesten fähig sind, mit der Taufe einweihen, die ohne solche Wiedergeburt nicht bestehen kann? (So sollen wir uns nach ihrer Meinung fragen.) Zunächst sind sie darin auf dem verkehrten Wege, dass sie der Meinung sind, an dieser Stelle werde der Taufe Erwähnung getan, und zwar, weil sie das Wort „Wasser“ vernehmen. Christus hatte doch dem Nikodemus zunächst die Verderbnis der Natur dargelegt und ihn gelehrt, dass eine Wiedergeburt vonnöten sei; da aber Nikodemus von einer leiblichen Neugeburt träumte, so zeigt Christus an dieser Stelle die Art und Weise an, in der uns Gott solche Wiedergeburt schenkt, nämlich eben „aus Wasser und Geist“. Es ist, als ob er sagte: es geschieht durch den Geist, der die Seelen der Gläubigen reinigt und besprengt und damit die Rolle des Wassers erfüllt. „Wasser und Geist“ verstehe ich also einfach so: „der Geist, der das Wasser ist“. Diese Redeweise ist auch nicht neu; denn sie stimmt voll und ganz mit der überein, die sich im dritten Kapitel des Matthäusevangeliums findet: „der ... nach mir kommt, ... der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen“ (Matth. 3,11). „Mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen“, das heißt nun: den Heiligen Geist gewähren, der in der Wiedergeburt Amt und Natur des Feuers hat; ebenso bedeutet danach: „aus Wasser und Geist wiedergeboren werden“ nichts anderes als jene Kraft des Geistes empfangen, die an der Seele das ausrichtet, was das Wasser am Leibe vollbringt. Ich weiß, dass andere diese Stelle anders auslegen; aber ich zweifle nicht daran, dass dies hier ihr lauterer Sinn ist; denn Christus hat doch nichts anderes vor, als zu lehren, dass alle, die nach dem Himmelreich trachten, ihre eigene Art ausziehen müssen.
Wenn ich allerdings nach der Gewohnheit der Wiedertäufer schmutzige Ausflüchte suchen wollte, so könnte ich ihnen – auch wenn ich ihnen zugäbe, was sie wünschen – leicht wieder vorhalten, dass die Taufe (nach dieser Stelle) dem Glauben und der Buße voranginge, weil sie ja in Christi Worten vor dem Geist steht! Das ist nun zweifellos auf die geistlichen Gaben bezogen, und wenn diese also auf die Taufe folgen, so habe ich erreicht, was ich will. Aber wir wollen solche Ausflüchte beiseite lassen und die schlichte Auslegung festhalten, die ich vorgebracht habe, nämlich dass niemand in das Reich Gottes eingehen kann, ehe er durch das lebendige Wasser, das heißt durch den Heiligen Geist, erneuert ist.
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Daß nun das Hirngespinst der Wiedertäufer abgelehnt werden muß, liegt auch auf Grund der Tatsache auf der Hand, dass sie (damit) alle nicht Getauften dem ewigen Tode überantworten. Nehmen wir also einmal nach ihrem Wunsch an, die Taufe würde ausschließlich an Erwachsene erteilt. Wenn nun da ein Kind ist, das über die Grundwahrheiten der Frömmigkeit gehörig und recht schaffen unterrichtet ist, und wenn es solchem Kinde widerfährt, dass es kurz vor dem für die Taufe angesetzten Tage gegen alle Erwartungen von Menschen durch einen plötzlichen Tod hinweggenommen wird – was soll dann nach ihrer Meinung aus diesem Kinde werden? Deutlich ist die Verheißung des Herrn: Jeder, der an den Sohn glaubt, der wird den Tod nicht sehen noch in das Gericht kommen, sondern er „ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh. 5,24; sehr ungenau). Und man bekommt nirgendwo zu erfahren, dass er einen noch nicht Getauften verdammt hätte. Ich möchte nicht, dass dies von mir in dem Sinne aufgefaßt würde, als wollte ich zu verstehen geben, man könnte die Taufe ungestraft verachten – denn ich behaupte, dass durch Verachtung der Taufe der Bund Gottes geschändet würde; soweit bin ich davon entfernt, mich zu unterstehen, dass ich solche Verachtung entschuldigte. Es genügt mir nur, (durch diese Darlegungen) zu erweisen, dass die Taufe nicht dermaßen notwendig ist, dass man meinen müßte, ein Mensch, dem die Möglichkeit genommen war, sie zu erlangen, müsse deshalb verloren gegangen sein. Wenn wir dagegen das Hirngespinst der Wiedertäufer gelten lassen, so müssen wir ohne Ausnahme alle verdammen, die irgendein Unglücksfall von der Taufe ferngehalten hat, mögen sie auch sonst mit noch so viel Glauben ausgerüstet gewesen sein, mit dem man doch Christus selbst besitzt! Obendrein sprechen sie alle Kinder des ewigen Todes schuldig, indem sie ihnen die Taufe verweigern, die nach ihrem eigenen Bekenntnis zum Heil notwendig sein soll. Nun mögen sie zusehen, wie trefflich sie mit Christi Worten übereinkommen, in denen das Himmelreich eben diesem Lebensalter zugesprochen wird (Matth. 19,14). Und wenn wir ihnen auch alles nur Erdenkliche zugeben, was mit dem Verständnis dieser Stelle im Zusammenhang steht, so werden sie doch daraus nichts herausholen, wenn sie nicht zuvor den von uns bereits aufgestellten Satz von der Wiedergeburt der Kinder umgestoßen haben.
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Aber das allerfesteste Bollwerk rühmen sie sich in der Einsetzung der Taufe selbst zu besitzen, die sie aus dem letzten Kapitel des Matthäusevangeliums entnehmen: da sendet Christus die Apostel zu allen Völkern aus und gibt ihnen dann den Befehl, erstens, sie zu unterweisen, und dann zweitens, sie zu taufen (Matth. 28,19). Alsdann verbinden sie damit auch das Wort aus dem letzten Kapitel des Markusevangeliums: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden“ (Mark. 16,16). Was suchen wir mehr, sagen sie, wo doch die Worte des Herrn klar und offen so lauten, dass man zunächst lehren und dann taufen soll, und wo sie doch der Taufe den zweiten Platz, den Platz nach dem Glauben, zuweisen? Für diese Reihenfolge hat auch Jesus, der Herr, einen Beweis an seiner eigenen Person erbracht, indem er sich erst in seinem dreißigsten Lebensjahr hat taufen lassen wollen (Matth. 3,13; Luk. 3,21-23).
Gütiger Gott, in wie vielfältiger Weise verstricken sie sich doch hier und legen sie ihre Unwissenheit an den Tag! Denn sie kommen schon mehr als kindisch darin zu Fall, dass sie die erstmalige Einsetzung der Taufe aus den angeführten Stellen herleiten, während Christus doch seit Anbeginn seiner Predigt den Aposteln den Auftrag gegeben hat, sie zu verwalten. Es besteht also kein Grund zu ihrer Behauptung, man müsse das Gesetz und die Regel der Taufe aus diesen beiden Stellen entnehmen, als ob diese die erste Einsetzung dieses Sakraments enthielten.
Aber selbst wenn wir ihnen diesen Fehlgriff durchgehen lassen, – welche Kraft hat dann diese Beweisführung? Allerdings, wenn ich Ausflüchte suchen wollte, so eröffnete sich mir nicht nur ein Schlupfwinkel, sondern ein ganz weites Feld zum Entschlüpfen! Sie versteifen sich ja so verbissen auf die Reihenfolge der Worte, und weil es da heißt: „Gehet hin ... Predigt ... und taufet“ (Mark. 16,15; ungenau) und ebenso: „Wer da glaubet und getauft wird ...“ (Mark. 16,16), so ziehen sie daraus die Folgerung, man müsse also erst predigen und dann taufen, und zuvor glauben, ehe man die Taufe begehre. Wenn sie das aber nun so machen – weshalb sollen nicht auch wir unsererseits die Gegenbehauptung aufstellen, man müsse taufen, ehe man das „Halten“ der Dinge „lehrt“, die Christus befohlen hat? Denn die Stelle lautet ebenso: „Taufet sie, indem ihr sie lehret halten alles, was ich euch befohlen habe“ (Matth. 28,19; genauer). Die gleiche Bemerkung (hier also: „Taufet“ steht vor „lehret“) haben wir zu dem wenig weiter oben angeführten Ausspruch Christi gemacht, der von der Wiedergeburt aus Wasser und Geist handelte (Joh. 3,5; vgl. Sektion 25). Denn wenn wir die Stelle so auffassen, wie es die Wiedertäufer verlangen, so ergibt sich daraus ohne Zweifel, dass die Taufe vor der geistlichen Wiedergeburt steht, weil sie nämlich an erster Stelle genannt wird. Denn Christus lehrt doch nicht, wir müßten „aus Geist und Wasser“, sondern „aus Wasser und Geist“ wiedergeboren werden.
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Man gewinnt den Eindruck, dass dieser „unüberwindliche“ Beweisgrund, auf den die Wiedertäufer so große Zuversicht setzen, bereits einigermaßen erschüttert ist! Da aber die Wahrheit genügenden Schutz bei der Schlichtheit findet, so will ich mich nicht mit solchen oberflächlichen Spitzfindigkeiten aus der Sache herauswinden. Sie sollen also eine wohlbegründete Antwort haben! An dieser Stelle gibt Christus vor allem den Befehl, das Evangelium zu predigen, und daran schließt er das Amt der Taufübung als Anhängsel an. Ferner ist von der Taufe nur insofern die Rede, als ihre Verwaltung zur Amtsaufgabe der Unterweisung gehört. Denn Christus sendet die Apostel aus, um das Evangelium allen Völkern der Erde kundzumachen, damit sie von allen Seiten Menschen, die zuvor verloren waren, durch die Lehre des Heils in sein Reich versammeln. Aber was sind das nun für Menschen, und von welcher Art sind sie? Es ist sicher, dass hier ausschließlich von solchen die Rede ist, die in der Lage sind, die Lehre anzunehmen. Hernach läßt er dann die Weisung folgen, derartige Leute sollten, nachdem sie unterwiesen wären, die Taufe erhalten, und er fügt die Verheißung hinzu: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden“ (Mark. 16,16). Findet sich nun über die Kinder in der ganzen Rede auch nur eine einzige Silbe? Wie soll also die Form der Beweisführung aussehen, mit der unsere Widersacher hier gegen uns angehen? „Die Menschen im Erwachsenenalter sollen zuerst unterwiesen werden, damit sie glauben, und dann erst sollen sie die Taufe empfangen. Also ist es ein Frevel, auch Kindern an der Taufe Anteil zu geben!“ Aber wenn sie auch darüber bersten, so werden sie doch aus dieser Stelle nichts anderes beweisen, als dass man solchen, die zum Hören in der Lage sind, zuvor das Evangelium predigen muß, ehe man sie tauft; denn nur von ihnen ist hier die Rede. Hieraus sollen sie nun, wenn sie es fertig bekommen, den Sperrdamm bauen, um die Kinder von der Taufe fernzuhalten!
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Aber damit ihre Trügereien selbst für Blinde im Tasten wahrnehmbar werden, will ich sie noch mit einem recht deutlichen Gleichnis ins Licht rücken. Der Apostel sagt: „So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen“ (2. Thess. 3,10); wenn nun jemand dieses Wort zum Vorwand nähme, um zu beweisen, man müsse den Kindern (die ja nicht arbeiten) ihre Nahrung wegnehmen, wäre der nicht wert, dass er von allen Leuten verachtet würde? Und warum nun? Weil er eben ein Wort, das sich auf eine ganz bestimmte Art von Menschen und auf
ein bestimmtes Lebensalter bezog, ohne Unterschied gewaltsam auf alle anwenden will. Durchaus nicht geschickter benehmen sich nun die Wiedertäufer in der hier zur Verhandlung stehenden Sache. Denn was sich, wie jedermann sieht, ausschließlich auf das Erwachsenenalter bezieht, das wenden sie auf die Kinder, so dass auch dies Lebensalter einer Regel unterworfen wird, die nur für ältere Menschen aufgestellt war.
Was nun das Beispiel Christi angeht, so trägt es zur Stützung ihrer Sache rein nichts bei. Er ist, so sagen sie, nicht vor seinem dreißigsten Lebensjahr getauft worden (Matth. 3,13; Luk. 3,23). Das ist allerdings richtig; aber die Ursache liegt doch auf der Hand: er wollte eben erst damals mit seiner Predigt das feste Fundament der Taufe legen, oder besser: das Fundament festigen, das kurz zuvor von Johannes gelegt worden war. Er wollte also mit seiner Lehre die Taufe einsetzen, und um nun seiner Einsetzung größere Autorität zu verschaffen, heiligte er sie an seinem eigenen Leibe, und zwar zu der denkbar gelegensten Zeit, nämlich als er seine Predigt begann. Kurz, die Wiedertäufer können aus diesem Tatbestand nichts anderes beweisen, als dass die Taufe ihren Ursprung und Anfang bei der Predigt des Evangeliums genommen hat. Wenn sie nun aus dem dreißigsten Lebensjahr eine feste Vorschrift machen wollen, weshalb halten sie es dann nicht ein, sondern lassen jeden zur Taufe zu, wenn er nach ihrem Urteil weit genug vorangekommen ist? Ja, selbst Servet, einer von ihren Meistern, legte zwar auf die dreißig Jahre hartnäckig Nachdruck – aber er hatte trotzdem schon mit seinem einundzwanzigsten Lebensjahr angefangen, sich für einen Propheten auszugeben! Das ist genau so, als wenn man einen Menschen dulden sollte, der sich in der Kirche das Lehramt anmaßt, bevor er ein Glied der Kirche selber ist!
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Schließlich machen die Wiedertäufer den Einwand, es bestehe kein stärkerer Grund, den Kindern an der Taufe Anteil zu geben, als am Abendmahl des Herrn, das man ihnen doch durchaus nicht gewährt. Als ob die Schrift nicht auf allerlei Weise einen weitgehenden Unterschied zwischen den beiden Sakramenten kenntlich machte! Es ist zwar in der Alten Kirche so gemacht worden (dass man den Kindern auch das Abendmahl gab), wie sich aus Cyprian und Augustin klar ergibt; aber diese Sitte ist verdientermaßen wieder abgekommen. Denn wenn wir das Wesen und die Eigenart der Taufe in Betracht ziehen, so ist sie jedenfalls gewissermaßen der Eingang oder gleichsam die Einweihung in die Kirche, wodurch wir zu Gottes Volk hinzugerechnet werden, sie ist das Zeichen unserer geistlichen Wiedergeburt, durch die wir zu Kindern Gottes neu geboren werden. Das Abendmahl dagegen ist für die Älteren bestimmt, die die zartere Kindheit hinter sich haben und schon feste Speise ertragen können.
Dieser Unterschied wird in der Schrift überaus deutlich aufgezeigt. Denn da läßt der Herr, soweit es die Taufe betrifft, keine Auswahl hinsichtlich des Alters eintreten. Das Abendmahl aber reicht er nicht so dar, dass alle gleichermaßen daran teilhaben sollen, sondern es können seiner nur solche teilhaftig werden, die imstande sind, Leib und Blut des Herrn zu „unterscheiden“, ihr eigenes Gewissen zu „prüfen“, „den Tod des Herrn zu verkündigen“ und seine Kraft recht zu erwägen. Wollen wir etwas Klareres haben, als was der Apostel lehrt, wenn er die Mahnung ausspricht: „Der Mensch prüfe aber sich selbst und untersuche sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch“ (1. Kor. 11,28; kleiner Zusatz)? Es muß also eine (Selbst-)prüfung vorausgehen, und die erwartet man bei Kindern vergeblich. Ebenso sagt der Apostel: „Welcher unwürdig isset ..., der isset und trinket sich selber zum Gericht, darum, dass er nicht unterscheidet den Leib des Herrn“ (1. Kor. 11,29). Wenn nur die würdig am Abendmahl teilnehmen können, die die Heiligkeit des Leibes Christi nach Gebühr zu unter-
scheiden wissen, weshalb sollen wir dann unseren zarten Kindern statt der lebendigmachenden Nahrung Gift darreichen? Was soll uns denn die Weisung des Herrn bedeuten: „Solches tut zu meinem Gedächtnis“ (Luk. 22,19; 1. Kor. 11,25)? Und was sollen wir zu der anderen Weisung sagen, die der Apostel daraus ableitet: „Sooft ihr von diesem Brot esset ..., sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis dass er kommt“ (1. Kor. 11,26)? Ich möchte doch wissen: was für ein „Gedächtnis“ wollen wir denn von den Kindern verlangen – mit Bezug auf eine Sache, die sie mit ihrem Empfinden nie und nimmer erfaßt haben? Was für eine „Verkündigung“ des Kreuzes Christi sollen wir denn von ihnen fordern, dessen Kraft und Wohltat sie mit ihrem Verstand noch nicht begreifen? Bei der Taufe wird nichts dergleichen vorgeschrieben, und daher besteht zwischen diesen beiden Zeichen ein sehr wesentlicher Unterschied. Den nämlichen Unterschied bemerken wir auch unter dem Alten Testament zwischen den beiden ähnlichen Zeichen (Beschneidung und Passah). Die Beschneidung, welche, wie bekannt, unserer Taufe entsprach, war für die Kinder bestimmt. Das Passah dagegen, an dessen Stelle jetzt das Abendmahl getreten ist, ließ nicht ohne Unterschied alle und jegliche Tischgenossen zu, sondern es wurde nur von denen rechtmäßig gegessen, die ihrem Alter nach in der Lage waren, nach seiner Bedeutung zu fragen (Ex. 12,26). Würden die Wiedertäufer, wenn ihnen auch nur ein klein wenig gesunder Verstand übriggeblieben wäre, wohl einer Sache gegenüber blind sein, die so deutlich und so unmittelbar einleuchtend ist?
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Obgleich es mich verdrießt, den Lesern mit einer solchen Masse von Geschwätz lästig zu fallen, wird es doch angebracht sein, in aller Kürze die schönscheinenden Beweisgründe zu entkräften, die Servet, nicht der geringste unter den Wiedertäufern, ja eine große Zierde dieser Schar, vorzubringen für gut befunden hat, als er sich zum Kampfe rüstete.
(1) Er schützt die Behauptung vor, Christi Merkzeichen seien doch vollkommen und erforderten dementsprechend auch Menschen, die vollkommen wären oder doch zur Vollkommenheit imstande wären. Da liegt aber die Antwort schon bereit: die Vollkommenheit der Taufe erstreckt sich bis zum Tode hin, und es ist daher verkehrt, wenn man sie auf einen einzigen Zeitpunkt beschränkt. Ich füge auch noch hinzu: es ist töricht, wenn man bei einem Menschen am ersten Tage (bei seiner Taufe) eine Vollkommenheit sucht, zu der uns doch die Taufe unser ganzes Leben lang in ununterbrochener Stufenfolge einlädt.
(2) Servet wirft nun ein, die Merkzeichen Christi seien zu seinem Gedächtnis gestiftet, damit jeder bei sich bedenke, dass er mit Christus begraben worden sei. Ich antworte darauf: was er sich aus seinem Kopf heraus erdacht hat, das bedarf keiner Widerlegung. Ja, was er auf die Taufe bezieht, das ist dem Abendmahl eigentümlich, wie die Worte des Paulus zeigen: „Der Mensch prüfe sich selbst ...“ (1. Kor. 11,28). Im Hinblick auf die Taufe findet sich dergleichen nirgendwo. Daraus entnehmen wir, dass die Taufe rechtmäßig an solche erteilt wird, die nach dem Maß ihres Alters zu solcher (Selbst-)prüfung nicht in der Lage sind.
(3) Zum dritten führt er die Stelle an: „Wer dem Sohn nicht glaubt, der bleibt im Tode, und der Zorn Gottes bleibt über ihm“ (Joh. 3,36; Mitte ungenau). Daraus folgert er: also verblieben auch die Kinder, die nicht zu glauben vermöchten, in ihrer Verdammnis. Darauf gebe ich die Entgegnung: Christus spricht hier nicht von der allgemeinen Schuld, in die alle Nachkommen Adams verhaftet sind, sondern er droht nur den Verächtern des Evangeliums, die die ihnen angebotene Gnade hoffärtig und halsstarrig von sich weisen. Das aber hat mit den Kindern nichts zu tun. Zugleich setze ich seiner Behauptung eine entgegengesetzte Begründung entgegen: jeder, den Christus segnet, er mag sein, wer er will, der wird dem Fluch über Adam und dem Zorn Gottes entnom-
men. Da es also bekannt ist, dass die Kinder von ihm gesegnet sind (Matth. 19,15; Mark. 10,16), so ergibt sich, dass sie aus dem Tode erlöst sind. Fälschlich führt Servet dann eine Stelle an, die man nirgendwo (in der Schrift) zu lesen bekommt: „Wer aus dem Geist geboren ist, der hört die Stimme des Geistes.“ Selbst wenn wir zugäben, dass dies geschrieben stünde, so könnte er daraus doch nichts anderes beweisen, als dass die Gläubigen in dem Maße, als der Geist in ihnen am Werke ist, zum Gehorsam gestaltet werden. Aber es ist verkehrt, ein Wort, das sich auf eine bestimmte Anzahl von Menschen bezieht, gleichermaßen auf alle anzuwenden.
(4) Zum vierten macht er den Einwand: weil das, was natürlich ist (dem Geistlichen) vorausgeht (1. Kor. 15,46), so muß man eine Zeit abwarten, die für die Taufe reif ist, die doch geistliche Art hat. Ich gebe nun freilich zu, dass alle Nachkommen des Adam aus dem Fleisch geboren sind und vom Mutterleibe an ihre Verdammnis mit sich herumtragen; aber ich bestreite doch, dass dies ein Hindernis bedeutete, weshalb Gott nicht sogleich ein Mittel dagegen anwenden könnte. Denn Servet wird nicht nachweisen können, dass Gott eine bestimmte Anzahl von Jahren vorgeschrieben hätte, mit denen das neue geistliche Leben beginnen könnte. Paulus ist jedenfalls Zeuge dafür, dass die Kinder, die von Gläubigen geboren werden, zwar der Natur nach verloren sein mögen, aber durch die übernatürliche Gnade heilig sind (1. Kor. 7,14).
(5) Alsdann bringt er eine Allegorie vor: David habe, als er den Berg Zion hinanzog, weder Blinde noch Lahme mit sich geführt, sondern wackere Soldaten (2. Sam. 5,6). Was will Servet aber sagen, wenn ich dem das Gleichnis entgegenhalte, in dem Gott die Blinden und die Lahmen zudem himmlischen Mahle einlädt (Luk. 14,21)? Wie will er sich aus diesem Knoten herauswinden? Ich frage auch: haben denn etwa vorher nicht auch Lahme und Verstümmelte mit David (zusammen) gekämpft? Es ist aber überflüssig, bei diesem Gedankengang länger stehenzubleiben; denn die Leser werden auf Grund der Heiligen Geschichte schon herausfinden, dass er aus lauter Trügerei zusammengeschmiedet ist.
(6) Dann folgt eine weitere Allegorie: die Apostel seien „Menschenfischer“, nicht aber Fischer von kleinen Kindern gewesen (Matth. 4,19). Ich frage nun aber, was dann das Wort Christi bedeuten soll, nach welchem in dem Netz des Evangeliums Fische von „allerlei Gattung“ gefangen werden (Matth. 13,47). Aber weil ich keine Lust habe, mit Allegorien zu spielen, so antworte ich: wenn den Aposteln das Amt der Lehrunterweisung aufgetragen worden ist, so hinderte sie das nicht daran, Kinder zu taufen. Allerdings möchte ich auch noch wissen, warum Servet, wo doch der Evangelist von „Menschen“ spricht – ein Ausdruck, der das Menschengeschlecht ohne Ausnahme umfaßt –, etwa leugnen will, dass die Kinder Menschen sind.
(7) Zum siebenten behauptet Servet: da Geistliches zu geistlichen Menschen gehörte (1. Kor. 2,13f.), so seien die Kinder, die nicht geistlich seien, zur Taufe ungeeignet. Aber es liegt zunächst klar auf der Hand, wie verkehrt er die Stelle bei Paulus verdreht. Es handelt sich um die Lehre, und da sich nun die Korinther in ihrem eitlen Scharfsinn mehr als billig gefielen, so zog Paulus ihre Trägheit ans Licht (und zeigte), dass sie noch in den ersten Anfangsgründen der himmlischen Lehre unterwiesen werden mußten. Wer will nun daraus die Folgerung ziehen, die Taufe müsse den Kindern verweigert werden, die doch Gott, obwohl sie vom Fleische geboren sind, gnadenweise zu Kindern annimmt und dadurch für sich weiht?
(8) Weiter stellt er den Satz auf, wenn die Kinder neue Menschen wären, so müßten sie mit geistlicher Speise genährt werden (was doch bei ihnen noch
nicht möglich sei). Aber hier ist die Antwort leicht zu geben, die Kinder werden durch die Taufe in Christi Herde aufgenommen, und das Merkzeichen ihrer Aufnahme in die Kindschaft genügt ihnen, bis sie herangewachsen und dadurch in der Lage sind, feste Speise zu ertragen; man muß also die Zeit der Prüfung abwarten, die Gott bei dem Heiligen Abendmahl ausdrücklich fordert.
(9) Danach macht er den Einwand, Christus rufe alle zum Heiligen Abendmahl, die zu den Seinigen gehören. Aber es steht doch hinreichend fest, dass er nur solche zuläßt, die schon dazu bereitet sind, das Gedächtnis seines Todes zu feiern. Daraus ergibt sich, dass die Kinder, die er gewürdigt hat, von ihm in die Arme genommen zu werden, zwar, bis sie herangewachsen sind, auf einer gesonderten und ihnen eigenen Stufe stehen, aber doch keine Fremdlinge sind. Und wenn Servet dann entgegnet, es sei doch ungeheuerlich, dass ein Mensch, nachdem er (geistlich neu) geboren ist, nicht (geistlich, d.h. im Abendmahl) essen sollte, so antworte ich: die Seelen werden anders gespeist als durch den äußerlichen Genuß des Abendmahls, und Christus ist daher nichtsdestoweniger die Speise für die Kinder, mögen sie sich auch des Merkzeichens (solcher Speise, d.h. des Abendmahls) enthalten. Mit der Taufe ist es anders bestellt, durch sie wird ihnen allein die Eingangspforte zur Kirche geöffnet.
(10) Wiederum wirft Servet ein, ein guter Haushalter gebe seinen Hausgenossen „zu rechter Zeit Speise“ (Matth. 24,45). Das gebe ich nun zwar gerne zu; aber mit welchem Recht will er uns die Zeit zur Taufe festsetzen, um zu beweisen, sie werde den Kindern nicht „zur rechten Zeit“ zuteil? Außerdem führt er jene Weisung Christi an seine Apostel an, sie sollten zur Ernte eilen, wenn die Felder weiß seien (Joh. 4,35). Aber Christus hat doch an dieser Stelle nur eins im Sinne: die Apostel sollten sehen, dass die Frucht ihrer Arbeit vor ihnen lag, und sich deshalb um so eifriger zum Lehren anschicken. Wer will nun daraus folgern, allein die Zeit der Ernte sei die rechte Zeit zur Taufe?
(11) Sein elfter Beweisgrund ist der, in der ersten Kirche seien „Christen“ und „Jünger“ dasselbe gewesen (Apg. 11,26). Aber wir haben ja schon gesehen, dass er damit törichterweise von einem Teil auf das Ganze schließt. „Jünger“ heißen Menschen von gehörigem Alter, die schon unterwiesen und in die Nachfolge Christi getreten waren, so wie die Juden unter dem Gesetz Jünger Moses sein mußten; aber daraus wird niemand mit Recht folgern dürfen, die Kinder seien Draußenstehende gewesen, wo doch Gott bezeugt hat, dass sie seine Hausgenossen sind.
(12) Zudem führt er auch an, alle Christen seien Brüder, und zu den Brüdern gehörten die Kinder für uns nicht, solange wir sie vom Abendmahl fernhielten. Ich komme demgegenüber auf den Grundsatz zurück: Erben des Himmelreichs sind nur die, welche Christi Glieder sind; ferner ist es ein wahrhaftiges Zeichen der Aufnahme in die Kindschaft gewesen, dass Christus die Kinder in die Arme genommen hat (Matth. 19 und Parallelen), und durch diese Aufnahme in die Kindschaft werden die Kinder mit den Erwachsenen gemeinsam umschlossen, endlich steht auch die zeitweilige Enthaltung vom Abendmahl der Tatsache nicht im Wege, dass sie zum Leib der Kirche gehören. Auch der am Kreuze bekehrte Schacher hörte doch nicht auf, ein Bruder der Frommen zu sein, obgleich er niemals zum Abendmahl gekommen ist.
(13) Dann fügt Servet noch zu, es würde niemand unser Bruder als durch den Geist der (Aufnahme in die) Kindschaft, den man doch nur aus dem Hören (der Predigt) des Glaubens erlangte. Ich antworte: er verfällt immer wieder in den gleichen Fehlschluß, weil er Worte, die allein von den Erwachsenen gelten, unrichtigerweise auf die Kinder bezieht. Paulus lehrt an dieser Stelle (Röm. 10,17; Gal. 3,5), wie Gott bei der Berufung gewöhnlich den Weg einschlägt, dass er seine Auserwählten zum Glauben führt, indem er ihnen treue Lehrer erweckt, durch deren Dienst und Arbeit er ihnen die Hand entgegenstreckt. Wer will sich aber er-
dreisten, ihm daraufhin ein Gesetz aufzuerlegen, dass er die Kinder nicht auf eine andere, verborgene Weise in Christus einleibt?
(14) Weiterhin beruft er sich darauf, dass Cornelius nach Empfang des Heiligen Geistes getauft worden ist (Apg. 10,44-48). Aber wie verkehrt es ist, dass er aus diesem einen Beispiel eine allgemeine Regel beweisen will das kommt bei dem Kämmerer und bei den Samaritanern heraus (Apg. 8,27-38; 8,12), bei denen Gott die umgekehrte Reihenfolge eintreten ließ, dass die Taufe den Gaben des Geistes vorausging.
(15) Sein fünfzehnter Beweisgrund ist mehr als ungereimt: er sagt, durch die Wiedergeburt würden wir zu Göttern; Götter seien aber solche, zu denen Gottes Wort geschehen sei (Joh. 10,34f.), und das könne man von unmündigen Kindern nicht behaupten. Daß er den Gläubigen göttliche Art andichtet, das ist eine von seinen Wahnvorstellungen, deren Widerlegung nicht hierher gehört; aber die (hier in Frage kommende) Psalmstelle (Ps. 82,6) in einem ihr so fremden Sinne zu verdrehen, das ist heillose Unverschämtheit. Christus erklärt, dass die Könige und Obrigkeiten von dem Propheten „Götter“ genannt werden, weil sie ein Amt tragen, das ihnen von Gott auferlegt ist. Dieser gewandte Ausleger aber bezieht ein Wort, das von dem besonderen Auftrag zur Regierung handelt und sich an bestimmte Personen richtet, auf die Lehre des Evangeliums, um die Kinder von der Kirche wegzuweisen.
(16) Auf der anderen Seite macht er den Einwand: die Kinder könnten nicht als neue Menschen angesehen werden, weil sie nicht durch das Wort geboren würden. Ich wiederhole demgegenüber abermals, was ich schon mehrfach ausgesprochen habe: den „unvergänglichen Samen“ zu unserer Wiedergeburt (1. Petr. 1,23) stellt die Lehre dar, sofern wir in der Lage sind, sie in uns aufzunehmen; wo wir aber unseres Alters halben noch keine Belehrung empfangen können, da hat Gott seine Stufenfolge in der Hand, um uns zur Wiedergeburt zu bringen.
(17) Danach kommt er dann wieder auf seine Allegorien zurück und sagt, unter dem Gesetz hätte man Schaf und Ziege nicht sogleich, wenn sie aus dem Mutterleibe hervorgegangen waren, zum Opfer dargebracht, wenn ich nun Lust hätte, hier (auch meinerseits) bildliche Veranschaulichungen herbeizuziehen, so könnte ich leicht die Gegenbehauptung aufstellen: „allerlei Erstgeburt“ war, gleich, wenn sie „die Mutter brach“, Gott geheiligt (Ex. 13,2), und ferner sollte doch (bereits) ein einjähriges Lamm geschlachtet werden (Ex. 12,5). Daraus ergibt sich dann, dass man keineswegs auf die männliche Kraft warten muß, sondern dass vielmehr auch die eben erst geborenen und noch gar zarten Sprößlinge von Gott zu Opfern erwählt werden.
(18) Außerdem behauptet Servet, es könnten nur die zu Christus kommen, die zuerst von Johannes vorbereitet worden wären. Als ob das Amt des Johannes nicht zeitlich (und damit vorübergehend) gewesen wäre! Aber, um das beiseite zu lassen: bei den Kindern, die Christus in seine Arme genommen und gesegnet hat (Matth. 19 und Parallelen), lag jene Vorbereitung jedenfalls nicht vor. Darum wollen wir ihn mit seinem falschen Grundsatz laufen lassen!
(19) Schließlich nimmt er sich (die Schriften unter Berufung auf) den (Hermes) Trismegistos und die Sibyllen zu Schutzhelfern dafür, dass die heiligen Waschungen nur Erwachsenen zukämen. Da sieht man, was er für eine ehrerbietige Meinung von der Taufe Christi hat, indem er sie nach den unheiligen Gebräuchen der Heiden richtet, damit sie nicht anders verwaltet werde, als es dem (Hermes) Trismegistos gefallen hat! Für uns aber steht an höherer Stelle die Autorität Gottes, dem es gefallen hat, sich die Kinder zu heiligen und sie mit dem heiligen Merkzeichen einzuweihen, dessen Kraft sie ihres Alters wegen noch nicht verstanden, wir sind auch nicht der Meinung, dass es recht ist, aus den Sühnegebräuchen der
Heiden etwas zu entlehnen, was an unserer Taufe Gottes ewiges und unverletzliches Gesetz abändern soll, wie er es mit Bezug auf die Beschneidung festgelegt hat.
(20) Und am Ende stellt er die Überlegung an: wenn man Kinder taufen dürfte, ohne dass sie etwas davon verstehen, so könnte die Taufe auch von spielenden Kindern zur Nachahmung oder um Scherz ausgeübt werden. Aber darüber mag er mit Gott rechten, auf dessen Geheiß die Beschneidung den Kindern zuteil wurde, bevor sie Verstand bekommen hatten, war sie nun deshalb eine Spielerei oder eine Sache, die kindischen Albernheiten unterworfen gewesen wäre, so dass Kinder die heilige Einsetzung Gottes hätten umstoßen können? Aber es ist nicht verwunderlich, dass solche verworfenen Geister, wie wenn sie vom Wahnwitz umgetrieben würden, auch die gröbsten Widersinnigkeiten zur Verteidigung ihrer Irrtümer vorbringen; denn mit solcher schwindelnden Raserei übt Gott an ihnen gerechte Rache für ihre Aufgeblasenheit und Widerspenstigkeit. Auf jeden Fall hoffe ich deutlich gemacht zu haben, mit was für gebrechlichen Stützen Servet seinen Brüderlein, den Wiedertäufern, beigesprungen ist.
IV,16,32
Ich nehme an, dass es jetzt für keinen verständigen Menschen mehr zweifelhaft ist, wie vorwitzig die Kirche Christi durch solche Leute in Verwirrung gebracht wird, die wegen der Kindertaufe Zwistigkeiten und Streitereien erregen. Es ist nun aber angebracht, darauf zu achten, was der Satan eigentlich mit solch großer Verschlagenheit ins Werk setzt: er will uns eben die einzigartige Frucht der Zuversicht und der geistlichen Freude, die man aus der Kindertaufe gewinnen kann, aus der Hand reißen und auch dem Ruhm der göttlichen Güte im nämlichen Maße Abbruch tun. Denn wie lieblich ist es für die frommen Herzen, nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit dem, was sie mit Augen sehen dürfen, Gewißheit darüber zu gewinnen, wie sie bei ihrem himmlischen Vater so viel Gnade erlangen, dass er auch noch für ihre Nachkommenschaft sorgt! Denn hier ist es wahr zunehmen, wie er uns gegenüber die Rolle eines ganz fürsorglichen Hausvaters übernimmt, der auch nach unserem Tode die Sorge für uns nicht fahrenläßt, sondern für unsere Kinder sorgt und ihnen seine Fürsorge angedeihen läßt. Müssen wir da nicht nach Davids Beispiel von ganzem Herzen frohlocken und Danksagen, damit sein Name durch einen solchen Beweis seiner Güte geheiligt werde (Ps. 48,11)? Darum, darum ist es ohne Zweifel dem Satan zu tun, wenn er mit soviel Gewalt gegen die Kindertaufe anrennt: es soll eben diese Bezeugung der Gnade Gottes aus dem Mittel getan werden und damit auch die Verheißung, die uns durch sie vor Augen gehalten wird, schließlich nach und nach verschwinden!
Daraus soll dann nicht allein eine gottlose Undankbarkeit gegen Gottes Erbarmen entstehen, sondern auch eine gewisse Trägheit, die Kinder zur Frömmigkeit zu erziehen. Denn wenn wir bedenken, dass unsere Kinder schon gleich von ihrer Geburt an von ihm als Kinder behandelt und anerkannt werden, so ist das ein Ansporn, der uns nicht wenig dazu reizt, sie in der ernstlichen Furcht Gottes und im Halten des Gesetzes zu erziehen, wollen wir also nicht boshaft Gottes Wohltätigkeit verdunkeln, so wollen wir ihm unsere Kinder darbringen, denen er einen Platz unter seinen Freunden und Hausgenossen, das heißt unter den Gliedern der Kirche, zuweist!
Siebzehntes Kapitel
Vom Heiligen Abendmahl des Herrn – und was es uns bringt
IV,17,1
Gott hat uns einmal in seine Hausgenossenschaft aufgenommen, und zwar, um uns nicht nur als seine Knechte, sondern als seine Kinder anzusehen. Nachdem er das getan hat, will er aber auch das Amt eines sehr guten Vaters erfüllen, der für seine Kinder sorgt, und dazu nimmt er es auf sich, uns im ganzen Laufe unseres Lebens Speise zu geben. Ja, er hat sich damit nicht zufriedengegeben, sondern uns ein Unterpfand geschenkt, mit dem er uns solcher fortwährenden Freundlichkeit hat vergewissern wollen. Zu diesem Zweck hat er daher seinen Kindern durch die Hand seines eingeborenen Sohnes das zweite Sakrament gegeben, nämlich das geistliche Mahl, in welchem Christus bezeugt, daß er das lebendigmachende Brot ist, durch das unsere Seelen zur wahren, seligen Unsterblichkeit gespeist werden (Joh. 6,51).
Nun ist es aber von dringender Notwendigkeit, dieses große Geheimnis zu kennen, und es erfordert angesichts seiner Wichtigkeit eine eingehende Darlegung. Zudem hat der Satan die Kirche dieses unermeßlichen Schatzes berauben wollen und in dieser Absicht zunächst Nebel und dann Finsternis vor ihm aufziehen lassen, um sein Licht zu verdunkeln; auch hat er Streitigkeiten und Kämpfe erregt, um damit die Sinne einfältiger Menschen vom Genuß solcher heiligen Speise abzubringen, und auch zu unserer Zeit hat er die nämliche List versucht. Ich muß also zunächst mit Rücksicht auf das Auffassungsvermögen der Unkundigen den wesentlichen Inhalt der Sache zusammenfassen, dann aber auch jene Knoten auflösen, in welche der Satan die Welt zu verstricken versucht hat.
Zunächst: die Zeichen (bei diesem Sakrament) sind Brot und Wein: sie stellen uns die unsichtbare Speise dar, die wir aus Christi Fleisch und Blut empfangen. Denn wie uns Gott in der Taufe die Wiedergeburt schenkt, in die Gemeinschaft seiner Kinder einfügt und durch Aufnahme in die Kindschaft zu den Seinen macht, so erfüllt er, wie gesagt, das Amt eines fürsorglichen Hausvaters darin, daß er uns fort und fort Speise gewährt, um uns damit in dem Leben zu erhalten und zu bewahren, zu dem er uns durch sein Wort gezeugt hat.
Und dann: die einige Speise unserer Seele ist Christus, und deshalb lädt uns der himmlische Vater zu ihm ein, damit wir, indem wir seiner teilhaftig werden, Erquickung empfangen und dadurch immer wieder neue Kraft sammeln, bis wir zur himmlischen Unsterblichkeit gelangt sind.
Dies Geheimnis der verborgenen Einung Christi mit den Frommen aber ist seiner Natur nach unbegreiflich; daher läßt er eine Vergegenwärtigung oder ein Bild solchen Geheimnisses in sichtbaren Zeichen kundwerden, die unserem geringen Maß auf das beste angepaßt sind, ja, er gibt uns gleichsam Pfänder und Merkzeichen und macht es uns damit zur Gewißheit, wie wenn wir es mit Augen sähen. Denn es ist ein vertrautes Gleichnis, das auch bis in den unkundigsten Verstand dringt: unsere Seelen werden genau so mit Christus gespeist, wie Brot und Wein das leibliche Leben erhalten. Damit wird uns also schon deutlich, welchem Zweck diese verborgene Segnung (mystica benedictio) dient: sie soll uns die Gewißheit verschaffen, daß der Leib des Herrn dergestalt einmal für uns geopfert worden ist, daß wir ihn jetzt als Speise genießen und über solchem Genießen die Wirkkraft dieses einigen Opfers an uns erfahren, – und daß sein Blut dergestalt einmal für uns vergossen ist, daß es uns zu einem Trank wird für immerdar. So lauten denn auch die Worte der Verheißung, die dabei zugefügt ist: „Nehmet, ... das ist mein Leib, der für euch gegeben wird“ (Luk. 22,19; nicht Luther-
text; 1. Kor. 11,24; Matth. 26,26; Mark. 14,22). Wir werden also geheißen, den Leib zu „nehmen“ und zu „essen“, der einmal zu unserem Heil zum Opfer gebracht worden ist, damit wir sehen, daß wir dieses Leibes teilhaftig werden, und darüber zu der festen Gewißheit kommen, daß die Kraft seines lebendigmachenden Todes in uns wirksam sein wird. Daher nennt er auch den Kelch den „Bund“ (Luthertext: „das neue Testament“) in seinem Blut (Luk. 22,20; 1. Kor. 11,25). Denn allemal, wenn er uns jenes heilige Blut zu trinken gibt, ist es so, daß er den Bund, den er einmal mit seinem Blute bekräftigt hat, gewissermaßen erneuert oder besser ihn fortführt, soweit es zur Stärkung unseres Glaubens gereicht.
IV,17,2
Reiche Frucht der Zuversicht und Lieblichkeit können nun die frommen Seelen aus diesem Sakrament empfangen, weil sie ja das Zeugnis haben, daß wir mit Christus zu einem Leibe zusammengewachsen sind, so daß alles, was sein ist, auch unser eigen genannt werden darf. Daraus folgt, daß wir es wagen dürfen, der getrosten Zuversicht zu sein, daß uns das ewige Leben zugehört, weil er selbst sein Erbe ist, daß uns das Himmelreich, in das er bereits eingegangen ist, ebensowenig entrissen werden kann wie ihm, und daß wir auf der anderen Seite von unseren Sünden nicht verdammt werden können, weil er uns schon von der durch sie begründeten Schuld freigesprochen hat, indem er den Willen hatte, daß sie ihm zugerechnet würden, als ob sie seine eigenen wären. Das ist der wundersame Tausch, den er in seiner unermeßlichen Güte mit uns eingegangen ist: er ist mit uns zum Sohn des Menschen geworden und hat uns mit sich zusammen zu Söhnen Gottes gemacht, er ist zur Erde hinabgestiegen und hat uns dadurch den Weg zum Himmel hinauf gebahnt, er hat unser sterbliches Wesen angenommen und uns dadurch seiner Unsterblichkeit teilhaftig gemacht, er hat sich unsere Schwachheit zu eigen gemacht und uns dadurch mit seiner Kraft gestärkt, unsere Armut hat er auf sich genommen und uns damit seinen Reichtum zugetragen, die Last unserer Ungerechtigkeit, die uns drückte, hat er auf sich selbst geladen und uns dadurch mit seiner Gerechtigkeit bekleidet.
IV,17,3
Alle diese Dinge werden uns in diesem Sakrament so vollgültig bezeugt, daß wir mit Sicherheit dafür halten sollen, daß sie uns wahrhaftig dargeboten werden, nicht anders, als wenn Christus selbst gegenwärtig wäre, uns vor die Augen träte und von unseren Händen betastet würde. Denn dies Wort kann uns nicht belügen noch betrügen: „Nehmet hin, esset, trinket, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, das ist mein Blut, das vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Er befiehlt: „Nehmet hin“, und damit gibt er zu verstehen, daß es (er) uns gehört. Er gebietet: „Esset“, und damit zeigt er, daß es (er) mit uns zu einer Substanz wird. Er predigt von seinem Leibe, daß er für uns gegeben, und von seinem Blute, daß es für uns vergossen ist – damit lehrt er, daß beides nicht sowohl sein, als vielmehr unser eigen ist; denn beides hat er ja nicht zu seinem eigenen Vorteil, sondern zu unserem Heil angenommen und darangesetzt.
Man muß nun aber mit Fleiß darauf achten, daß die Wirkung dieses Sakraments vornehmlich, ja schier ganz auf den Worten beruht. „Der für euch gegeben wird ... das für euch vergossen wird.“ Denn sonst, nämlich wenn Leib und Blut des Herrn nicht einmal zu unserer Erlösung und zu unserem Heil dahingegeben worden wären, würde es uns nicht viel nützen, daß sie jetzt ausgeteilt werden. Sie werden uns also unter Brot und Wein vergegenwärtigt, damit wir lernen, daß sie uns nicht bloß zugehören, sondern uns auch zur Speise für das geistliche Leben bestimmt sind.
Das ist es, worauf wir oben aufmerksam gemacht haben: von den leiblichen Dingen, die uns im Sakrament vorgelegt werden, werden wir gewissermaßen vermöge eines Entsprechungsverhältnisses (analogia) zu den geistlichen hinüber-
geführt. Wenn uns also das Brot als Merkzeichen des Leibes Christi gereicht wird so müssen wir dabei sofort das Gleichnis ins Herz fassen: wie solch Brot das Leben unseres Leibes nährt, erhält und bewahrt, so ist der Leib Christi die einige Speise, um unsere Seele zu nähren und lebendig zu machen. Sehen wir, wie der Wein als Merkzeichen des Blutes Christi vor uns hingestellt wird, so sollen wir bedenken, welcherlei Nutzen der Wein unserem Leibe bringt, um dann zu erwägen, daß uns der gleiche Nutzen geistlich durch Christi Blut zukommt; diese Wirkung besteht aber eben darin, daß wir dadurch genährt, erquickt, gestärkt und froh gemacht werden. Wenn wir nämlich genugsam überdenken, was uns die Hingabe dieses heiligen Leibes und das Vergießen dieses Blutes eingetragen hat, so werden wir deutlich wahrnehmen, daß nach jenem Entsprechungsverhältnis diese Eigenschaften des Brotes und des Weines in ihrer Wirkung an uns aufs beste zu Christi Leib und Blut passen, wenn sie uns zuteil gegeben werden.
IV,17,4
Die wichtigste Aufgabe dieses Sakraments ist also nicht, uns Christi Leib schlechtweg und ohne tiefere Erwägung darzureichen, sondern sie besteht vielmehr darin, uns jene Verheißung, in der er bezeugt, daß sein Fleisch in Wahrheit eine Speise, sein Blut in Wahrheit ein Trank ist (Joh. 6,55), wodurch wir zum ewigen Leben gespeist werden, jene Verheißung, in der er erklärt, daß er „das Brot des Lebens“ ist (Joh. 6,48), und daß, wer von diesem Brot isset, nicht sterben wird in Ewigkeit (Joh. 6,51) – ich sage: uns jene Verheißung zu versiegeln und zu bekräftigen und uns, damit dies geschehe, zu Christi Kreuz zu führen, wo sie in Wahrheit eingelöst und in vollem Maße in Erfüllung gegangen ist. Denn nur als der Gekreuzigte kann Christus rechtmäßig und heilbringend unsere Speise sein, indem wir die Wirkkraft seines Todes mit lebendigem Empfinden erfassen. Denn wenn er sich „das Brot des Lebens“ nannte (Joh. 6,48), so entnahm er diese Selbstbezeichnung nicht dem Sakrament, wie es manche verkehrt auslegen. Nein, er hat sich so genannt, weil er uns als das Brot des Lebens vom Vater gegeben war und auch als solches sich erwiesen hat, indem er unserer menschlichen Sterblichkeit teilhaftig wurde und uns dadurch zu Mitgenossen seiner göttlichen Unsterblichkeit machte, indem er sich selbst zum Opfer darbrachte und dadurch unsere Verdammnis auf sich nahm, um uns mit seinem Segen zu durchdringen, indem er mit seinem Tod den Tod verschlang und zunichte machte, und indem er in seiner Auferstehung dies unser vergängliches Fleisch, das er angezogen hatte, zu Herrlichkeit und unvergänglichem Wesen erweckte.
IV,17,5
Nun muß dies aber auch noch alles uns angepaßt werden und dadurch zu uns dringen; das geschieht einerseits durch das Evangelium, anderseits aber noch deutlicher durch das heilige Abendmahl, in dem er sich selbst mit allen seinen Gütern darbietet und wir ihn im Glauben empfangen. Das Sakrament hat also nicht die Wirkung, daß Christus mit ihm erst anfinge, das Brot des Lebens zu sein; nein, es ruft es uns ins Gedächtnis, daß er zum Brot des Lebens geworden ist, das uns fort und fort Speise geben soll, es gewährt uns ein Kosten und Schmecken dieses Brotes, und indem es das tut, bewirkt es, daß wir die Kraft jenes Brotes erfahren. Denn es gibt uns die Verheißung, daß alles, was Christus getan oder gelitten hat, dazu geschehen ist, uns lebendig zu machen. Und weiter sagt es uns zu, daß diese Lebendigmachung, vermöge deren wir ohne Ende in solchem Leben ernährt, erhalten und bewahrt werden sollen, ewig ist. Denn wie Christus nicht das Brot des Lebens für uns gewesen wäre, wenn er nicht für uns geboren und gestorben und wenn er nicht für uns auferstanden wäre, so wäre er es anderseits jetzt durchaus nicht, wenn nicht die Wirkkraft und Frucht seiner Geburt, seines Todes und seiner Auferstehung eine ewige und unsterbliche Sache
wäre. Das alles hat Christus treffend zum Ausdruck gebracht, indem er spricht: „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt“ (Joh. 6,51). Mit diesen Worten hat er zweifellos zu verstehen gegeben, daß sein Leib uns deshalb zum Brote für das geistliche Leben der Seele würde, weil er zu unserem Heil in den Tod gegeben werden sollte, und uns zum Essen dargereicht würde, wenn er uns seiner im Glauben teilhaftig machte. Er hat also einmal seinen Leib gegeben, daß er zum Brote würde, und zwar, als er ihn zur Erlösung der Welt an das Kreuz dahingab, und er gibt ihn (andererseits auch) Tag für Tag, indem er uns ihn, so wie er gekreuzigt worden ist, im Worte des Evangeliums darbietet, daß wir seiner teilhaftig werden, er gibt ihn, wo er solch Darbieten in dem heiligen Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls versiegelt, und er gibt ihn, indem er das, was er äußerlich im Zeichen veranschaulicht, im Inneren zur Erfüllung bringt.
Wir müssen uns nun hier vor zwei Fehlern hüten: einerseits dürfen wir nicht allzuviel Gewicht darauf legen, die Zeichen in ihrem Wert zu verkleinern, und dadurch den Eindruck erwecken, als wollten wir sie von den in ihnen veranschaulichten Geheimnissen losreißen, an die sie doch gewissermaßen angefügt sind; und andererseits dürfen wir nicht maßlos darauf bedacht sein, sie zu erheben, und uns dadurch den Anschein geben, als verdunkelten wir unterdessen auch einigermaßen die Geheimnisse selbst.
Es ist keiner, er sei denn voll und ganz ohne Religion, der nicht zugäbe, daß Christus das Brot des Lebens ist, mit dem die Gläubigen zur ewigen Seligkeit gespeist werden. Dagegen besteht nicht bei allen die gleiche Einmütigkeit darüber, in welcher Weise man seiner teilhaftig wird.
Es gibt nämlich einige, die mit einem Wort erklären, Christi Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, das sei nichts anderes, als an Christus selbst zu glauben. Mir kommt es aber so vor, als hätte Christus in jener herrlichen Predigt, in der er uns das Essen seines Fleisches anbefiehlt, etwas Kräftigeres und Erhabeneres lehren wollen, nämlich eben dies, daß wir durch wahres Teilhaben an ihm lebendig gemacht werden; und das hat er auch durch die Worte „Essen“ und „Trinken“ zu erkennen gegeben, und zwar dazu, daß niemand auf den Gedanken käme, wir erlangten das Leben, das wir von ihm empfangen, durch einfache Erkenntnis. Denn wie nicht das Anschauen, sondern das Essen des Brotes dem Leibe Nahrung gewährt, so muß die Seele in Wahrheit und durch und durch Christi teilhaftig werden, um mit seiner Kraft zu geistlichem Leben gestärkt zu werden.
Unterdessen aber geben wir zu, daß dies Essen kein anderes ist als das des Glaubens, wie sich denn auch kein anderes erdenken läßt. Jedoch besteht zwischen meinen Worten und denjenigen der obengenannten Leute der Unterschied, daß für sie „Essen“ einfach „Glauben“ bedeutet, während ich demgegenüber behaupte: Christi Fleisch „essen“ wir im Glauben, weil er im Glauben der unsere wird, und dies Essen ist eine Frucht und Wirkung des Glaubens. Oder, wenn man es deutlicher haben will: nach ihrer Meinung ist das Essen der Glaube, nach meiner Ansicht dagegen ergibt es sich aus dem Glauben. Das ist den Worten nach zwar ein geringer Unterschied, in der Sache aber kein unerheblicher. Denn der Apostel lehrt freilich, „Christus wohne durch den Glauben in unserem Herzen“ (Eph. 3,17); aber das wird trotzdem niemand so auslegen, als ob solch Wohnen Christi in uns (einfach) der Glaube sei, sondern es besteht allgemeine Übereinstimmung in der Ansicht, daß hier eine herrliche Auswirkung des Glaubens aufgezeigt wird,
weil ja die Gläubigen durch den Glauben die Gabe erlangen, daß sie nun Christus als den haben, der in ihnen bleibt. In diesem Sinne hat der Herr, als er sich das Brot des Lebens nannte (Joh. 6,48), nicht nur die Lehre geben wollen, daß das Heil für uns auf dem Glauben an seinen Tod und seine Auferstehung beruht, nein, er wollte auch lehren, wie es durch das wahre Teilhaben an ihm dazu kommt, daß sein Leben in uns übergeht und unser eigen wird, so wie das Brot, wenn es zur Nahrung genommen wird, dem Körper Kraft zukommen läßt.
IV,17,6
Die Vertreter der obigen Anschauung rufen nun Augustin als Gewährsmann an. Aber wenn er schreibt, wir äßen, indem wir glaubten (Predigten zum Johannesevangelium 26,1), so tut er das in keinem anderen Sinne, als um zu zeigen, daß solch Essen Sache des Glaubens und nicht des Mundes ist. Das bestreite ich auch meinerseits nicht; aber ich setze doch zugleich hinzu: wir erfassen Christus im Glauben nicht als einen, der uns von ferne erscheint, sondern als den, der sich mit uns eint, damit er unser Haupt sei und wir seine Glieder. Trotzdem ist es nicht so, daß ich jene Redeweise einfach mißbilligte; ich leugne nur, daß sie eine vollständige Auslegung darstellt, wenn man damit bestimmen will, was es heißt, Christi Fleisch zu essen. Übrigens sehe ich, daß Augustin diese Redeweise häufiger gebraucht hat. So zum Beispiel, wenn er im dritten Buche seines Werkes „Von der christlichen Unterweisung“ sagt: „Wenn es heißt: ‘Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes ...’ (Joh. 6,53), so ist das ein Bild, in dem wir die Weisung empfangen, am Leiden des Herrn teilzuhaben und lieblich und nutzbringend im Gedächtnis zu behalten, daß sein Fleisch für uns gekreuzigt und verwundet ist“ (Von der christlichen Unterweisung III,16,24). Ebenso geschieht es, wenn er erklärt, die dreitausend Menschen, die durch die Predigt des Petrus bekehrt worden sind (Apg. 2,41), hätten das Blut Christi, das sie in ihrem Wüten vergossen hätten, im Glauben getrunken (Predigten zum Johannesevangelium 31,9; 40,2). Dagegen preist er an sehr vielen anderen Stellen in herrlicher Weise die Wohltat des Glaubens, daß durch ihn unsere Seelen in der Gemeinschaft mit dem Fleische Christi nicht weniger erquickt werden als unsere Leiber mit dem Brot, das sie essen. Und das ist das nämliche, was Chrysostomus an einer Stelle schreibt: Christus mache uns nicht nur im Glauben, sondern mit der Tat zu seinem Leibe (Predigt 60). Das versteht er nicht so, als ob man solches Gut anders als aus dem Glauben erlangen könnte; nein, er will nur die Möglichkeit ausschließen, daß jemand, wenn er den Glauben nennen hört, darunter eine nackte Einbildung begreift.
Die Leute aber, die der Meinung sind, das Abendmahl sei bloß ein Merkzeichen für das äußere Bekenntnis, übergehe ich jetzt; ihren Irrtum glaube ich nämlich zureichend widerlegt zu haben, als ich von den Sakramenten im allgemeinen sprach. Der Leser wolle nur dies beachten: wenn der Kelch als „Bund“ („Neues Testament“) in Christi „Blut“ bezeichnet wird, so kommt darin eine Verheißung zum Ausdruck, die stark genug ist, um den Glauben zu bekräftigen. Daraus ergibt sich, daß wir das Heilige Abendmahl nicht recht gebrauchen, wenn wir nicht auf Gott schauen und annehmen, was er uns darreicht.
IV,17,7
Weiter befriedigen mich auch die nicht, die zwar anerkennen, daß wir mit Christus einige Gemeinschaft haben, uns aber dann, wenn sie diese Gemeinschaft aufweisen wollen, nur seines Geistes teilhaftig sein lassen und dabei des Fleisches und Blutes keinerlei Erwähnung tun. Als ob es alles umsonst gesagt wäre, wenn es heißt, sein Fleisch sei in Wahrheit eine Speise, sein Blut in Wahrheit ein Trank (Joh. 6,55), und nur der habe das Leben, der dieses Fleisch äße und dieses Blut trinke (Joh. 6,53)! Daneben stehen auch noch andere Aussagen dieser Art.
Wenn es daher feststeht, daß die vollgültige Gemeinschaft mit Christus über die Beschreibung dieser Leute, die eben viel zu eng gefaßt ist, hinausgeht, so will ich mich daranmachen, mit wenigen Worten anzudeuten, wie weit sie geht und sich ausdehnt, und dann erst will ich auf den entgegengesetzten Fehler eingehen, der darin besteht, daß man jene Beschreibung zu weit spannt. Denn ich werde eine längere Auseinandersetzung mit solchen Lehrern haben müssen, die die Dinge zu weit treiben: sie erdenken sich in ihrer Unkundigkeit eine widersinnige Art und Weise solchen Essens und Trinkens, und dadurch kommt es dann auch dazu, daß sie Christus seines Fleisches berauben und ihn in ein Gespenst verwandeln.
Das alles aber geht (eigentlich) nur, wenn es möglich ist, dies große Geheimnis mit irgendwelchen Worten zu erfassen – ich sehe aber, daß ich es nicht einmal mit dem Herzen genugsam begreife, und ich gebe das auch gern zu, damit nicht jemand seine Erhabenheit nach dem geringen Maß meines kindlichen Stammelns bemißt. Ja, ich fordere die Leser vielmehr auf, das Empfinden ihres Verstandes nicht in dieser gar zu engen Grenze zu halten, sondern danach zu streben, daß sie höher emporsteigen, als sie es unter meiner Anleitung vermögen. Denn es geht mir selbst so: allemal, wenn von dieser Sache die Rede ist, dann meine ich, nachdem ich alles zu sagen versucht habe, ich hätte im Vergleich zur Würde der Sache noch gar wenig gesagt. Und obgleich der Geist mit seinem Nachdenken mehr erreicht als die Zunge mit ihrem Ausdruck, so wird doch auch er von der Größe der Sache überwunden und überrannt. Daher bleibt endlich nichts anderes übrig, als daß ich in die Bewunderung dieses Geheimnisses ausbreche, das weder mein Verstand völlig zu bedenken noch meine Zunge darzulegen imstande sein kann. Dennoch will ich den Hauptinhalt meiner Meinung, so gut es immer gehen mag, auseinandersetzen; denn ich zweifle nicht daran, daß sie wahr ist, und bin deshalb auch der Zuversicht, daß sie von frommen Herzen nicht verworfen werden wird.
IV,17,8
Vor allem anderen werden wir aus der Schrift gelehrt, daß Christus seit Anbeginn das lebendigmachende Wort des Vaters (Joh. 1,1), der Brunnen und Ursprung des Lebens gewesen ist, von dem alles je und je das Leben empfangen hat. Daher kommt es, daß Johannes ihn bald „das Wort des Lebens“ nennt (1. Joh. 1,1f.), bald auch schreibt, daß „in ihm das Leben“ gewesen sei (Joh. 1,4): damit gibt er zu verstehen, daß Christus auch dazumal alle Kreaturen durchdrungen und ihnen die Kraft zum Atmen und Leben eingegeben hat.
Der nämliche Johannes setzt aber dann hernach hinzu, daß uns das Leben erst da offenbart worden ist, als der Sohn Gottes unser Fleisch annahm und sich von unseren Augen sehen und von unseren Händen betasten ließ (1. Joh. 1,2; Joh. 1,14). Denn er ließ freilich auch zuvor seine Kraft auf die Kreaturen überströmen; aber der Mensch war ja durch die Sünde von Gott entfremdet, er war des Anteilhabens am Leben verlustig gegangen und sah nun, wie ihm von allen Seiten der Tod drohte; damit er also die Hoffnung auf die Unsterblichkeit wiedererlangte, mußte er in die Gemeinschaft mit diesem Wort aufgenommen werden. Denn was für Zuversicht würdest du wohl daraus schöpfen, wenn du zwar vernähmest, daß Gottes Wort, von dem du aber so weit entfernt wärest wie nur möglich, die Fülle des Lebens in sich beschließt – in dir selber aber und rings um dich herum dir nichts begegnete und nichts vor die Augen träte als der Tod? Aber seitdem dieser Brunnen des Lebens in unserem Fleisch zu wohnen angefangen hat, liegt er nun nicht mehr fern für uns verborgen, sondern ist uns nahe und bietet sich uns dar, daß wir an ihm teilhaben können! Ja, er läßt auch das Fleisch, in dem er wohnt, für uns lebendigmachend sein, daß wir durch das Teilhaben an ihm zur Unsterblichkeit gespeist werden. „Ich bin“, sagt er, „das Brot des Lebens, vom Himmel gekommen ... Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt“ (Joh. 6,51; vgl. Joh. 6,48). Mit diesen Worten lehrt er, daß er nicht nur insofern
das Leben ist, als er Gottes ewiges Wort ist, das vom Himmel zu uns herniederstieg, sondern daß er durch sein Herniederkommen jene Kraft in das Fleisch ergossen hat, das er annahm, damit uns aus ihm das Teilhaben am Leben zufließe.
Daraus ergibt sich dann auch dies, daß sein Fleisch in Wahrheit eine Speise, sein Blut in Wahrheit ein Trank ist (Joh. 6,55) und die Gläubigen durch solche Nahrung zum ewigen Leben genährt werden. Ein herrlicher Trost liegt für die Frommen also darin, daß sie nun in ihrem eigenen Fleische das Leben finden. Denn damit dringen sie nicht nur in leichtem Zugang zu ihm hin, sondern es liegt frei vor ihnen und kommt ihnen entgegen. Sie brauchen nur den Busen ihres Herzens zu öffnen, um es als gegenwärtig zu empfangen, dann werden sie es erhalten!
IV,17,9
Allerdings hat Christi Fleisch nicht aus sich selbst heraus soviel Kraft, um uns lebendig zu machen; denn es war in seinem früheren Zustande der Sterblichkeit unterworfen, und jetzt, wo es mit Unsterblichkeit begabt ist, lebt es nicht aus sich selbst. Aber es wird trotzdem mit Recht als „lebendigmachend“ bezeichnet, weil es mit der Fülle des Lebens durchdrungen ist, um sie auf uns übergehen zu lassen. In diesem Sinne lege ich mit Cyrill das Wort Christi aus: „Wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in ihm selber“ (Joh. 5,26). Denn an dieser Stelle geht Christus im eigentlichen Sinne auf seine Gaben ein, und zwar nicht auf die, welche er seit Anbeginn bei dem Vater besaß, sondern auf jene, mit denen er eben in dem Fleische geziert wurde, in dem er erschienen ist. Er zeigt also, daß auch in seiner menschlichen Natur die Fülle des Lebens wohnt: es soll eben jeder, der an seinem Fleisch und Blut teilhat, zugleich des Lebens teilhaftig sein.
In welcher Weise das geschieht, möchte ich mit einem bekannten Beispiel darlegen. Aus einem Brunnen wird das Wasser bald getrunken, bald geschöpft, bald durch Kanäle zur Bewässerung von Ackerland abgeleitet; trotzdem liegt es nicht an dem Brunnen selbst, daß er zu so vielerlei Nutzbrauch sein Wasser überströmen läßt, sondern an der Quelle, die ihm in fortwährendem Fließen immer wieder neue Ströme darreicht und zukommen läßt. Genau ebenso ist Christi Fleisch wie ein reicher, unerschöpflicher Brunnen, der das Leben, das aus der Gottheit (der „göttlichen Natur“) zu ihm hinüberquillt, zu uns überströmen läßt. Wer merkt nun noch nicht, daß die Gemeinschaft an Christi Fleisch und Blut für alle, die nach dem himmlischen Leben streben, unerläßlich ist?
Hierauf beziehen sich auch zahlreiche Aussagen des Apostels. So das Wort, daß die Kirche der „Leib“ Christi und seine „Fülle“ ist, er selber aber „das Haupt“ (Eph. 1,22f.), „von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke ..., daß der Leib wächst“ (Eph. 4,16). Oder auch das andere, daß unsere „Leiber Christi Glieder sind“ (1. Kor. 6,15). Wir verstehen, daß dies nicht anders geschehen kann als dadurch, daß er ganz, mit Geist und Leib, mit uns verbunden ist. Aber diese unlösbar enge Gemeinschaft, in der wir mit Christi Fleisch verbunden werden, hat der Apostel noch mit einem köstlicheren Lobpreis verherrlicht, indem er sagte: „Wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinem Gebein“ (Eph. 5,30). Und um schließlich zu bezeugen, daß diese Sache größer ist als alle erdenklichen Worte, beschließt er seine Rede mit dem Ausruf: „Das Geheimnis ist groß“ (Eph. 5,32). Es würde also von äußerstem Aberwitz zeugen, wenn man keine Gemeinschaft der Gläubigen mit Fleisch und Blut des Herrn anerkennen wollte, wo doch der Apostel erklärt, daß sie so groß ist, daß er sie lieber bewundern als darlegen will.
IV,17,10
Zusammenfassend sei gesagt: unsere Seelen werden mit dem Fleisch und Blut Christi nicht anders genährt, als wie Brot und Wein das leibliche Leben erhalten und fördern. Denn das Entsprechungsverhältnis, das bei dem Zeichen (in seiner Beziehung zur Sache) besteht, würde nicht passen, wenn die Seelen nicht ihre Speise in Christus fänden. Und das kann nicht geschehen, wenn Christus nicht in Wahrheit mit uns in eins zusammenwächst und uns durch das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes erquickt.
Es mag allerdings wohl unglaublich erscheinen, daß Christi Fleisch bei so großer räumlicher Entfernung zu uns dringen kann, um uns zur Speise zu werden; aber wir wollen bedenken, wie weit die verborgene Kraft des Heiligen Geistes über alle unsere Sinne hinausragt, und wie töricht es wäre, ihre Unermeßlichkeit nach unserem Maß messen zu wollen. Was also unser Verstand nicht begreift, das soll der Glaube erfassen: was räumlich getrennt ist, das wird vom Heiligen Geist in Wahrheit geeint.
Jenes heilige Teilhaben an seinem Fleisch und Blut nun, in dem Christus sein Leben auf uns überströmen läßt, wie wenn es uns in Mark und Bein dränge, – das bezeugt und versiegelt er auch im Abendmahl, und zwar nicht durch vorhalten eines eitlen und leeren Zeichens, sondern indem er die Wirkkraft seines Geistes dabei ans Licht bringt, um mit ihr das, was er verheißt, in Erfüllung gehen zu lassen. Und es ist zweifellos so, daß er die Sache, die darin als in einem Zeichen veranschaulicht wird, allen darbietet und vor Augen stellt, die sich zu jenem geistlichen Mahl niederlassen, obgleich sie allein von den Gläubigen mit Frucht empfangen wird, die solche große Freundlichkeit in wahrem Glauben und mit herzlicher Dankbarkeit annehmen.
In diesem Sinne hat der Apostel gesagt, „das Brot, das wir brechen“, sei „die Gemeinschaft des Leibes Christi“, und „der Kelch, welchen wir“ mit Wort und Gebet dazu „segnen“, sei „die Gemeinschaft des Blutes Christi“ (1. Kor. 10,16). Es besteht auch kein Anlaß dazu, daß irgendwer den Einwand macht, das sei hier eine bildliche Redeweise, in welcher der Name der im Zeichen veranschaulichten Sache auf das Zeichen selbst übertragen würde. Ich gebe allerdings zu, daß das Brechen des Brotes ein Merkzeichen ist und nicht die Sache selbst. Aber wenn wir das feststellen, so können wir doch daraus, daß uns das Zeichen dargegeben wird, mit Recht den Schluß ziehen, daß uns auch die Sache gewährt wird. Denn wenn einer Gott nicht lügenhaft nennen will, so wird er sich nie und nimmer erdreisten, die Behauptung aufzustellen, es würde uns von ihm ein eitles Merkzeichen vorgehalten. Wenn also der Herr durch das Brechen des Brotes in Wahrheit das Teilhaben an seinem Leibe veranschaulicht, so darf es durchaus nicht in Zweifel gezogen werden, daß er uns dies auch in Wahrheit gewährt und dargibt. Und es müssen überhaupt alle Gläubigen die Regel festhalten, daß sie allemal, wenn sie die Merkzeichen sehen, die der Herr eingesetzt hat, auch gewißlich dafürhalten und überzeugt sein sollen, daß darin auch die Wahrheit der im Zeichen dargestellten Sache gegenwärtig sei. Weshalb gibt dir denn der Herr anders das Merkzeichen seines Leibes in die Hand, als um dich des wahren Teilhabens an ihm zu vergewissern? Wenn es nun wahr ist, daß uns das sichtbare Zeichen dargeboten wird, um die Schenkung der unsichtbaren Sache zu versiegeln, so sollen wir, wenn wir das Merkzeichen des Leibes Christi empfangen haben, die feste Zuversicht in uns tragen, daß uns nicht weniger auch der Leib selbst gegeben wird.
IV,17,11
Ich behaupte also – und so hat man es in der Kirche allezeit angenommen, ebenso lehren es auch heute alle, die der rechten Meinung sind –, daß das heilige Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls aus zwei Dingen besteht: aus leiblichen Zeichen, die uns vor Augen gestellt werden und uns unsichtbare Dinge nach dem
Auffassungsvermögen unserer Schwachheit veranschaulichen, und der geistlichen Wahrheit, die durch die Merkzeichen selbst zugleich abgebildet und dargeboten wird.
Wenn ich nun auf leichtfaßliche Weise zeigen will, von welcher Art diese Wahrheit ist, so pflege ich dreierlei aufzustellen: die Bedeutung (significatio), die zugrunde liegende Ursache (materia), die davon abhängt, und die Kraft oder Wirkung, die sich aus beiden ergibt. Die „Bedeutung“ liegt in den Verheißungen, die gewissermaßen in das Zeichen eingehüllt sind. Als zugrundeliegende Ursache oder „Substanz“ bezeichne ich Christus mit seinem Tod und seiner Auferstehung. Unter der Wirkung aber verstehe ich die Erlösung, die Gerechtigkeit, die Heiligung, das ewige Leben und all die anderen Wohltaten, die uns Christus schafft.
Und weiter: all dies bezieht sich allerdings auf den Glauben; aber trotzdem gebe ich der Lästerung keinen Raum, als ob ich mit dem Satz, daß Christus im Glauben ergriffen wird, etwa meinte, er würde bloß mit dem Verstand oder der Einbildung erfaßt. Wenn ihn nämlich die Verheißungen anbieten, so geschieht das nicht, damit wir beim Anschauen oder bei einer bloßen Erkenntnis hängenbleiben, sondern damit wir des wahren Anteilhabens an ihm genießen. Und ich sehe wirklich nicht, wieso jemand die Zuversicht haben will, in Christi Kreuz die Erlösung und Gerechtigkeit und in seinem Tode das Leben zu haben, ohne vor allem auf die wahre Gemeinschaft mit Christus selbst sein Vertrauen zu setzen. Denn alle diese Güter kämen nicht zu uns hin, wenn sich uns Christus nicht zuvor zu eigen gäbe.
Ich behaupte also, daß uns im Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls durch die Merkzeichen Brot und Wein Christus in Wahrheit dargeboten wird und damit auch sein Leib und Blut, in welchen er allen Gehorsam erfüllt hat, um uns die Gerechtigkeit zu erwerben. Und das geschieht, damit wir erstens mit ihm zu einem Leibe zusammenwachsen und zweitens, seiner Substanz teilhaftig geworden, auch seine Kraft erfahren, indem wir an allen seinen Gütern teilhaben.
IV,17,12
Jetzt gehe ich zu den übertriebenen Vermengungen über, die der Aberglaube aufgebracht hat. Denn hier hat der Satan in erstaunlicher Arglist sein Spiel getrieben, um den Geist der Menschen vom Himmel wegzuziehen und sie mit dem verdrehten Irrtum zu erfüllen, als ob Christus an das Element des Brotes gebunden sei.
Zunächst dürfen wir uns nun die Gegenwart Christi im Sakrament in keiner Weise so zusammenträumen, wie sie sich die Kunstmeister des römischen Hofes erdacht haben, als ob Christi Leib in räumlicher Gegenwärtigkeit hingestellt würde, damit wir ihn mit unseren Händen betasteten, mit unseren Zähnen zerdrückten und mit unserem Munde verschluckten. Denn das ist der Inhalt der Widerrufsformel, die der Papst Nikolaus (II.) dem Berengar (von Tours) diktierte, damit sie als Zeuge seiner Bußfertigkeit diente; und das geschah mit derart ungeheuerlichen Worten, daß der Verfasser der Randbemerkungen (zum Decretum Gratiani) ausruft, es bestehe die Gefahr, daß die Leser, wenn sie nicht vorsichtig auf ihrer Hut seien, daraus eine schlimmere Ketzerei entnähmen, als es die des Berengar gewesen sei (Decretum Gratiani III,2,42; Glosse zum Decretum Gratiani zur nämlichen Stelle). Und Petrus Lombardus gibt sich zwar große Mühe, diesen Widersinn zu beschönigen, neigt aber trotzdem mehr zu einer abweichenden Ansicht.
Denn wir sind nun einerseits fest überzeugt, daß der Leib Christi nach der ständigen Art des menschlichen Leibes begrenzt ist und vom Himmel umschlossen wird (vgl. Apg. 3,21), in den er einmal aufgenommen ist, bis er wiederkommt, um Gericht zu halten; und deshalb halten wir es andererseits für völlig unstatthaft, ihn
wieder unter diese vergänglichen Elemente herabzuziehen oder sich einzubilden, er sei allenthalben gegenwärtig.
Das ist aber auch in der Tat nicht notwendig, damit wir des Anteilhabens an ihm genießen können: denn der Herr gewährt uns durch seinen Geist die Wohltat, daß wir nach Leib, Geist und Seele mit ihm eins werden. Das Band dieser Verbindung ist also der Geist Christi: er ist die Verknüpfung, durch die wir mit ihm verbunden werden, und er ist gleichsam ein Kanal, durch den alles, was Christus selber ist und hat, zu uns geleitet wird (Chrysostomus in einer Predigt über den Heiligen Geist). Wenn wir nämlich sehen, wie die Sonne mit ihren Strahlen auf die Erde scheint und gewissermaßen, um ihre Sprößlinge zu zeugen, zu nähren und zu beleben, ihre Substanz auf sie übergehen läßt – weshalb sollten dann die Strahlen des Geistes Christi von geringerem Vermögen sein, um uns die Gemeinschaft mit seinem Fleisch und Blut zuzutragen? Daher kommt es, daß die Schrift, wo sie von unserem Teilhaben an Christus redet, dessen gesamte Kraft auf den Heiligen Geist zurückführt. Statt vieler Stellen mag es genügen, eine einzige zu nennen. Paulus spricht nämlich im achten Kapitel seines Briefes an die Römer davon, daß Christus nicht anders als durch seinen Geist in uns wohnt (Röm. 8,9); aber damit hebt er doch jene Gemeinschaft mit Fleisch und Blut Christi, von der hier die Rede ist, nicht etwa auf, sondern er lehrt, daß es durch den Geist allein dazu kommt, daß wir den ganzen Christus besitzen und als den haben, der in uns bleibt.
IV,17,13
Bescheidener äußern sich solche Schultheologen, die in der Abscheu gegen solch barbarische Gottlosigkeit befangen sind. Aber auch sie tun trotzdem nichts anderes, als daß sie mit feineren Gaukeleien ihr Spiel treiben. Sie geben zu, daß Christus nicht im räumlichen Sinne oder auf leibliche Weise im Sakrament enthalten sei; aber dann erdenken sie sich einen Gedankengang, den sie weder selbst begreifen noch anderen begreiflich machen können, und der geht dann doch darauf hinaus, daß man Christus in der Gestalt (species) des Brotes sucht, wie sie es nennen. Wieso nun? Sie behaupten, die Substanz des Brotes werde in Christus verwandelt – binden sie ihn damit nicht an die weiße Farbe, die nun nach ihrer Meinung allein (von dem Brote) übrigbleibt? Aber, so sagen sie, er ist in der Weise im Sakrament enthalten, daß er doch zugleich im Himmel verbleibt, und wir behaupten keine andere Gegenwärtigkeit als die der sinnlichen Beschaffenheit. Aber was für Wörter sie nun auch zum Vorwand nehmen mögen, um ihrer Sache einen schönen Schein zu geben, so ist doch das Ziel bei allen dies, daß etwas, was zuvor Brot war, durch die Weihe (consecratio) nun Christus wird, so daß sich Christus nun weiter unter dieser Farbe des Brotes verbirgt. Sie schämen sich auch nicht, diese Meinung ausdrücklich auszusprechen. Denn der Lombarde erklärt wörtlich, der Leib Christi, der an und für sich sichtbar sei, liege nach Vollzug der Weihe unter der Gestalt des Brotes verborgen und werde von ihr überdeckt (Sentenzen IV,10,2). So ist also das Abbild jenes Brotes nichts anderes als eine Larve, die unseren Augen den Anblick des Fleisches entziehen soll. Es sind aber auch nicht viele Vermutungen vonnöten, damit wir herausbekommen, was für trügerische Anschläge sie mit diesen Worten haben bereiten wollen; denn die Tatsachen selber reden klar und deutlich. Denn es liegt vor Augen, in was für einem großen Aberglauben schon manche Jahrhunderte lang nicht nur die große Menge der Menschen, sondern auch die führenden Männer gesteckt haben, ja, auch heute noch unter den papistischen Kirchen stecken. Denn um den wahren Glauben, durch den allein wir zu der Gemeinschaft mit Christus kommen und mit Christus verbunden
sind, haben sie sich wenig Sorge gemacht, aber unterdessen meinen sie Christus genugsam gegenwärtig zu haben, wenn sie nur seine fleischliche Gegenwart besitzen, die sie sich außerhalb des Wortes ausgeklügelt haben. Daher sehen wir wie bei dieser scharfsinnigen Spitzfindigkeit im wesentlichen soviel herausgekommen ist, daß man das Brot für Gott hält!
IV,17,14
Daraus ist dann jene erdachte „Transsubstantiation“ (Substanzwandlung) entsprungen, für die sie heutzutage heftiger streiten als für alle anderen Hauptstücke ihres Glaubens. Die ersten Baumeister der räumlichen Gegenwärtigkeit (Christi im Sakrament) konnten sich eben nicht aus der Frage herauswinden, wieso denn Christi Leib mit der Substanz des Brotes vermischt sein könnte, ohne daß sofort zahlreiche Widersinnigkeiten aufträten. Es erwies sich also als notwendig, zu der selbsterdachten Auskunft seine Zuflucht zu nehmen, es geschähe (bei dem Abendmahl) eine Verwandlung („Wandlung“) des Brotes in den Leib (Christi) – nicht, daß im eigentlichen Sinn aus dem Brot der Leib würde, sondern dergestalt, daß Christus die Gestalt des Brotes zunichte machte, um sich unter dem Bild desselben zu verbergen.
Es ist aber doch verwunderlich, daß sie in eine derartige Unwissenheit, ja, Stumpfheit verfallen sind, daß sie gegen den Widerspruch nicht allein der Schrift, sondern auch der einhelligen Überzeugung der Alten Kirche diese Ungeheuerlichkeit vorgebracht haben.
Ich gebe allerdings zu, daß einige unter den alten Kirchenlehrern den Ausdruck „Verwandlung“ zuweilen angewandt haben, und zwar nicht, weil sie die Absicht gehabt hätten, bei den äußeren Zeichen die Substanz abzuschaffen, sondern weil sie lehren wollten, wie das für das Geheimnis (Sakrament) geweihte Brot bei weitem von dem gewöhnlichen unterschieden sei und bereits etwas anderes darstelle. Alle aber erklären sie allenthalben klar und deutlich, daß das Heilige Abendmahl aus zwei Stücken besteht, einem irdischen und einem himmlischen, und unter dem irdischen verstehen sie unstreitig Brot und Wein.
Was die Römischen aber auch schwatzen mögen, so liegt es jedenfalls auf der Hand, daß ihnen der Beistand der Alten Kirche, den sie oftmals dem klaren Worte Gottes entgegenzustellen sich erdreisten, bei der Bekräftigung dieser Lehre abgeht. Auch ist diese Lehre ja nicht eben vor sehr langer Zeit ausgedacht worden; sie ist jedenfalls nicht nur jenen besseren Zeiten unbekannt, in denen noch eine reinere Lehre der Religion in Kraft stand, sondern auch jenen Zeiten, in denen diese Reinheit bereits einigermaßen besudelt war. Unter den alten Kirchenlehrern befindet sich keiner, der nicht mit ausdrücklichen Worten zugäbe, daß die heiligen Merkzeichen des Abendmahls Brot und Wein sind, obwohl sie sie, wie gesagt, zuweilen mit verschiedenartigen (schmückenden) Beiwörtern auszeichnen, um die Würde des Sakraments zu preisen. Denn wenn sie sagen, in der Weihe vollzöge sich eine verborgene Verwandlung, so daß nun etwas anderes da sei als Brot und Wein, so geben sie damit, wie ich bereits bemerkte, nicht etwa zu verstehen, daß diese Elemente zunichte gemacht würden, sondern vielmehr dies, daß sie nun anders angesehen werden müßten als gewöhnliche Nahrungsmittel, die bloß dazu bestimmt sind, den Leib zu speisen, und zwar darum, weil uns in ihnen ja die geistliche Speise und der geistliche Trank der Seele dargeboten werden. Das bestreiten auch wir nicht.
Wenn nun aber eine Verwandlung eintritt, so sagen sie, so muß eben notwendig eins aus dem anderen entstehen. Wenn sie darunter verstehen, daß es etwas wird, was es vorher nicht war, so sage ich Ja. Wollen sie es aber auf ihre Phantasterei beziehen, so sollen sie mir Antwort geben, was für eine Verwandlung denn nach ihrer Meinung bei der Taufe eintritt. Denn auch dabei stellen die Kirchenväter eine wundersame Verwandlung fest, indem sie behaupten, aus dem vergäng-
lichen Element werde das geistliche Bad der Seele, wobei jedoch keiner bestreitet, daß das Wasser Wasser bleibt. Aber, so sagen sie, bei der Taufe finden wir doch nichts von der Art wie das Wort beim Abendmahl: „Das ist mein Leib.“ Als ob es sich hier um jene Worte handelte, die einen genügend deutlichen Sinn haben, und nicht vielmehr um den Ausdruck „Verwandlung“, der beim Abendmahl keine größere Bedeutung haben darf als bei der Taufe. Sie sollen sich also mit solcher Silbenhascherei davonmachen, mit der sie nichts anderes an den Tag bringen als ihre Unkenntnis!
Auch würde die Bedeutung (des Zeichens) nicht passen, wofern nicht die Wahrheit, die in Brot und Wein veranschaulicht wird, in dem äußeren Zeichen einen lebendigen Ausdruck fände. Christus hat mit einem äußeren Merkzeichen bezeugen wollen, daß sein Fleisch eine Speise ist; wenn er uns nun bloß ein eitles Gespenst von Brot, nicht aber wirkliches Brot vorsetzte – wo bliebe dann jenes Entsprechungsverhältnis oder jene Ähnlichkeit, die uns von der sichtbaren Sache zur unsichtbaren führen soll? Damit nämlich alles zusammenpaßte, würde sich unter solchen Umständen die Bedeutung nicht weiter erstrecken, als daß wir durch die „Gestalt“ des Fleisches Christi gespeist würden! Ebenso steht es bei der Taufe: wenn da bloß ein Bild von Wasser wäre und unsere Augen täuschte, dann wäre die Taufe für uns kein gewisses Unterpfand unserer Reinwaschung, ja, es würde uns durch solchen trügerischen Augenschein Anlaß zum Schwanken geben. Das Wesen des Sakraments wird also zunichte gemacht, wenn nicht das irdische Zeichen in der Art der zeichenhaften Veranschaulichung der himmlischen Sache entspricht. Und daher geht also die Wahrheit dieses Geheimnisses verloren, wenn nicht das wahre Brot den wahren Leib Christi vergegenwärtigt. Ich wiederhole es noch einmal: das Abendmahl ist nichts anderes als die sichtbare Bezeugung der Verheißung, die sich im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums findet, nämlich daß Christus das Brot des Lebens ist, das vom Himmel herabgekommen ist (Joh. 6,46.51); soll also dieses geistliche Brot veranschaulicht werden, so muß notwendig sichtbares Brot dazwischentreten, wofern wir nicht wollen, daß uns alle Frucht verlorengeht, die Gott in diesem Stück zur Unterstützung unserer Schwachheit gewährt. Paulus sagt, wir alle, die wir miteinander eines Brotes teilhaftig sind, seien ein Brot und ein Leib (1. Kor. 10,17); in welcher Weise sollte er nun zu diesem Schluß kommen können, wenn uns bloß ein Gespenst von Brot bliebe und nicht vielmehr die natürliche Wirklichkeit?
IV,17,15
Sie wären nun aber von den Gaukeleien des Satans nie und nimmer so jämmerlich angeführt worden, wenn sie nicht schon (zuvor) von jenem Irrtum bezaubert gewesen wären, der Leib Christi sei in das Brot eingeschlossen und werde dann mit dem leiblichen Munde in den Leib befördert. Die Ursache für diese grobe Einbildung bestand darin, daß die Weihe (Konsekration) bei ihnen ebensoviel bedeutete wie eine Zauberbeschwörung. Dabei war ihnen aber der Grundsatz verborgen, daß das Brot nur für solche Menschen ein Sakrament ist, an die sich das Wort richtet, wie sich auch das Wasser der Taufe nicht in sich verändert, sondern, sobald sich die Verheißung mit ihm verbindet, für uns etwas zu sein anfängt, was es zuvor nicht war.
Ich will ein ähnliches Sakrament als Beispiel nehmen; dann wird die Sache deutlicher werden. Das Wasser, das in der Wüste aus dem Felsen hervorfloß (Ex. 17,6), war für die Väter das Erkennungsmerkmal und Zeichen für die nämliche Sache, die uns der Wein im Abendmahl veranschaulicht. Denn Paulus lehrt, sie hätten (mit uns) „einerlei geistlichen Trank getrunken“ (1. Kor. 10,4). Dieses Wasser haben nun aber zusammen mit dem Volke auch seine Lasttiere und sein Vieh genossen. Daraus ergibt sich mit Leichtigkeit, daß bei den irdischen
Elementen, wenn sie zu geistlichem Gebrauch angewendet werden, keine andere Verwandlung stattfindet als mit Bezug auf die Menschen, insofern diese Elemente für sie ja Siegel der Verheißungen sind.
Und zudem: wenn es, wie ich nun zu mehreren Malen einschärfe, Gottes Absicht ist, uns mit geeigneten Mitteln zu sich emporzuheben, so machen das die Leute, die uns zwar zu Christus rufen, aber zu dem, der unsichtbar unter dem Brot verborgen liegen soll, mit ihrer Halsstarrigkeit gottlos zunichte. Es kann doch nicht geschehen (so meinten sie), daß sich der Geist des Menschen von dem unermeßlichen räumlichen Abstand freimacht und über die Himmel hinaus bis zu Christus dringt. Und was ihnen die Natur versagte, das haben sie dann mit einer noch schädlicheren Arznei zu bessern gesucht, damit wir auf Erden bleiben und dabei (doch) nicht die Nähe des himmlischen Christus entbehren. Man sehe: das ist also die Notwendigkeit, die sie dazu gezwungen hat, den Leib Christi in seiner Substanz sich verwandeln zu lassen!
Zur Zeit des Bernhard hatte sich zwar schon eine recht harte Redeweise durchgesetzt; aber die Transsubstantiation war noch nicht anerkannt. Und in allen Jahrhunderten zuvor war das Gleichnis in aller Munde, in diesem Sakrament sei die geistliche Sache mit Brot und Wein verbunden.
Was die Worte (Brot und Wein) betrifft (die doch gegen solche Verwandlung sprechen), so geben sie zwar nach ihrer Meinung scharfsinnige Antworten; aber sie bringen dabei nichts vor, was zu der Sache, die hier zur Verhandlung steht, paßte. So sagen sie: der Stab des Mose, der in eine Schlange verwandelt wurde, bekommt zwar den Namen „Schlange“, aber er behält trotzdem den früheren Namen bei und wird als „Stab“ bezeichnet (Ex. 4,3; 7,10). So ist es nach ihrer Meinung im gleichen Maße anzuerkennen, wenn das Brot, obwohl es in eine neue Substanz übergeht, doch im uneigentlichen Sinne, aber doch nicht ohne Sinn als das bezeichnet wird, was es vor Augen und dem Anschein nach ist (nämlich eben als Brot). Aber was für eine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft finden sie zwischen jenem Wunder, das doch bekannt ist, und ihrer ersonnenen Betrügerei, für die kein einziges Auge auf Erden Zeuge ist? (Die Sache war vielmehr so:) Die Zauberer trieben mit Gaukeleien ihr Spiel, um den Ägyptern die Überzeugung beizubringen, sie feien mit göttlicher Kraft ausgerüstet, um über die Ordnung der Natur hinaus die Kreaturen zu verwandeln. Da trat Mose auf, machte alle ihre Betrügereien zunichte und zeigte damit, daß die unüberwindliche Kraft Gottes auf seiner Seite stand, weil ja sein Stab allein alle übrigen verschlang (Ex. 7,12). Aber weil diese Verwandlung mit Augen sichtbar war, so hat sie, wie gesagt, mit unserer Sache hier nichts zu tun, auch kehrte der Stab kurze Zeit nachher in sichtbarer Weise wieder zu seiner Gestalt zurück (Ex. 7,15). Dazu kommt, daß man nicht weiß, ob jene zeitlich vorübergehende Verwandlung auch eine solche der Substanz gewesen ist. Auch muß man beachten, daß Mose (durch die Beibehaltung des Namens „Stab“) auf die Stäbe der Zauberer anspielt; denn der Prophet wollte diese Stäbe nicht als „Schlangen“ bezeichnen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als deutete er eine Verwandlung an, die keine war; denn diese Gaukler hatten ja nichts anderes getan als die Augen der Zuschauer in Finsternis versetzt. Was besteht nun für eine Ähnlichkeit zwischen diesem Vorgang und den Worten über das Abendmahl? Ich nenne etwa: „Das Brot, das wir brechen ...“ (1. Kor. 10,16), oder: „Sooft ihr von diesem Brot esset ...“ (1. Kor. 11,26), oder: „Sie hatten Gemeinschaft im Brotbrechen ...“ (Apg. 2,42; ungenau) – oder ähnliche Worte. Es ist doch sicher, daß durch die Beschwörung der Zauberer bloß die Augen betrogen worden sind. Was Mose betrifft, so ist die Sache nicht so deutlich: es war eben für Gott genau so leicht, durch seine Hand aus dem Stab eine Schlange und wiederum aus der Schlange einen Stab zu machen, als den Engeln fleischliche Leiber anzulegen und sie ihnen wieder auszu-
ziehen. Wenn es mit diesem Sakrament gleich oder ähnlich bestellt wäre, so hätte die Lösung dieser Leute einigen Schein für sich. (Das ist aber nicht der Fall.) Es muß also fest stehenbleiben: im Abendmahl wird uns nur dann in Wahrheit und sachentsprechend die Verheißung gegeben, daß Christi Fleisch (uns) wahrhaft zur Speise wird, wenn dieser Verheißung die wirkliche Substanz des äußeren Merkzeichens entspricht.
Aber es entsteht ja immer ein Irrtum aus dem anderen, und so hat man auch eine Stelle bei Jeremia dermaßen unsinnig verdreht, um die Transsubstantiation zu beweisen, daß es mich verdrießt, davon zu berichten. Der Prophet klagt, daß man in sein Brot Holz gelegt hat (Jer. 11,19; nach der lateinischen Übersetzung, der Vulgata), und damit deutet er an, daß durch das Wüten seiner Feinde sein Brot voll Bitternis geworden ist. Das ist so, wie auch David unter Benutzung des gleichen Bildes klagt, man habe ihm seine Speise mit Galle und sein Getränk mit Essig verdorben (Ps. 69,22). Unsere Widersacher aber geben der Stelle (bei Jeremia) eine sinnbildliche Deutung in der Weise, daß hier gesagt wäre, Christi Leib sei an das Holz des Kreuzes geheftet (und dann nach dieser Stelle in das Brot gelegt) worden. Aber, so entgegnen sie wohl, so haben doch auch einige von den Alten gedacht! Als ob es nicht besser wäre, ihnen ihre Unwissenheit zugute zu halten und ihre Schande zuzudecken, als noch eine Unverschämtheit zuzufügen, so daß die Alten nun gezwungen werden, mit dem ursprünglichen Sinn des Prophetenworts feindselig aneinanderzugeraten.
IV,17,16
Es gibt andere, die sehen, daß man das Entsprechungsverhältnis von Zeichen und bezeichneter Sache nicht zerstören kann, ohne daß damit die Wahrheit des Sakraments zusammenbricht, und die deshalb zugeben, daß das Brot im Abendmahl in Wahrheit die Substanz eines irdischen und vergänglichen Elements ist und keinerlei Verwandlung an sich erfährt, aber (und das ist der entscheidende Punkt) den Leib Christi „unter“ (in) sich eingeschlossen hat.
Es könnte nun sein, daß sie ihre Meinung so auslegten: wenn das Brot im Sakrament dargereicht wird, so ist damit die Darbietung des Leibes Christi unmittelbar verbunden, weil das Zeichen die in ihm dargestellte Wahrheit unabtrennbar bei sich hat. Wäre es so, dann würde ich keinen wesentlichen Streit erheben.
Tatsächlich aber denken sie den Leib selber im Brote räumlich anwesend und dichten ihm dabei eine Allgegenwärtigkeit an, die mit seiner Natur im Widerspruch steht, auch fügen sie die Wörtlein „Unter dem Brote“ hinzu und wollen damit zeigen, der Leib liege unter dem Brote verborgen. Weil es so steht, darum ist es vonnöten, solche Verschlagenheiten ein wenig aus ihren Schlupfwinkeln hervorzuziehen. Ich habe nun hier noch nicht im Sinne, diese ganze Angelegenheit als eigentliches Thema zu behandeln, sondern ich möchte nur zu der Auseinandersetzung, die bald an dem für sie vorgesehenen Orte folgen wird, die Fundamente legen. Sie wollen also, daß der Leib Christi unsichtbar und unermeßlich (d.h. unräumlich) sei, damit er unter dem Brote verborgen liege; denn sie glauben nicht anders mit ihm Gemeinschaft haben zu können, als wenn er in das Brot herniedersteigt. Die Art solchen Herniedersteigens aber, vermöge deren er uns zu sich in die Höhe hebt, begreifen sie nicht. Sie benutzen alle möglichen Scheinfarben als Vorwand; aber wenn sie alles ausgesprochen haben, so wird genugsam augenscheinlich, daß sie auf einer räumlichen Gegenwart Christi bestehen. Woher kommt das nun? Sie können sich eben kein anderes Teilhaben an seinem Fleisch und Blut vorstellen als ein solches, das in räumlicher Verbindung und Berührung oder
in irgendeiner groben Einschließung (des Leibes Christi in das Brot) besteht.
IV,17,17
Um nun solchen Irrtum, den sie einmal unüberlegt aufgebracht haben, halsstarrig zu verteidigen, tragen einige von ihnen keine Bedenken, die Behauptung aufzustellen, daß Christi Fleisch niemals andere Maße gehabt habe, als so weit und breit sich Himmel und Erde erstrecken. Daß er aber als Kind aus dem Schoß seiner Mutter geboren, daß er gewachsen, am Kreuze ausgestreckt und im Grabe verschlossen worden ist, das ist nach ihrer Meinung vermöge einer Art von austeilender Ordnung (dispensatio) geschehen, damit er die Aufgabe erfüllte, geboren zu werden, zu sterben und andere menschliche Pflichten auf sich zu nehmen. Daß er nach seiner Auferstehung in der gewohnten leiblichen Gestalt gesehen worden, in den Himmel aufgenommen und schließlich nach seiner Himmelfahrt dem Stephanus und dem Paulus erschienen ist (Apg. 1,3.9; 7,55; 9,3), das geht, so behaupten sie weiter, auf die nämliche austeilende Ordnung zurück, damit es dem Anblick der Menschen zugänglich würde, daß er als König im Himmel eingesetzt sei. Was heißt das nun anders als den Marcion aus der Hölle hervorziehen? Denn es kann doch niemand bezweifeln, daß Christi Leib, wenn er in solchem Zustande war, ein Scheingebild oder ein Scheinleib gewesen ist!
Manche ziehen sich auch etwas spitzfindiger aus der Sache heraus: sie sagen, dieser Leib, der im Sakrament gegeben wird, sei ein verherrlichter und unsterblicher Leib, und es liege daher keinerlei Widersinn darin, wenn er an vielen Orten, ohne jeden Ort (ohne jede räumliche Gebundenheit) und ohne jede Gestalt, unter dem Sakrament enthalten sei.
Ich frage aber: In welcher Gestalt gab Christus seinen Leib denn den Jüngern an dem Tage, bevor er leiden sollte? Lauten nicht die Worte so, daß er ihnen eben jenen sterblichen Leib dargereicht hat, der kurz nachher dahingegeben werden sollte? Aber, so sagen sie, er hatte doch schon vorher drei Jüngern auf dem Berge (der Verklärung) seine Herrlichkeit zu schauen gegeben (Matth. 17,2)! Das ist allerdings wahr; aber mit dieser verklärten Herrlichkeit wollte er ihnen für eine Stunde einen Geschmack der Unsterblichkeit gewähren. Sie werden jedoch dabei nicht einen zwiefachen Leib finden, sondern eben den einen, den Christus trug, mit neuer Herrlichkeit geziert! Als er aber in dem ersten Abendmahl seinen Leib austeilte, da stand bereits die Stunde bevor, in der er von Gott „geschlagen“ und gedemütigt, ohne Zier und mit Aussatz behaftet daliegen sollte (Jes. 53,4). So wenig kann davon die Rede sein, daß er in diesem Mahl die Herrlichkeit der Auferstehung hätte an den Tag bringen wollen. Zudem: was für ein großes Fenster tut man dem Marcion auf, wenn Christi Leib an der einen Stelle sterblich und niedrig erschaut, an der anderen dagegen unsterblich und herrlich gehalten wurde! Wiewohl das, wenn die Meinung dieser Leute gelten soll, Tag für Tag in der gleichen Weise geschieht, weil sie ja notgedrungen zugeben müssen, daß der Leib Christi, der an und für sich sichtbar ist, unter dem Merkzeichen des Brotes unsichtbar verborgen liege. Und trotzdem schämen sich die Leute, die solche Ungeheuerlichkeiten von sich geben, ihrer Schande so rein gar nicht, daß sie uns von selbst mit wilden Schmähungen berennen, weil wir ihre Meinung nicht unterschreiben.
IV,17,18
Wohlan, wenn man Leib und Blut des Herrn an Brot und Wein festbinden will, so muß man sie notwendig voneinander losreißen. Denn wie das Brot vom Kelche gesondert gereicht wird, so muß auch der Leib, der mit dem Brot dargereicht wird, notwendig von dem Blute getrennt sein, das ja in den Kelch eingeschlossen ist. Wenn sie nämlich behaupten, der Leib Christi sei im Brote und sein Blut im Kelch, und wenn weiterhin Brot und Wein durch einen räum-
lichen Abstand voneinander getrennt sind, so können sie mit keiner Ausflucht der Folgerung entgehen, daß dann also auch der Leib Christi von seinem Blute getrennt werden muß.
Sie machen hier allerdings gewöhnlich einen Vorwand: vermöge des „wechselseitigen Beieinanderseins“ (concomitantia), wie sie es erdichten, sei das Blut im Leibe und der Leib wiederum im Blute. Aber das ist nun wahrhaftig eine gar zu leichtfertige Sache, da ja die Merkzeichen, in welche Leib und Blut eingeschlossen werden, in dieser Weise unterschieden sind.
Wenn wir dagegen mit unseren Augen und Herzen in den Himmel emporgeführt werden, um Christus dort in der Herrlichkeit seines Reiches zu suchen, dann wird es geschehen, daß wir, wie uns die Merkzeichen zu ihm in seiner Ganzheit einladen, in der gleichen Weise auch unter dem Merkzeichen des Brotes von seinem Leibe gespeist und unter dem Merkzeichen des Weines für sich besonders von seinem Blute getränkt werden, um ihn endlich selbst ganz zu genießen. Denn obwohl er sein Fleisch von uns weggenommen hat und mit seinem Leibe gen Himmel gefahren ist, sitzt er nun doch zur Rechten des Vaters, das heißt: er regiert in der Macht, Majestät und Herrlichkeit des Vaters. Dies sein Reich ist von keinerlei räumlichen Weiten begrenzt, von keinerlei Maßen umschlossen; nein, Christus läßt seine Kraft, wo es ihm gefällt, im Himmel und auf Erden wirken, er macht sich in Gewalt und Kraft als der Gegenwärtige kund, er sieht den Seinen immerfort zur Seite, haucht ihnen sein Leben ein, lebt in ihnen, stützt sie, stärkt sie, belebt sie und erhält sie unversehrt, nicht anders, als wenn er mit seinem Leibe gegenwärtig wäre, er speist sie endlich mit seinem eigenen Leibe, dessen Gemeinschaft er durch die Kraft seines Geistes auf sie übergehen läßt. In diesem Sinne wird uns im Sakrament Leib und Blut Christi dargereicht.
IV,17,19
Wir müssen dagegen eine solche Gegenwart Christi im Abendmahl feststellen, die ihn weder an das Element des Brotes bindet noch in das Brot einschließt, noch ihn (auf Erden) auf irgendeine Weise räumlich eingrenzt – denn es liegt auf der Hand, daß all dies seiner himmlischen Herrlichkeit Abbruch tut. Die Gegenwart Christi im Abendmahl dürfen wir uns ferner nicht so vorstellen, daß sie ihm seine Größe wegnimmt oder ihn an vielen Orten zugleich sein läßt oder ihm eine unermeßliche Weite andichtet, die sich über Himmel und Erde verstreut – denn dies steht im klaren Gegensatz zu der Echtheit seiner menschlichen Natur. Es bestehen hier also zwei einschränkende Forderungen, die wir uns nie und nimmer wegnehmen lassen wollen. Einerseits darf der himmlischen Herrlichkeit Christi kein Eintrag getan werden, wie es geschieht, wenn man ihn wieder unter die vergänglichen Elemente dieser Welt bringt oder ihn an irgendwelche irdischen Kreaturen bindet. Andererseits darf seinem Leibe nichts angedichtet werden, was der menschlichen Natur nicht entspricht: das geschieht, wenn man behauptet, er sei unbegrenzt, oder wenn man ihn an vielen Orten zugleich sein läßt.
Im übrigen nehme ich nach Behebung dieser Widersinnigkeiten alles bereitwillig an, was dazu dienen kann, das wahre und wesenhafte Teilhaben an dem Leibe und Blute des Herrn zum Ausdruck zu bringen, die unter den heiligen Merkzeichen des Abendmahls den Gläubigen dargeboten werden. Und das soll dergestalt geschehen, daß man es nicht so versteht, als ob die Gläubigen Christi Leib und Blut bloß in der Einbildung oder mit dem Begreifen ihres Verstandes erfaßten, sondern vielmehr so, daß sie diese tatsächlich als Speise zum ewigen Leben genießen.
Daß diese (meine) Meinung der Welt so verhaßt ist und daß ihre Verteidigung durch die unbilligen Urteile vieler Leute von vornherein unmöglich gemacht
wird, das hat seine Ursache nur darin, daß der Satan die Sinne solcher Menschen mit furchtbarer Zauberei betört hat. Auf jeden Fall stimmt das, was wir lehren, in allen Stücken aufs beste mit der Schrift überein, es enthält nichts Widersinniges nichts Dunkles und nichts Zweideutiges, es steht nicht im Gegensatz zu wahrer Frömmigkeit und wohlgegründeter Erbauung, und es trägt endlich auch nichts Ärgernis, erregendes in sich – nur ist eben einige Jahrhunderte lang, da in der Kirche die Unwissenheit und Unbildung der Klüglinge das Regiment führte, solch klares Licht und solche auf der Hand liegende Wahrheit jämmerlich unterdrückt worden. Da sich aber der Satan auch heute bemüht, diese Wahrheit durch unruhsüchtige Geister mit allen möglichen Schmähungen und Vorwürfen zu besudeln, und da er auf nichts anderes mit größerer Anstrengung versessen ist, so ist es angebracht, sie nachdrücklicher zu schützen und zu verteidigen.
IV,17,20
Bevor wir nun weiter fortschreiten, müssen wir die Stiftung selbst behandeln, wie sie Christus vollzogen hat; vor allem, weil der beliebteste Einwurf unserer Widersacher darin besteht, wir wichen von den Worten Christi ab. Um uns nun von der falschen Nachrede, mit der sie uns belasten, freizumachen, werden wir am geschicktesten mit der Auslegung der (Einsetzungs-) Worte den Anfang machen. Nach dem Bericht von drei Evangelisten und dem des Paulus hat Christus das Brot genommen, es nach einer Danksagung gebrochen, seinen Jüngern gegeben und gesagt: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben – oder: gebrochen – wird.“ Von dem Kelch berichten Matthäus und Markus die Worte: „Dieser Kelch ist das Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“ (Fassung etwas ungenau nach Matth. 26,28). Paulus und Lukas dagegen berichten: „Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut ...“ (Fassung nach 1. Kor. 11,25; zum Ganzen: Matth. 26,26-28; Mark. 14,22-24; Luk. 22,17.19f.; 1. Kor. 11,24f.).
Die Verteidiger der Transsubstantiation sind nun der Ansicht, durch das Wörtchen „das“ sei die „Gestalt“ des Brotes angedeutet; denn (nach ihrer Ansicht) wird die „Weihe“ (Konsekration) durch den ganzen Zusammenhang der Worte vollzogen, und es ist keine „Substanz“ vorhanden, auf die sich weisen ließe. Aber wenn sie sich von der frommen Ehrerbietung gegen die Worte halten lassen, weil Christus bezeugt hat, das, was er seinen Jüngern in die Hand gab, sei sein Leib, – so hat jedenfalls ihr Hirngespinst, nach dem das, was zuvor Brot war, nun (Christi) Leib sein soll, mit dem eigentlichen Sinn dieser Worte nicht das mindeste zu tun. Was Christus in die Hand nimmt und seinen Aposteln darreicht, das ist, so erklärt er, sein Leib. Er hatte aber Brot in die Hand genommen – und wer begreift also nicht, daß es auch noch Brot war, was er ihnen zeigte, und daß es deshalb nichts Widersinnigeres gibt, als wenn man das, was von dem Brot gesagt wird, auf die „Gestalt“ überträgt?
Andere verstehen das Wörtlein „ist“ so, als ob es für „verwandelt werden“ gesetzt sei (also den Vorgang der Transsubstantiation andeute), und nehmen damit ihre Zuflucht zu einer noch gezwungeneren und gewaltsam verdrehten Auslegung. Sie haben also keinen Grund, um den Vorwand zu brauchen, sie ließen sich durch die Ehrfurcht vor den Worten bewegen. Denn in keinem Volk und in keiner Sprache hat man je etwas davon gehört, daß das Wörtchen „ist“ in diesem Sinne gebraucht würde, also in dem Sinne von „in etwas anderes verwandelt werden“.
Was nun diejenigen anbetrifft, die das Brot im Abendmahl bleiben lassen (also nicht von einer „Gestalt“ oder dergleichen reden) und dann behaupten, es sei der Leib Christi, so besteht unter ihnen eine große Vielartigkeit.
Einige drücken sich recht bescheiden aus; sie legen zwar scharfen Nachdruck auf den Buchstaben: „Das ist mein Leib“, lassen aber nachher doch von ihrer Schärfe
ab und sagen, diese Worte bedeuteten soviel, wie daß Christi Leib „mit dem Brot, im Brot und unter dem Brot“ sei. Über die Sache, die sie behaupten, haben wir bereits einige kurze Andeutungen gegeben, und es muß bald noch ausführlicher darüber gesprochen werden. Jetzt geht die Erörterung allein um die Worte, von denen sie nach ihrer Behauptung gezwungen werden, die Ansicht nicht zuzulassen, daß das Brot deshalb „Leib“ genannt wird, weil es das Zeichen des Leibes ist. Wenn sie nun aber jeder figürlichen Redeweise (tropus) aus dem Wege gehen, weshalb springen sie dann von dem einfachen Hinweis Christi zu ihren so wesentlich andersartigen Redeweisen über? Denn es ist etwas wesentlich anderes, ob man sagt, das Brot sei der Leib, oder: der Leib sei „mit“ dem Brot! Aber sie haben eben gesehen, wie es unmöglich ist, daß man die Aussage: „das Brot ist der Leib“ in ihrem einfachen Wortsinn aufrechterhält, und deshalb haben sie versucht, mit solchen Redeformen wie auf krummen Umwegen zu entwischen.
Andere sind aber kühner, und die behaupten ohne Zögern, das Brot sei im eigentlichen Sinne der Leib – und auf diese Weise beweisen sie, daß sie wirklich dem Buchstaben gehorchen! Wenn man ihnen entgegenhält, dann sei also das Brot Christus und Gott, dann werden sie das zwar abstreiten, weil es sich in den Worten Christi nicht ausdrücklich findet. Sie werden aber mit ihrem Leugnen nichts erreichen; denn es besteht doch allgemeine Übereinstimmung darüber, daß uns im Abendmahl der ganze Christus dargeboten wird! Es ist aber eine unerträgliche Gotteslästerung, wenn man ohne Bild von einem gebrechlichen und vergänglichen Element erklärt, es sei Christus. Ich nenne zwei Aussagen, einmal: „Christus ist der Sohn Gottes“, und zum anderen: „das Brot ist der Leib Christi“ – und nun frage ich sie, ob die das gleiche bedeuten. Wenn sie zugestehen, daß sie allerdings verschiedenartig sind – und zu diesem Zugeständnis kann man sie gegen ihren Willen zwingen –, so sollen sie mir die Frage beantworten, woher solche Verschiedenheit kommt. Sie werden meines Erachtens keine andere Ursache anführen, als daß eben das Brot in der Weise des Sakraments als „Leib“ bezeichnet wird. Daraus ergibt sich dann, daß Christi Worte der allgemeinen Regel nicht unterworfen sind und nicht nach der Grammatik gerichtet werden dürfen. Und dann: Lukas und Paulus nennen den Kelch „das (Neue) Testament im Blute ...“ (Luk. 22,20; 1. Kor. 11,25); nun frage ich all diese Leute, die so hart und streng auf den Buchstaben dringen, ob Lukas und Paulus mit diesen Worten nicht das nämliche zum Ausdruck bringen wie im ersten Aussageglied, wo es heißt: „Das ist mein Leib.“ Jedenfalls bestand doch bei dem einen Teil des Sakraments die gleiche heilige Ehrfurcht wie bei dem zweiten, und da nun die Kürze keinen deutlichen Sinn ergibt, so läßt die längere Rede den Sinn klar hervortreten. Allemal also, wenn sie auf Grund des einen Wortes behaupten, das Brot sei der Leib Christi, so bringe ich auf Grund einer größeren Anzahl von Worten die gut passende Auslegung vor, das Brot sei „das Testament in seinem Leibe“. Wieso kann man denn einen getreueren und gewisseren Ausleger suchen als Lukas und Paulus?
Ich habe nun aber nicht im Sinn, die Gemeinschaft mit dem Leibe Christi, die ich bekannt habe, irgendwie abzuschwächen; meine Absicht geht nur darauf, die törichte Halsstarrigkeit, mit der sie so feindselig über Worte streiten, abzuwehren. Mit Paulus und Lukas als Gewährsmännern verstehe ich es so, daß das Brot der Leib Christi ist, und zwar, weil es der Bund in seinem Leibe ist. Wenn sie dagegen ankämpfen, so haben sie nicht mit mir, sondern mit dem Geiste Gottes zu streiten. Und mögen sie auch gewaltig klagen, sie würden durch die Ehrerbietung vor den Worten Christi daran gehindert, das Wagnis zu unternehmen, daß sie das, was offen gesagt ist, figürlich verstünden, so ist das doch kein hinreichend gerechter Vorwand, um all die Gründe, die wir dagegen ins Feld führen, dergestalt zu verwerfen.
Indessen müssen wir, worauf ich bereits aufmerksam machte, wohl wissen, was es bedeutet, wenn es heißt, im Leibe und im Blute Christi sei das Testament (der Bund); denn der Bund, der durch das Opfer seines Todes bekräftigt worden ist, würde uns nichts nützen, wenn nicht jene verborgene Gemeinschaft dazukäme, vermöge deren wir mit Christus in eins zusammenwachsen.
IV,17,21
Es bleibt also übrig, daß wir zugeben, daß um der Ähnlichkeit willen, die die im Zeichen veranschaulichten Dinge (res signatae) mit ihren Merkzeichen haben, eben der Name der Sache auch dem Merkzeichen beigelegt worden ist; und dies ist zwar in figürlicher Weise (figurate) geschehen, jedoch nicht ohne ein höchst passendes Entsprechungsverhältnis (analogia). Sinnbildliche Deutungen und Gleichnisse lasse ich beiseite, damit niemand behauptet, ich suchte Ausflüchte oder ginge über die gegenwärtig zur Besprechung stehende Sache hinaus.
Ich behaupte, daß es sich hier um eine übertragende Redeweise (metonymicus sermo) handelt, die in der Schrift immer wieder gebräuchlich ist, wo es um die Geheimnisse (Sakramente) geht. Denn wenn es heißt, die Beschneidung sei der „Bund“ (Gen. 17,13), das Lamm sei das „Vorübergehen“ (Passah; Ex. 12,11), die Opfer unter dem Gesetz seien Sühnungen (Lev. 17,11; Hebr. 9,22), und schließlich der Fels, aus dem in der Wüste Wasser hervorfloß, sei Christus gewesen (Ex. 17,6; 1. Kor. 10,4), so kann man das nur dann verstehen, wenn man annimmt, daß es in übertragendem Sinne gesagt ist. Es wird aber nicht nur der Name von dem Übergeordneten auf das Untergeordnete übertragen, sondern im Gegenteil auch der Name des sichtbaren Zeichens der im Zeichen veranschaulichten Sache beigelegt; so, wenn es heißt, Gott sei dem Mose in dem Dornbusch erschienen (Ex. 3,2), oder wenn die Bundeslade „Gott“ oder „Gottes Angesicht“ (Ps. 84,8; 42,3) oder die Taube der Heilige Geist genannt wird (Matth. 3,16). Denn das Merkzeichen ist allerdings seinem Wesen nach von der im Zeichen veranschaulichten Sache verschieden, weil diese ja geistlich und himmlisch ist, das Zeichen dagegen leiblich und sichtbar; jedoch bildet es die Sache, zu deren Vergegenwärtigung es geheiligt ist, nicht nur wie ein nacktes und leeres Zeichen ab, sondern es bietet sie auch in Wahrheit dar – und weshalb soll ihm dann der Name dieser Sache nicht mit Recht zukommen? Wenn doch die von Menschen erdachten Merkzeichen, die eher Bilder von abwesenden Dingen als Zeichen von gegenwärtigen sind und dazu auch solche Dinge sehr häufig fälschlich andeuten, trotzdem zuweilen mit dem Namen dieser Dinge geziert werden, so entlehnen die von Gott eingesetzten Zeichen mit viel kräftigerer Begründung die Namen der Dinge, deren gewisse und schlechthin untrügliche Bedeutung sie allezeit an sich tragen und deren Wahrheit sie in fester Verbundenheit bei sich haben, die Ähnlichkeit und Verwandtschaft des einen mit dem anderen ist also so groß, daß sie leicht wechselseitig ineinander übergehen.
Daher sollen unsere Widersacher davon ablassen, törichte Sticheleien gegen uns aufzuhäufen, indem sie uns „Tropisten“ (Anhänger der figürlichen Deutung) nennen, wenn wir die bei den Sakramenten angewandte Redeweise nach dem allgemeinen (Sprach-) Gebrauch der Schrift auslegen. Denn wie die Sakramente in vielen Dingen miteinander übereinstimmen, so besteht auch in dieser übertragenden Redeweise (metonymia) etwas Gemeinsames zwischen ihnen. Wie also der Apostel lehrt, daß der Fels, aus dem den Israeliten ein geistlicher Trank hervorsprudelte, Christus gewesen ist (1. Kor. 10,4), und zwar, weil er ein sichtbares Merkzeichen sein sollte, unter dem jener geistliche Trank zwar in Wahrheit, aber nicht augenfällig empfangen wurde – so wird auch heute das Brot als der Leib Christi bezeichnet, weil es ein Merkzeichen ist, in dem uns der Herr den wahren Genuß seines Leibes darbietet.
Anders hat auch Augustin nicht geurteilt und nicht gesprochen – damit niemand diese Ansicht als eine neuerdachte Sache verachtet! „Wenn die Sakramente“, so sagt er, „nicht einige Ähnlichkeit mit den Dingen besäßen, deren Sakramente (Zeichen) sie sind, so wären sie eben keine Sakramente. Auf Grund dieser Ähnlichkeit empfangen sie vor allem auch die Namen der Dinge selbst. Wie also in gewisser Weise das Sakrament des Leibes Christi der Leib Christi und das Sakrament des Blutes Christi das Blut Christi ist, so ist das Sakrament des Glaubens der Glaube“ (Brief 98; an Bonifacius). Es gibt bei ihm noch viele ähnliche Stellen; aber es wäre überflüssig, sie aufzuzählen, da jene eine genügt; einzig muß ich den Leser darauf aufmerksam machen, daß der heilige Mann die nämliche Lehre in seinem Brief an Evodius vertritt (Brief 169,2.9).
Eine leichtfertige Ausflucht aber ist die Behauptung: wenn Augustin lehre, daß die übertragende Redeweise bei den Geheimnissen (Sakramenten) häufig und üblich sei, so erwähnte er das Abendmahl nicht. Wenn man diese Meinung nämlich gelten lassen wollte, so dürfte man auch nicht vom Allgemeinen auf das Besondere schließen, und es würde damit die Schlußfolgerung ungültig: alle Tiere haben die Fähigkeit, sich zu bewegen, also haben auch Ochse und Pferd die Fähigkeit, sich zu bewegen! Jedoch wird ein längerer Streit durch anderwärts stehende Worte des gleichen heiligen Mannes überflüssig gemacht: er behauptet nämlich gegen den Manichäer Adimantus, als Christus das Zeichen seines Leibes ausgeteilt hätte, da hätte er es ohne Bedenken seinen Leib genannt (Gegen Adimantus 12,3). Und wiederum an anderer Stelle, nämlich in der Erklärung zum dritten Psalm, sagt er: „Wunderbarlich ist die Langmut Christi, daß er den Judas zu dem Mahl hinzuzog, in dem er das Bild (figura) seines Leibes und Blutes den Jüngern anbefohlen und gegeben hat“ (zu Psalm 3,1).
IV,17,22
Wenn sich nun trotzdem ein eigensinniger Mensch, blind für alles andere, nur auf dies eine Wörtchen versteift: „Das ist ...“, als ob durch dieses Wort das Abendmahl von allen anderen Geheimnissen (Sakramenten) geschieden würde, so ist ihm leicht zu antworten. Man sagt, das auf die Substanz weisende Wort („ist“) sei so scharf betont, daß es keinerlei bildliche Erklärung zulasse. Wenn wir das nun den Vertretern dieser Ansicht zugeben, so steht doch in den Worten des Paulus ebenfalls dieses die Substanz ausdrückende Wörtlein zu lesen, nämlich, wo er das Brot „die Gemeinschaft des Leibes Christi“ nennt (1. Kor. 10,16). Die „Gemeinschaft“ ist nun aber etwas anderes als der Leib selbst.
Ja, fast überall, wo von den Sakramenten die Rede ist, begegnet uns das nämliche Tätigkeitswort. „Das wird für euch der Bund mit mir sein“, heißt es (Gen. 17,13; nicht Luthertext). Oder: „Dies Lamm wird für euch das Passah sein“ (Ex. 12,11; nicht Luthertext). Und, um nicht mehr Stellen zu nennen: wenn Paulus sagt, der Fels sei Christus gewesen – weshalb finden dann jene Leute an dieser Stelle das substanzausdrückende Wörtlein („ist gewesen“) weniger stark betont als in den Worten Christi? Sie sollen mir auch antworten, was denn das substanzausdrückende Tätigkeitswort in den Worten des Johannes bedeutet: „Der Heilige Geist war noch nicht (da), denn Jesus war noch nicht verklärt“ (Joh. 7,39). wenn sie sich nämlich hier immerfort an ihre Regel klammern, so muß die ewige Wesenheit des Heiligen Geistes zunichte gemacht werden, als ob der Geist seinen Anfang erst mit der Himmelfahrt Christi genommen hätte! Und schließlich sollen sie mir antworten, was das Wort des Paulus bedeutet, nach welchem die Taufe „das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung“ ist (Tit. 3,5), während es doch feststeht, daß sie für viele ohne Nutzen ist!
Es gibt aber nichts Kräftigeres zu ihrer Widerlegung als das Wort des Paulus, die Kirche sei Christus (1. Kor. 12,12). Er führt da nämlich das Gleichnis des
menschlichen Leibes an und fährt dann fort: „Also auch Christus“, und da meint er nicht den eingeborenen Sohn Gottes in sich selber, sondern in seinen Gliedern.
Mit diesen Ausführungen hoffe ich bereits erreicht zu haben, daß bei Menschen von gesunden Sinnen und lauterem Wesen die Lästerungen unserer Feinde stinkend sind, wenn sie die Behauptung ausstreuen, wir weigerten den Worten Christi den Glauben – während wir sie doch nicht weniger gehorsam annehmen als sie selbst und sie mit größerer Ehrfurcht erwägen. Ja, ihre bequeme Sicherheit ist ein Beweis dafür, daß sie sich nicht sehr darum kümmern, was Christus gewollt hat – wenn es ihnen nur einen Schutzschild für ihre Halsstarrigkeit bietet! Und ebenso muß unsere gründliche Untersuchung Zeuge dafür sein, wie hoch uns Christi Autorität steht.
Sie behaupten gehässig, das menschliche Empfinden stehe uns im Wege, so daß wir nicht glaubten, was Christus mit seinem heiligen Munde ausgesprochen hat; aber wie unverschämt es ist, daß sie uns diese Schmach aufbrennen, das habe ich zum großen Teil bereits deutlich gemacht, und es wird hernach noch klarer zum Vorschein kommen. Nichts hindert uns also, Christus in seinen Worten zu glauben und, sobald er das eine oder andere zu verstehen gegeben hat, uns darauf zu verlassen. Es geht nur darum, ob es denn ein Frevel ist, nach dem ursprünglichen Sinn (seiner Worte) zu forschen.
IV,12,23
Um als wohlgebildete Männer zu erscheinen, verbieten diese trefflichen Lehrmeister, auch nur im mindesten vom Buchstaben zu weichen. Mit mir dagegen ist es so: die Schrift nennt Gott einen „Kriegsmann“ (Ex. 15,3); weil ich nun sehe, daß dies, wofern es nicht übertragend gemeint ist, eine gar zu harte Ausdrucksweise ist, so zweifle ich nicht daran, daß es sich dabei um einen von den Menschen hergenommenen Vergleich handelt.
Und in der Tat: als vorzeiten die „Anthropomorphiten“ den rechtgläubigen Vätern Beschwernis bereiteten, da war der Vorwand, unter dem das geschah, kein anderer als der: sie nahmen solche Worte wie: „Die Augen des Herrn sehen“ (Deut. 11,12; 1. Kön. 8,29; Hiob 7,8), oder: „Es ist vor seine Ohren heraufgekommen“ (2. Sam. 22,7; 2. Kön. 19,28 u.ä.), oder: „Seine Hand ist ausgereckt“ (Jes. 5,25; 23,11; Jer. 1,9; 6,12 u.ä.), oder: „Die Erde ist seiner Füße Schemel“ (Jes. 66,1; Matth. 5,35; Apg. 7,49), und diese Worte rissen sie dann wild an sich und schrieen, man raube Gott den Leib, den ihm die Schrift doch beilege. Wenn man dies Gesetz gelten läßt, so wird eine ungeheuerliche Barbarei das ganze Licht des Glaubens verfinstern! Denn was für Ungetüme von Widersinnigkeiten werden schwärmerische Leute (aus der Schrift) beweisen dürfen, wenn es ihnen erlaubt wird, jeden einzelnen Buchstaben zur Bestätigung ihrer Meinungen anzuführen!
Unsere Widersacher machen den Einwand, es sei nicht wahrscheinlich, daß Christus, als er doch den Aposteln einen einzigartigen Trost in den Widerwärtigkeiten bereitete, sinnbildlich oder undeutlich geredet hätte. Aber das ist zu unseren Gunsten geredet! Denn wenn es den Aposteln nicht in den Sinn gekommen wäre, daß das Brot im figürlichen Sinne Christi Leib genannt wurde, weil es eben das Merkzeichen dieses Leibes war, so wären sie von einer so ungeheuerlichen Sache ohne Zweifel in Verwirrung gestürzt worden. Wie Johannes berichtet, sind sie schier im gleichen Augenblick auch in den mindesten Schwierigkeiten bestürzt hängengeblieben. Sie streiten miteinander darüber, wieso Christus
zum Vater gehen würde, sie bringen die Frage auf, wieso er aus der Welt gehen sollte, sie verstehen mit Bezug auf den himmlischen Vater nichts von den Worten, die ihnen gesagt werden, ehe denn sie ihn gesehen hätten (Joh. 14,5.8; 16,17). Wie sollten nun die nämlichen Jünger, die sich so verhalten, mit Leichtigkeit in der Lage gewesen sein, etwas zu glauben, was doch alle Vernunft verwirft, nämlich daß Christus vor ihren Blicken bei Tische säße und doch zugleich unsichtbar unter dem Brote beschlossen wäre? Nun essen sie aber das Brot ohne Bedenken und bezeugen dadurch ihre einhellige Einsicht; daraus ergibt sich also deutlich, daß sie die Worte Christi in dem nämlichen Sinne aufgefaßt haben wie wir; es kam ihnen eben in den Sinn, was bei den Geheimnissen (Sakramenten) nicht unmöglich erscheinen darf, daß der Name der im Zeichen veranschaulichten Sache dem Zeichen beigelegt wird! Der Trost war also für die Jünger gewiß und deutlich, wie er es auch für uns ist, und in keinerlei Rätsel eingehüllt. Und wenn einige Leute mit unserer Auslegung nichts zu tun haben wollen, so besteht dafür keine andere Ursache, als daß sie die Verzauberung des Teufels verblendet hat, so daß sie sich nämlich die finsteren Schatten von Rätseln vormachen, wo doch die Auslegung des abgerundeten Bildes am Wege liegt.
Außerdem: wenn sie sich so scharf auf die Worte versteifen, so müßte Christus in verkehrter Weise von dem Brot für sich allein etwas anderes ausgesagt haben als von dem Kelch. Er nennt das Brot seinen Leib, den Wein nennt er sein Blut; das wäre dann also entweder ein wirres Gerede oder aber eine Zweiteilung, die den Leib vom Blute trennte! Ja, es wäre (dann) ebenso wahrheitsgemäß, wenn es von dem Kelch hieße: „Das ist mein Leib“, wie wenn das von dem Brot selbst gesagt wäre, und wiederum hätte ausgesagt werden können, das Brot sei das Blut! Wenn sie antworten, man müsse darauf achten, zu welchem Zweck und Gebrauch die Merkzeichen eingesetzt seien, so gebe ich das zwar zu; aber sie können sich unterdessen keineswegs daraus herauswinden, daß ihr Irrtum die widersinnige Behauptung mit sich zieht, das Brot sei das Blut Christi und der Wein sein Leib!
Ich weiß nun auch nicht, was es bedeuten soll, daß sie zwar zugeben, das Brot und der Leib seien verschiedene Dinge, dann aber doch behaupten, daß eines vom anderen (d.h. das Brot sei der Leib ...) im eigentlichen Sinne und ohne Bild ausgesagt werde. Das ist genau so, als wenn jemand sagte, ein Gewand sei von dem Menschen verschieden und werde doch im eigentlichen Sinne als Mensch bezeichnet. Unterdessen behaupten sie, man beschuldige Christus der Lüge, wenn man nach der Auslegung seiner Worte forschte – gerade als wenn für sie der Sieg in Halsstarrigkeit und in scheltenden Vorwürfen bestünde!
Nun werden die Leser leicht ein Urteil darüber gewinnen können, was für eine ungerechte Schmach uns diese Silbenhascher antun, indem sie schlichten Leuten die Meinung beibringen, wir entzögen den Worten Christi den Glauben, während diese Worte doch, wie wir nachgewiesen haben, von ihnen unsinnig verdreht und durcheinandergeworfen, von uns aber getreulich und richtig ausgelegt werden.
IV,17,24
Aber der Schandfleck dieser lügenhaften Behauptung läßt sich nicht völlig austilgen, wenn nicht auch die andere Beschuldigung widerlegt wird: sie behaupten nämlich, wir seien dermaßen an die menschliche Vernunft verhaftet, daß wir der Macht Gottes nichts mehr zuschrieben, als die Ordnung der Natur ertrüge und der gesunde Menschenverstand eingäbe. Gegenüber solch ungerechten Schmähungen berufe ich mich auf die vorgetragene Lehre selbst; sie zeigt deutlich genug, daß ich dies Geheimnis durchaus nicht nach dem Maß der menschlichen Vernunft messe oder den Gesetzen der Natur unterwerfe. Ich möchte doch wissen: haben wir es etwa von den Naturforschern gelernt, daß Christus unsere Seelen vom Himmel her mit seinem Fleische ebenso nährt, wie unsere Leiber mit Brot und Wein genährt werden? Woher kommt denn dem Fleisch diese Kraft, daß
es die Seelen lebendig macht? Es werden doch alle sagen, daß das nicht auf natürliche Weise zustande kommt! Ebensowenig wird es der menschlichen Vernunft zusagen, daß Christi Fleisch zu uns dringt, um uns zur Nahrung zu dienen. Kurz, wer von unserer Lehre gekostet hat, der wird zur Bewunderung der verborgenen Macht Gottes hingerissen werden.
Jene trefflichen Eiferer um diese Macht Gottes aber machen sich ein Wunder zurecht, mit dessen Beseitigung Gott samt seiner Macht zunichte wird.
Ich möchte damit die Leser aufs neue ermahnt haben, daß sie gründlich erwägen, was unsere Lehre bedeutet: ob sie vom gesunden Menschenverstand abhängig ist – oder aber auf den Flügeln des Glaubens die Welt unter sich läßt und in den Himmel hinüberdringt! Wir sagen, daß Christus sowohl in dem äußerlichen Merkzeichen als auch in seinem Geiste zu uns herniedersteigt, um unsere Seelen mit der Substanz seines Fleisches und Blutes in Wahrheit lebendig zu machen. Wer nicht empfindet, daß in diesen wenigen Worten zahlreiche Wunder beschlossen sind, der ist mehr als fühllos. Denn es geht nichts mehr gegen die Natur, als daß die Seelen geistliches, himmlisches Leben von einem Fleisch entlehnen, das seinen Ursprung von der Erde genommen hat und dem Tode unterworfen gewesen ist; nichts ist unglaublicher, als daß Dinge, die so weit auseinanderliegen und getrennt sind wie Himmel und Erde, bei solch großem räumlichen Abstande nicht nur verbunden, sondern eins gemacht werden, so daß die Seelen aus dem Fleische Christi Nahrung empfangen! Die törichten Menschen sollen also davon ablassen, uns mit der stinkenden Schmähung verhaßt zu machen, als ob wir Gottes unermeßliche Macht irgendwie kleinlich eingrenzten. Denn es ist so, daß sie entweder gar töricht irren – oder aber unverschämt lügen.
Denn es geht hier nicht um die Frage, was Gott gekonnt, sondern was er gewollt hat. Wir behaupten aber, daß eben das geschehen ist, was ihm Wohlgefallen hatte. Es hat ihm aber Wohlgefallen, daß Christus „in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden“ sollte, „doch ohne Sünde“ (Hebr. 2,17; 4,15). Von welcher Art ist nun unser Fleisch? Ist es nicht so, daß es seine bestimmte Abmessung hat, räumlich umschlossen ist, berührt und gesehen wird? Sie fragen aber: Und warum sollte es Gott nicht fertigbringen, daß das nämliche Fleisch zahlreiche verschiedene Örter zugleich erfüllt, daß es von keinem Raum umschlossen wird und weder Maß noch Gestalt besitzt? Du törichter Mensch, wozu verlangst du von Gottes Macht, sie solle dahin wirken, daß dies Fleisch zugleich Fleisch und doch auch nicht Fleisch sei? Das ist ebenso, wie wenn du darauf bestündest, sie solle es zustande bringen, daß das Licht zugleich Licht und Finsternis sei! Nein, sie will, daß das Licht Licht ist, die Finsternis Finsternis und das Fleisch Fleisch! Sie wird freilich, wenn sie will, Finsternis in Licht und Licht in Finsternis verwandeln; aber wenn du verlangst, daß Licht und Finsternis ohne Unterschied sein sollen – was tust du dann anders, als daß du die Ordnung der Weisheit Gottes verkehrst? Das Fleisch muß also Fleisch sein und der Geist Geist, jedes nach dem Gesetz und mit der Bestimmung, wie es von Gott geschaffen ist. Die Bestimmung des Fleisches aber ist es, daß es einen, und zwar einen bestimmten Raum, daß es seine Abmessung und seine Gestalt hat. Unter dieser Bestimmung hat Christus das Fleisch angenommen, und er hat ihm, wie Augustin bezeugt, zwar Unverderblichkeit und Herrlichkeit verliehen, aber seine Natur und seine Wahrheit nicht weggenommen (Brief 187,3,10; an Dardanus).
IV,17,25
Sie stellen demgegenüber die Behauptung auf, sie hätten das Wort, in dem Gottes Wille offenbar gemacht sei. Ja, freilich – wenn man ihnen erlaubt, die Gabe der Auslegung, die dem Worte Licht zuträgt, aus der Kirche zu entfernen!
Ich gebe zu, daß sie das Wort haben – aber so, wie es vorzeiten die Anthropomorphiten hatten, als sie sich einen leiblichen Gott machten, oder wie es Marcion und die Manichäer besaßen, als sie sich Christi Leib als himmlischen oder als Scheinleib dachten. Denn auch diese Leute führten Schriftzeugnisse an; so etwa: „Der erste Adam ist von der Erde und irdisch, der zweite Adam ist vom Himmel und himmlisch“ (1. Kor. 15,47; ungenau). Oder ebenso: „Christus entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und wurde nach seiner Ähnlichkeit wie ein Mensch erfunden“ (Phil. 2,7; ungenau).
Aber diese groben Esser meinen, es gäbe keine Macht Gottes, wenn nicht von dem Ungetüm, das sie sich in ihrem Hirn zusammengemacht haben, die ganze Ordnung der Natur auf den Kopf gestellt wird – und das heißt doch nun vielmehr, „Gott Grenzen zu setzen“ (wie sie es mir vorwerfen!), wenn wir mit unseren eigenen Hirngespinsten in Erfahrung zu bringen trachten, was er vermag. Denn aus was für einem Wort haben sie es entnommen, daß der Leib Christi im Himmel sichtbar sei, auf Erden aber unsichtbar unter zahllosen Stücken Brotes verborgen liege? Sie werden sagen, das erfordere eben die Notwendigkeit, daß Christi Leib im Abendmahl ausgeteilt werde. Es ist eben so: weil es ihnen gefallen hat, aus den Worten Christi das fleischliche Essen (seines Leibes) abzuleiten, so sind sie nun von ihrem eigenen vorgefaßten Urteil mitgerissen worden und haben es für notwendig gehalten, diese Spitzfindigkeit zu erdenken, gegen welche die ganze Schrift Einspruch erhebt.
Die Behauptung aber, wir verkleinerten irgendwie Gottes Macht, ist so verkehrt, daß sein Lobpreis durch unsere Lehre in besonderer Weise verherrlicht wird. Aber weil sie uns immerfort verdächtigen, wir raubten Gott seine Ehre, indem wir von uns wiesen, was nach dem gesunden Menschenverstand schwer zu glauben sei, selbst wenn es Christus mit eigenem Munde verheißen hätte – so gebe ich wiederum, wie oben bereits, die Antwort, daß wir bei den Geheimnissen des Glaubens den gesunden Menschenverstand nicht zu Rate ziehen, sondern in friedsamer Gelehrigkeit und im Geiste der „Sanftmut“, den uns Jakobus anbefiehlt (Jak. 1,21), die vom Himmel ausgegangene Lehre annehmen.
Jedoch verhehle ich nicht, daß wir da, wo sie verderblich in die Irre gehen, eine nutzbringende Mäßigung walten lassen. Wenn sie die Worte Christi vernehmen: „Das ist mein Leib“, so erdenken sie sich ein Wunder, das von dem, was er meinte, sehr weit entfernt ist. Sobald sich aber dann aus diesem Hirngespinst üble Widersinnigkeiten ergeben, da versenken sie sich, weil sie sich schon in ihrer überstürzten Hast in Stricke verwickelt haben, in den Abgrund der Allmacht Gottes, um auf diese Weise das Licht der Wahrheit zum Erlöschen zu bringen. Daher kommt dann dieser aufgeblasene Eigensinn (daß sie sagen): Wir wollen nicht wissen, in welcher Weise Christus unter dem Brote verborgen liegt, sondern geben uns mit seinem eigenen Wort zufrieden: „Das ist mein Leib“. Wir aber streben, wie bei der ganzen Schrift, danach, das gesunde Verständnis dieser Stelle mit ebensoviel Gehorsam wie Sorgfalt zu erlangen, und wir reißen nicht in verkehrtem Ungestüm ohne Nachdenken und ohne Auswahl an uns, was sich zuerst unseren Sinnen aufdrängt, sondern lassen eine fleißige Erwägung eintreten und nehmen den Sinn an, den uns der Geist Gottes eingibt; auf ihn setzen wir unser Vertrauen – und dann sehen wir von der Höhe auf alles herunter, was sich an irdischer Weisheit dawider setzt. Ja, wir halten unseren Verstand gefangen, daß er nicht einem einzigen Wörtlein zu widersprechen, und demütigen ihn, daß er sich nicht dagegen zu empören wagt. Daraus ist die Auslegung der Worte Christi entstanden, von der alle, die in ihr nur einigermaßen erfahren sind, wohl wissen, daß sie auf Grund der dauernden Gepflogenheiten der Schrift den Sakramenten gemeinsam ist. Wir halten aber auch nicht dafür, daß es uns verwehrt sei, nach
dem Beispiel der heiligen Jungfrau bei einer schwerverständlichen Sache danach zu forschen: „Wie soll das zugehen?“ (Luk. 1,34).
IV,17,26
Um den Glauben der Frommen zu kräftigen wird aber nichts von größerer Bedeutung sein, als wenn sie erfahren, daß die von uns aufgestellte Lehre aus dem reinen Wort Gottes entnommen ist und sich auf seine Autorität stützt. Ich will daher auch dies, so kurz wie ich es vermag, deutlich machen.
Daß der Leib Christi nach seiner Auferstehung endlich ist und bis zum Jüngsten Tage vom Himmel umschlossen wird, das lehrt – nicht Aristoteles, sondern der Heilige Geist (vgl. Apg. 3,21)! Es ist mir auch wohlbekannt, daß unsere Widersacher den Stellen, die man dazu anführt, sorglos aus dem Wege gehen. An den Stellen, wo Christus sagt, er werde die Welt verlassen und fortgehen (Joh. 14,12.28), da behaupten sie, dieses Fortgehen sei nichts anderes als eine Abänderung seines sterblichen Zustandes. Aber unter solchen Umständen hätte Christus doch nicht den Heiligen Geist an seine Stelle gesetzt, um, wie man sagt, den Mangel seiner Abwesenheit auszufüllen; denn dann tritt er ja gar nicht an seine Statt; dann steigt auch Christus nicht wieder aus der himmlischen Herrlichkeit hernieder, um den Zustand des sterblichen Lebens anzunehmen. Unzweifelhaft stehen das Kommen des Heiligen Geistes und die Himmelfahrt Christi einander gegenüber, und daher kann es nicht geschehen, daß Christus in der nämlichen Weise nach dem Fleisch bei uns wohnt, wie er uns seinen Geist sendet.
Dazu kommt, daß er ausdrücklich sagt, er werde „nicht allezeit“ bei seinen Jüngern in der Welt sein (Matth. 26,11; Joh. 12,8). Auch dieses Wort glauben unsere Widersacher trefflich zu entkräften, indem sie so tun, als ob Christus hier sagte, er werde nicht allezeit arm und elend und den Nöten dieses gebrechlichen Lebens unterworfen sein. Aber der Zusammenhang der Stelle erhebt dagegen offenkundig Einspruch; denn es geht hier nicht um Armut und Mangel oder um den elenden Zustand des irdischen Lebens (Christi), sondern um Verehrung und Ehre. Die Salbung gefiel den Jüngern nicht, weil sie meinten, das sei eine überflüssige, nutzlose und geradezu der Verschwendung ähnliche Ausgabe, und deshalb hätten sie lieber gehabt, dies Geld, das nach ihrer Meinung übel vergeudet wurde, wäre für die Armen angewandt worden. Da antwortet Christus, er werde nicht allezeit bei ihnen sein, um solchen Ehrendienst zu empfangen (Matth. 26,8-11).
Anders hat es auch Augustin nicht ausgelegt; er spricht sich völlig eindeutig in folgender Weise aus: „Als Christus sagte: ‘Mich habt ihr nicht allezeit bei euch’, da sprach er von der Gegenwart seines Leibes. Denn nach seiner Majestät, nach seiner Vorsehung und nach seiner unaussprechlichen, unsichtbaren Gnade geht in Erfüllung, was er gesagt hat: ‚Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende’ (Matth. 28,20). Nach dem Fleisch aber, das das Wort angenommen hat, nach dem, daß er von der Jungfrau geboren ist, nach dem, daß er von den Juden ergriffen, daß er an das Holz geheftet, daß er vom Kreuze abgenommen, daß er in Leintücher gewickelt, ins Grab gelegt und in der Auferstehung offenbar gemacht worden ist –heißt es von ihm: ‚Mich habt ihr nicht allezeit bei euch.’ Warum? Weil er eben nach der Gegenwart seines Leibes vierzig Lage hindurch mit seinen Jüngern umgegangen ist und dann gen Himmel fuhr, wobei sie ihm mit ihren Blicken das Geleit gaben, aber nicht mit ihrem Nachgehen. Er ist nicht hier; denn er sitzt dort ‚zur Rechten des Vaters’ (Mark. 16,19). Und doch ist er hier; denn die Gegenwart seiner Majestät ist nicht gewichen (Hebr. 1,3). In anderer Weise, nach der Gegenwart seiner Majestät, haben wir Christus allezeit; nach der Gegenwart seines Fleisches aber heißt es mit Recht: ‚Mich aber habt ihr nicht allezeit.’ Denn die Kirche
hat ihn nach der Gegenwart seines Fleisches wenige Tage hindurch gehabt; jetzt hat sie ihn im Glauben bei sich, mit Augen aber sieht sie ihn nicht“ (Predigten zum Johannesevangelium 50,13).
Da erklärt Augustin – um auch das kurz anzumerken –, daß Christus in dreifacher Weise bei uns gegenwärtig ist: in seiner Majestät, Vorsehung und unaussprechlichen Gnade; unter dieser Gnade verstehe ich jene wundersame Gemeinschaft mit seinem Leib und Blut, wofern wir nur begreifen, daß diese durch die Kraft des Heiligen Geistes geschieht, nicht aber durch jene ersonnene Verschließung seines Leibes unter das Element. Hat doch unser Herr bezeugt, daß er Fleisch und Gebeine hat, die betastet und gesehen werden könnten (Joh. 20,27).
Auch bedeutet „Weggehen“ und „Auffahren“ nicht etwa, sich den Anschein zu geben, als wenn man aufführe und wegginge, sondern in Wahrheit das zu tun, was die Worte aussagen. Sollen wir nun also, so wird jemand sagen, einen bestimmten Bereich des Himmels Christus zuschreiben? Nein, ich antworte mit Augustin, daß dies eine höchst vorwitzige und überflüssige Frage ist, wenn wir nur glauben, daß er im Himmel ist (Vom Glauben und Symbol 6,13).
IV,17,27
Wieso nun – bedeutet nicht der so oft wiederholte Ausdruck „Auffahrt“ ein Verziehen von einem Ort zu einem anderen? Unsere Widersacher leugnen das, weil unter der „Höhe“ nach ihrer Ansicht bloß die Majestät der Herrschaft Christi angedeutet wird. Aber was bedeutet nun die Art, wie Christus aufgefahren ist? Fährt er da nicht vor den Blicken seiner Jünger in die Höhe? Berichten nicht die Evangelisten deutlich, daß er in die Himmel aufgenommen worden ist (Apg. 1,9; Mark. 16,19; Luk. 24,51)? Jene spitzfindigen Klüglinge behaupten demgegenüber, er sei doch durch eine Wolke dem Blick entzogen worden, damit die Gläubigen lernten, daß er fortan nicht mehr in der Welt sichtbar sein würde. Als ob er, um in uns den Glauben an seine unsichtbare Gegenwart zu erwecken, nicht vielmehr in einem einzigen Augenblick hätte entschwinden müssen, oder als ob ihn die Wolke dann nicht hätte erfassen müssen, ehe er einen Fuß rührte! Tatsächlich aber wird er in die Luft emporgehoben und lehrt uns durch die Wolke, die unter ihn tritt, daß er fernerhin nicht mehr auf Erden zu suchen ist: daraus ziehen wir mit Sicherheit den Schluß, daß seine Wohnstatt nun im Himmel ist; so erklärt es auch Paulus, und er gebietet uns, ihn von dort zu erwarten (Phil. 3,20). Aus diesem Grunde machen die Engel seine Jünger darauf aufmerksam, daß sie vergebens nach dem Himmel schauen; weil nämlich Jesus, der in den Himmel aufgenommen ist, eben so kommen wird, wie sie ihn haben auffahren sehen.
Auch hier finden sich die Widersacher der gesunden Lehre durch eine nach ihrem Dafürhalten geschickte Ausflucht heraus: sie sagen nämlich, er werde dann sichtbar kommen, während er allerdings nie von der Erde geschieden sei, sondern unsichtbar bei den Seinen bliebe. Als ob die Engel an dieser Stelle eine doppelte Gegenwart Christi eindrängten und nicht einfach die Jünger zu Augenzeugen seiner Auffahrt machten, damit kein Zweifel mehr übrigbleibt! Es ist doch, als ob sie sagten: Vor euren Blicken ist er in den Himmel aufgenommen und hat er sich das himmlische Reich angeeignet; jetzt bleibt noch dies, daß ihr geduldig wartet, bis er als der Richter der Welt wiederkommt; denn wenn er jetzt in den Himmel eingegangen ist, so ist das nicht geschehen, damit er ihn allein in Besitz hat, sondern damit er euch und alle Frommen mit sich vereine!
IV,17,28
Da sich aber die Verteidiger dieser falschen Lehre nicht scheuen, sie mit zustimmenden Zeugnissen der alten Kirchenlehrer und vor allem des Augustin zu verzieren, so will ich mit wenigen Worten darlegen, wie verkehrt dies Unterfangen ist. Da nämlich die Zeugnisse der Alten von gelehrten und
frommen Männern zusammengestellt worden sind, so will ich eine erledigte Sache nicht abermals verhandeln – wer will, mag sie aus ihren Arbeiten entnehmen! Nicht einmal aus Augustin will ich alles sammeln, was zu dieser Sache beiträgt, sondern ich will mich damit begnügen, mit wenigen Worten zu zeigen, daß er unstreitig voll und ganz auf unserer Seite steht.
Unsere Widersacher schützen freilich, um ihn uns aus der Hand zu winden, vor, in seinen Büchern begegne einem immer wieder die Wendung, im Abendmahl werde Fleisch und Blut Christi ausgeteilt, nämlich das Opfer, das einmal am Kreuze dargebracht worden sei. Aber das ist ein schwacher Vorwand; denn zugleich nennt er das Abendmahl ein Mahl der Danksagung (eucharistia) und das Sakrament des Leibes (Christi). Im übrigen ist es nicht notwendig, auf einem langen Umweg danach zu forschen, in welchem Sinne er die Ausdrücke „Fleisch“ und „Blut“ verwendet; denn er legt sich selbst aus, indem er sagt, die Sakramente empfingen ihren Namen auf Grund der Gleichheit mit den Dingen, die sie bezeichnen, und deshalb sei in einer bestimmten Weise das Sakrament des Leibes der Leib (Brief 98,9; an Bonifacius). Damit steht eine andere genugsam bekannte Stelle im Einklang: „Als der Herr das Zeichen (seines Leibes) gab, da trug er kein Bedenken zu sagen: ‚Das ist mein Leib’“ (Gegen Adimantus 12).
Fernerhin machen unsere Widersacher den Einwand, Augustin schreibe doch ausdrücklich, daß der Leib Christi auf die Erde falle und in den Mund eingehe,– das geschieht (so entgegne ich) eben in dem gleichen Sinne, in dem er behauptet, er werde verzehrt; denn er verbindet beides miteinander. Dem steht auch nicht entgegen, daß er sagt, nach dem Vollzug des Geheimnisses (Sakraments) werde das Brot verzehrt (Von der Dreieinigkeit III,10,19); denn kurz vorher hatte er gesagt: „Da dies den Menschen bekannt ist, weil es ja durch Menschen vollzogen wird, so kann es als etwas Heiliges Ehre empfangen, aber nicht als etwas Wunderbares“ (ebenda 10,20).
Keinen anderen Sinn hat auch ein weiteres Wort, das unsere Widersacher gar zu unbedacht zu sich herüberziehen, nämlich Christus habe sich gewissermaßen selbst in den Händen getragen, als er das Brot des Sakraments seinen Jüngern darreichte (zu Psalm 33; 1,10). Denn Augustin macht doch einen Zusatz, der einen Vergleich andeutet („gewissermaßen“), und gibt damit genugsam zu verstehen, daß Christus nicht in Wahrheit und Wirklichkeit (non vere nec realiter) unter dem Brote verschlossen war (vgl. auch ebenda 2,2). Das ist nicht zu verwundern; denn an anderer Stelle behauptet er offen, daß Leiber, wenn der räumliche Abstand von ihnen weggenommen wird, nirgendwo mehr bestehen, und weil sie nirgendwo mehr sind, eben überhaupt nicht mehr da sind (Brief 187; an Dardanus). Inhaltlos ist die Ausflucht, es handle sich an dieser Stelle nicht um das Abendmahl, in dem Gott eine besondere Kraft wirksam sein lasse. Denn es war die Frage nach dem Fleisch Christi erhoben worden, und da gab der heilige Mann mit voller Überlegung seine Antwort und sagte: „Christus hat seinem Fleische Unsterblichkeit verliehen, hat ihm aber seine Natur nicht weggenommen. Man darf nicht dafür halten, daß er nach dieser Gestalt allenthalben verstreut sei; denn wir müssen uns hüten, die Gottheit des Menschen (Christus) dergestalt aufzurichten, daß wir ihm die Wahrheit seines Leibes wegnehmen. Und es ist keine richtige Folgerung, wenn man meint, das, was in Gott ist, sei allenthalben wie Gott“ (ebenda 3,10). Die Ursache dafür läßt Augustin bald folgen: „Denn diese eine Person ist Gott und Mensch, und der eine Christus ist beides: allenthalben ist er dadurch, daß er Gott ist, und im Himmel ist er dadurch, daß er Mensch ist“ (ebenda). Wenn nun beim Abendmahl etwas vorhanden gewesen wäre, das der Lehre, die er behandelt hatte, zuwiderlief – was wäre es dann für eine Nachlässigkeit gewesen, dies Sakrament nicht (ausdrücklich) auszunehmen, wo es doch eine so ernste und wichtige Sache ist! Und
doch, wenn jemand aufmerksam liest, was kurz nachher folgt, so wird er finden, daß auch das Abendmahl mit unter die allgemeine Lehre beschlossen ist: Christus, der der eingeborene Sohn Gottes und auch wiederum der Sohn des Menschen sei, sei allenthalben ganz gegenwärtig, sofern er Gott sei; im Tempel Gottes, das heißt in der Kirche, sei er als der darin wohnende Gott anwesend, und andererseits sei er an einer bestimmten Stelle des Himmels um der Bestehensweise seines wahrhaftigen Leibes willen (ebenda 2-6). Wir sehen, wie er, um Christus mit der Kirche zu einen, seinen Leib nicht aus dem Himmel hervorholt; und das hätte er doch sicherlich getan, wenn der Leib Christi nur dann in Wahrheit eine Speise für uns wäre, wenn er unter dem Brote eingeschlossen wäre.
An anderer Stelle legt er dar, in welcher Weise die Gläubigen jetzt Christus besitzen, und da sagt er: „Du hast ihn durch das Zeichen des Kreuzes, durch das Sakrament der Taufe und durch die Speise und den Trank am Altar“ (Predigten zum Johannesevangelium 50,12). Ich will keine Erörterung darüber anstellen, wieweit er Recht damit hat, einen abergläubischen Brauch (das „Zeichen des Kreuzes“) unter die Merkzeichen der Gegenwart Christi zu rechnen; aber wenn einer die Gegenwart des Fleisches (Christi) mit dem Zeichen des Kreuzes vergleicht, so zeigt er damit genugsam, daß er sich Christus nicht zweileibig ausdenkt, so daß er also sichtbar im Himmel seinen Sitz hätte und zugleich verborgen unter dem Brote läge. Bedarf das einer Erläuterung, so sei darauf hingewiesen, daß es unmittelbar darauf heißt, nach der Gegenwart seiner Majestät hätten wir Christus allezeit, nach der Gegenwart seines Fleisches aber heiße es mit Recht: „Mich habt ihr nicht allezeit“ (Matth. 26,11; ebenda, 13).
Unsere Widersacher behaupten demgegenüber, zugleich werde doch auch hinzugesetzt: „Nach seiner unaussprechlichen und unsichtbaren Gnade geht in Erfüllung, was von ihm gesagt ist: ‚Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende’ (Matth. 28,20)“ (ebenda). Aber das bringt ihnen keinerlei Vorteil; denn es wird ausschließlich auf die Majestät beschränkt, die stets dem Leibe gegenübergestellt wird, auch wird ausdrücklich das Fleisch von der Gnade und Kraft unterschieden. In der gleichen Weise bekommt man bei Augustin an anderer Stelle die nämliche Gegenüberstellung zu lesen, wenn es heißt, Christus habe seine Jünger nach seiner leiblichen Gegenwart verlassen, um in geistlicher Gegenwart bei ihnen zu sein; da ist es deutlich, daß das Wesen des Fleisches von der Kraft des Geistes unterschieden wird, die uns mit Christus verbindet, während wir sonst um des räumlichen Abstandes willen weit von ihm entfernt wären. Die nämliche Sprechweise wendet Augustin häufiger an; so, wenn er sagt: „Nach der Regel des Glaubens und nach der gesunden Lehre wird er einst in der gleichen Weise in leiblicher Gegenwart zu den Lebendigen und den Toten kommen; denn in geistlicher Gegenwärtigkeit sollte er sicherlich (ohnehin) zu ihnen kommen und bei der ganzen Kirche in der Welt sein bis zum Ende der Zeiten (Augustin bezieht sich auf Joh. 17,12). Diese Worte sind also auf die Gläubigen gerichtet, die er in seiner leiblichen Gegenwart bereits selig zu machen angefangen hatte, dann aber in leiblicher Abwesenheit verlassen sollte, um sie zusammen mit dem Vater in geistlicher Gegenwart selig zu machen“ (Predigten zum Johannesevangelium 106,2). Wenn man hier den Ausdruck „leiblich“ im Sinne von „sichtbar“ versteht, so ist das dummes Zeug; denn erstens stellt Augustin den Leib der göttlichen Macht gegenüber, und zweitens bringt er auch durch den Zusatz: „Zusammen mit dem Vater selig zu machen ...“ klar zum Ausdruck, daß Christus seine Gnade vom Himmel her durch den Geist auf uns ausgießt.
IV,17,29
Da nun unsere Widersacher so große Zuversicht auf diesen Schlupfwinkel der „unsichtbaren Gegenwärtigkeit“ (Christi) setzen, wohlan, so wollen wir zusehen, wie trefflich sie sich darin verstecken!
Zunächst: sie bringen nicht eine einzige Silbe aus der Schrift vor, um damit zu beweisen, daß Christus unsichtbar sei; nein, sie nehmen als ausgemacht an, was ihnen doch kein gesunddenkender Mensch zugeben wird, nämlich daß Christi Leib im Abendmahl nicht anders dargereicht werden könne als von der Larve des Brotes bedeckt. Das ist nun eben der Punkt, um den sie mit uns streiten – es kann also keine Rede davon sein, daß er etwa die Stelle eines (beiderseits anerkannten) Grundsatzes einnähme.
Während sie nun solchermaßen schwatzen, werden sie genötigt, einen zwiefachen Leib Christi zu denken; denn nach ihrer Meinung ist der Leib Christi in sich selbst sichtbar im Himmel, im Abendmahl dagegen durch eine bestimmte Art der Anordnung unsichtbar. Wie „trefflich“ sich das aber zusammenreimt, darüber läßt sich neben anderen Schriftstellen auch aus einem Zeugnis des Petrus leicht ein Urteil gewinnen. Petrus sagt, daß Christus vom Himmel umfaßt oder auch umschlossen werden muß, bis er abermals kommt (Apg. 3,21; anders als der Luther, text). Unsere Widersacher dagegen behaupten, Christus sei an allen Orten, aber ohne Gestalt. Sie erklären, es sei unbillig, die Natur des verklärten Leibes den Gesetzen der allgemeinen Natur zu unterwerfen.
Diese Antwort zieht nun aber jene aberwitzige Meinung des Servet nach sich, die allen Frommen mit Recht widerwärtig ist, nämlich der Leib (Christi) sei von seiner Gottheit verschlungen. Ich behaupte nicht, daß unsere Widersacher dieser Ansicht sind; aber wenn zu den Gaben des verklärten Leibes auch dies gezählt wird, daß er auf unsichtbare Weise alles erfüllt, so liegt es auf der Hand, daß damit die leibliche Substanz zunichte gemacht und kein Unterschied zwischen Christi Gottheit und seiner menschlichen Natur mehr übriggelassen wird.
Und dann: wenn der Leib Christi derart vielgestaltig und verschiedenartig ist, daß er an der einen Stelle in die Erscheinung tritt, an der anderen aber unsichtbar ist – wo bleibt dann eben die Natur des Leibes, der doch seine bestimmten Abmessungen besitzt? Und wo bleibt die Einheit? Weit richtiger urteilt Tertullian, der behauptet, Christi Leib sei ein wahrer und natürlicher Leib gewesen, weil uns im Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls sein Bild als Unterpfand und zur Vergewisserung des geistlichen Lebens vor Augen gehalten werde (Gegen Marcion IV,40). Und es bezog sich jedenfalls auf den verklärten Leib, als Christus sagte: „Fühlet mich an und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein“ (Luk. 24,39). Da sieht man, wie aus Christi eigenem Munde die Wahrheit seines Fleisches bewiesen wird, und zwar eben daraus, daß man ihn betasten und sehen kann; nimmt man diese beiden Eigenschaften weg, so hört es sogleich auf, Fleisch zu sein.
Unsere Widersacher nehmen ihre Zuflucht nun immerfort zu dem Schlupfwinkel der (besonderen) „Anordnung“ (dispensatio), die sie sich zurechtgemacht haben. Nun ist es aber unsere Pflicht, das, was Christus ausdrücklich sagt, dergestalt anzunehmen, daß das, was er bezeugen will, bei uns ohne Einschränkung seine Gültigkeit hat. Er beweist, daß er kein Gespenst ist, und zwar, weil er in seinem Fleische sichtbar ist. Wird nun das aufgehoben, was er der Natur seines Leibes als eigen zuspricht, so muß doch unzweifelhaft eine neue Begriffsbestimmung des „Leibes“ ausgedacht werden!
Aber wie sie sich auch im Kreise drehen mögen, so hat ihre ersonnene „Anordnung“ jedenfalls keinen Raum bei jener Paulusstelle, an der der Apostel sagt, daß wir vom Himmel her unseren Heiland erwarten, „welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe“ (Phil.
3,20f.). Denn wir sollen danach keine Gleichgestaltung mit jenen Eigenschaften erwarten, die unsere Widersacher Christus andichten, so daß jeder einen unsichtbaren und unermeßlichen Leib bekäme! Es wird sich auch keiner finden, der so dumm wäre, daß sie ihn von einem derartigen Widersinn überzeugen könnten. Also sollen sie dem verklärten Leibe Christi auch nicht die Gabe zuschreiben, daß er an vielen Orten zugleich sei und keinerlei räumliche Begrenzung habe. Kurz, sie sollen entweder die Auferstehung des Fleisches offen abstreiten oder aber zugeben, daß Christus bei seiner Bekleidung mit himmlischer Herrlichkeit das Fleisch nicht abgelegt hat: er wird uns doch in unserem Fleische zu Teilgenossen und Mitgesellen der nämlichen Herrlichkeit machen, da wir die Auferstehung einst mit ihm gemeinsam haben sollen. Denn was lehrt die ganze Schrift deutlicher, als daß Christus, wie er unser wahrhaftiges Fleisch angenommen hat, als er von der Jungfrau geboren wurde, und in unserem wahrhaftigen Fleische gelitten hat, als er für uns Genugtuung leistete, so auch bei seiner Auferstehung das nämliche wahrhaftige Fleisch angenommen und in den Himmel hinauf getragen hat? Denn das ist für uns die Hoffnung auf unsere Auferstehung und unsere Auffahrt gen Himmel, daß Christus auferstanden und aufgefahren ist und, wie Tertullian sagt, das Unterpfand unserer Auferstehung mit sich in die Himmel genommen hat (Von der Auferstehung des Fleisches 51). Wie schwach und gebrechlich würde nun aber diese Hoffnung sein, wenn nicht eben dies unser Fleisch selbst in Christus wahrhaftig auferweckt worden und in das Himmelreich eingegangen wäre? Nun ist es aber die dem Leibe eigene Wahrheit, daß er seine räumliche Begrenzung, seine bestimmten Abmessungen und seine Gestalt besitzt. Fort also mit diesem törichten Hirngespinst, das sowohl die Sinne der Menschen als auch Christus selber an das Brot heftet!
Denn was soll diese „verborgene Gegenwart Christi unter dem Brote“ für einen Sinn haben, als daß die, welche begehren, daß Christus mit ihnen verbunden sei, nun bei jenem Merkzeichen stehenbleiben? Der Herr aber hat nicht nur unsere Augen, sondern alle unsere Sinne von der Erde weg leiten wollen, als er es abschlug, sich von den Frauen berühren zu lassen, ehe er zu seinem Vater aufgefahren sei (Joh. 20,17). Er sah doch Maria im frommen Eifer der Ehrerbietung herbeieilen, um seine Füße zu küssen, und wenn er nun diese Berührung mißbilligte und verhinderte, bevor er in den Himmel aufgenommen sei, so bestand dazu keine andere Ursache, als daß er eben nirgendwo anders gesucht werden will (als im Himmel).
Unsere Widersacher machen hier freilich den Einwurf, Christus sei doch hernach von Stephanus gesehen worden (Apg. 7,55); aber darauf ist leicht zu antworten: denn Christus hatte es zu diesem Zweck nicht nötig, seinen Ort zu wechseln, weil er den Augen seines Knechtes einen Scharfblick zu verleihen vermochte, der auch bis in die Himmel drang. Das gleiche ist von Paulus zu sagen (dem Christus erschienen ist; Apg. 9,4).
Weiterhin machen sie den Einwand, Christus sei doch aus dem verschlossenen Grabe hervorgegangen (Matth. 28,6) und durch verschlossene Türen zu seinen Jüngern hereingekommen (Joh. 20,19); aber auch diese Tatsachen tun ihrem Irrtum ebensowenig Beistand. Denn wie das Wasser gleich einem festen Estrich wurde und so Christus bei seinem Wandeln über den See einen Weg bot (Matth. 14,25), so ist es auch kein Wunder, daß sich die Härte des Steins bei seinem Nahen zur Seite bog. Allerdings ist es eher anzunehmen, daß der Stein auf seinen Befehl aus dem Wege gegangen und dann bald, nachdem er den Durchgang freigegeben hatte, wieder an seinen Platz zurückgekehrt ist. Und wenn Christus durch verschlossene Türen gegangen ist, so bedeutet das nicht soviel, als ob er durch den festen Stoff hindurchgedrungen wäre, sondern es will besagen, daß er sich vermöge göttlicher Kraft den Zugang eröffnet hat, so daß er plötzlich
unter seinen Jüngern stand, und zwar auf eine völlig wundersame Weise, da die Türen verriegelt waren.
Dann führen unsere Widersacher auch noch aus Lukas an, Christus sei plötzlich vor den Augen der Jünger, mit denen er nach Emmaus gewandert war, verschwunden (Luk. 24,31); aber das hilft ihnen nichts und gewährt uns Beistand! Denn um ihnen seinen Anblick zu entziehen, ist er nicht unsichtbar geworden, sondern bloß verschwunden. Ebenso hat er doch, wie der nämliche Lukas bezeugt, als er mit den beiden Jüngern des Weges ging, nicht eine neue Gestalt angenommen, um nicht erkannt zu werden, sondern er hat vielmehr „ ihre Augen gehalten“ (Luk. 24,16). Unsere Gegner aber geben Christus nicht nur eine andere Gestalt, damit er sich auf Erden bewege, sondern bilden sich ein, daß er hier ein anderer ist als dort und sich selber ungleich wird. Kurz, indem sie dergestalt Possenzeug reden, machen sie –zwar nicht mit einem (ausdrücklichen) Wort, sondern in umschreibender Redeweise – aus dem Fleisch Christi einen Geist und, damit nicht zufrieden, umkleiden es auch mit völlig entgegengesetzten Eigenschaften. Daraus ergibt sich dann notwendig, daß es zwiefältig ist.
IV,17,30
Aber wenn wir ihnen nun auch zugeben, was sie von der unsichtbaren Gegenwart (des Leibes Christi) schwatzen, so ist damit noch nicht seine Unermeßlichkeit erwiesen, ohne die ihr Versuch, Christus unter das Brot zu verschließen, vergeblich sein muß. Wenn Christi Leib nicht ohne alle räumliche Umgrenzung an jeglichem Orte zugleich sein kann, so wird es nicht glaubhaft sein, daß er unter dem Brote im Abendmahl verborgen liegt. Aus dieser Nötigung heraus haben sie dann die ungeheuerliche „Allgegenwärtigkeit“ (ubiquitas, Allenthalbenheit) aufgebracht.
Nun haben wir aber auf Grund von sicheren und klaren Zeugnissen der Schrift erwiesen, daß Christi Leib nach dem Maß eines menschlichen Leibes seine Grenzen hat, und ferner, daß er durch seine Auffahrt zum Himmel offenkundig gemacht hat, daß er nicht an allen Orten ist, sondern, indem er an den einen sich begibt, den anderen verläßt.
Auch ist die Verheißung, die unsere Widersacher anführen: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matth. 28,20) – nicht auf seinen Leib zu beziehen. Zunächst würde sonst die immerwährende Verbindung (Christi mit uns, von der dort die Rede ist) keinen Bestand haben, wofern Christus nicht auch außerhalb der Übung des Abendmahls leiblich in uns wohnte; deshalb besteht also gar kein rechter Grund, weshalb sie so heftig um die Worte Christi streiten, um Christus (bloß) im Abendmahl unter das Brot zu verschließen. Ferner beweist der Zusammenhang der Stelle, daß Christus nichts weniger tut, als von seinem Fleisch zu sprechen, sondern daß er vielmehr seinen Jüngern unbesiegbaren Beistand verheißt, um sie gegen alle Anläufe des Satans und der Welt zu schützen und zu erhalten. Denn er übertrug ihnen eine schwere Aufgabe, und damit sie nun keine Bedenken haben sollten, sie in die Hand zu nehmen, und sie auch nicht unter Furcht und Zittern auf sich nähmen, so stärkte er sie mit der Zuversicht auf seine Gegenwart, als wenn er gesagt hätte, es solle ihnen sein Schutz, der doch unüberwindlich sein wird, nicht abgehen. Hätten unsere Widersacher nicht, wofern sie nicht alles durcheinanderwerfen wollen, die Art und Weise solcher Gegenwart Christi genau bestimmen müssen?
Wahrhaftig, es gibt manche, die lieber unter großer Schande ihre Unkenntnis an den Tag legen wollen als auch nur im mindesten von ihrem Irrtum weichen. Ich rede nicht von den Papisten; denn deren Lehre ist erträglicher oder wenigstens bescheidener; nein, manche lassen sich vom Streit dermaßen hinreißen, daß sie behaupten, um der in Christus geeinten Naturen willen sei überall, wo die Gottheit Christi sei, auch sein Fleisch, das von ihr nicht getrennt werden könne. Als ob nun jene Einung aus den zwei Naturen ich weiß nicht was für ein Mittel-
ding zusammengeschmiedet hätte, das weder Gott noch Mensch wäre! So hat allerdings Eutyches gelehrt und nach ihm Servet. Aus der Schrift aber ergibt sich klar, daß die einige Person Christi dergestalt aus zwei Naturen besteht, daß doch jede ihre Eigenart unverkürzt behält. Diese Leute werden sich nun schämen zu leugnen, daß Eutyches mit Recht verurteilt worden ist; verwunderlich ist nur, daß sie nicht auf die Ursache dieser Verurteilung achten, die doch darin bestand, daß Eutyches den Unterschied zwischen den beiden Naturen aufhob, auf der Einheit der Person scharf bestand und dadurch aus Gott einen Menschen und aus dem Menschen Gott machte. Was für eine Torheit bezeugt es also, wenn man lieber Himmel und Erde miteinander vermengt, als daß man darauf verzichtet, Christi Leib aus dem himmlischen Heiligtum herauszuziehen!
Sie führen freilich Schriftzeugnisse für sich an; so das Wort: „Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist“ (Joh. 3,13), oder auch: „Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt“ (Joh. 1,18). Aber darin zeigt sich die nämliche Torheit, wie wenn man das gemeinsame Teilhaben an den Eigenschaften (idiomatum koinonian) verachtet, eine Lehre, die einst nicht umsonst von den heiligen Vätern aufgebracht worden ist. Jedenfalls ist es doch so: wenn es heißt, „der Herr der Herrlichkeit“ sei „gekreuzigt“ worden (1. Kor. 2,8), so meint Paulus damit nicht, daß Christus in seiner Gottheit irgend etwas erlitten hätte, nein, er redet so, weil Christus, der als ein Verworfener und Verachteter im Fleische gelitten hat, doch zugleich Gott war und der Herr der Herrlichkeit. In diesem Sinne war auch „des Menschen Sohn im Himmel“ (Joh. 3,13): es war eben der nämliche Christus selber, der nach dem Fleische als des Menschen Sohn auf Erden wohnte, zugleich Gott im Himmel. Aus diesem Grunde heißt es an der nämlichen Stelle auch, er sei nach seiner Gottheit „herniedergekommen“ – nicht daß die Gottheit den Himmel verlassen hätte, um sich in dem Knechthaus des Leibes zu verbergen, sondern weil sie, obwohl sie alles erfüllte, doch eben in der Menschheit Christi leiblich, und das heißt: natürlich, und auf eine unaussprechliche Weise wohnte. In den Schulen besteht eine gebräuchliche Unterscheidung, die ich mich nicht schäme wiederzugeben. Obgleich der ganze Christus allenthalben ist, so ist doch nicht all das, was in ihm ist, allenthalben. Und ich möchte wünschen, daß die Schultheologen (Scholastiker) selbst die Bedeutung dieses Satzes recht erwogen hätten; denn dann wäre man dem törichten Hirngespinst von der leiblichen Gegegenwart Christi (im Abendmahl) entgegengetreten. Da also unser Mittler ganz allenthalben ist, so ist er stets bei den Seinen gegenwärtig und erweist sich im Abendmahl auf besondere Weise als anwesend – aber doch so, daß er als Person ganz (totus) gegenwärtig ist, nicht aber nach seinen beiden Naturen (totum); denn, wie gesagt, in seinem Fleische wird er vom Himmel umschlossen, bis er zum Gericht erscheint.
IV,17,31
Schwer täuschen sich aber diejenigen, die beim Abendmahl keinerlei Gegenwart des Fleisches Christi annehmen, wofern sie nicht an das Brot gebunden ist. Denn damit lassen sie dem verborgenen Wirken des Geistes, das Christus selber mit uns eint, nichts übrig. Christus scheint diesen Leuten nur dann gegenwärtig zu sein, wenn er zu uns herniedersteigt. Als ob wir nun seine Gegenwart nicht gleichermaßen ergriffen, wenn er uns zu sich emporführt! Die Frage geht also nur um die Art und Weise (solcher Gegenwart Christi): unsere Widersacher denken Christus im Brote räumlich anwesend, wir dagegen meinen, daß es uns nicht erlaubt ist, ihn aus dem Himmel hervorzuziehen. Nun mögen die Leser darüber urteilen, was richtiger ist. Fort jedoch mit jener Schmähung, Christus werde aus seinem Abendmahl weggenommen, wenn er nicht unter der Hülle des Brotes ver-
borgen liege. Denn da dieses Geheimnis (Sakrament) himmlisch ist, so besteht keine Notwendigkeit, Christus auf die Erde zu holen, damit er mit uns verbunden sei!
IV,17,32
Wenn mich nun jemand nach der Art und Weise (solcher Gegenwart Christi) fragt, so gebe ich ungescheut zu, daß dies Geheimnis zu erhaben ist, um mit meinem Verstand erfaßt oder mit Worten ausgedrückt zu werden, und, um es offenbar zu sagen: ich erfahre es mehr, als daß ich es begreife! Deshalb nehme ich hier die Wahrheit Gottes, auf die man sich sicher verlassen kann, ohne Widerrede an. Christus spricht es aus, daß sein Fleisch die Speise für meine Seele ist und sein Blut der Trank (Joh. 6,53ff.). So biete ich ihm denn meine Seele dar, daß er sie mit solcher Nahrung speise: In seinem heiligen Abendmahl gebietet er mir, unter den Merkzeichen von Brot und Wein seinen Leib und sein Blut zu empfangen, zu essen und zu trinken. So zweifle ich denn nicht daran, daß er sie mir in Wahrheit darreicht und ich sie in Wahrheit empfange.
Ich verwerfe nur widersinnige Anschauungen, die entweder der himmlischen Majestät Christi offenkundig unwürdig sind oder offenbar zu der Wahrheit seiner menschlichen Natur im Widerspruch stehen; denn diese Anschauungen stehen auch notwendig im Gegensatz zum Worte Gottes, das einerseits lehrt, wie Christus dergestalt in die Herrlichkeit des Himmelreiches ausgenommen ist (Luk. 24,26), daß er damit weit über allen Zuständigkeiten der Welt steht, und das andererseits nicht weniger nachdrücklich an seiner menschlichen Natur das preist, was der wahren Menschheit eigen ist.
Es darf auch nicht den Anschein haben, als ob das unglaubwürdig sei oder im Gegensatz zur Vernunft stünde; denn wie das ganze Reich Christi geistlich ist, so darf auch alles, was er an seiner Kirche wirkt, durchaus nicht nach der Weise dieser Welt bemessen werden. Oder, um Augustins Worte zu gebrauchen: dies Geheimnis (Sakrament) wird, wie die übrigen, durch den Menschen verwaltet, aber von Gott aus, es wird auf der Erde verwaltet, aber vom Himmel her. Diese Gegenwart des Leibes (Christi), sage ich, ist so beschaffen, wie sie die Art des Sakraments erfordert, und sie tritt, so behaupten wir, dabei mit solcher Kraft und Wirkgewalt hervor, daß sie nicht nur unseren Seelen eine dem Zweifel entnommene Zuversicht auf das ewige Leben verschafft, sondern uns auch der Unsterblichkeit unseres Fleisches gewiß macht. Denn unser Fleisch wird doch bereits von seinem unsterblichen Fleische lebendig gemacht und es nimmt gewissermaßen an seiner Unsterblichkeit Anteil (vgl. Irenäus, Gegen die Ketzereien IV,18,5).
Wer in seinen Übertreibungen darüber hinausgeht, der tut nichts anderes, als daß er mit solchen Verhüllungen die schlichte und deutliche Wahrheit verdunkelt. Wenn jemand noch nicht befriedigt ist, so möchte ich, er würde ein wenig mit mir erwägen, daß hier von einem Sakrament die Rede ist und daß alles, was dazu gehört, auf den Glauben bezogen werden muß. Den Glauben aber nähren wir mit dem von uns dargelegten Anteilhaben am Leibe (Christi) nicht weniger köstlich und reichlich als jene, die Christus selbst vom Himmel herunterziehen.
Indessen gebe ich freimütig zu, daß ich die Vermischung des Fleisches Christi mit unserer Seele oder das Überfließen, wie es unsere Widersacher lehren, verwerfe; denn es genügt uns, daß Christus aus der Substanz seines Fleisches heraus unseren Seelen das Leben einhaucht, ja, daß er sein eigenes Leben in uns überfließen läßt – wenn auch das Fleisch Christi selbst nicht in uns übergeht. Zudem unterliegt es auch keinem Zweifel, daß das Entsprechungsmaß des Glaubens (fidei analogia), nach dem Paulus jegliche Auslegung der Schrift zu richten gebietet (Röm. 12,3), mir in diesem Stück herrlich zur Seite steht. Wer der so deutlich sichtbaren Wahrheit widerspricht, der mag zusehen, nach welchem Maß des Glaubens er sich richte. Wer „nicht bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist nicht von Gott“ (1. Joh. 4,3)! Unsere Widersacher
aber rauben Christus sein Fleisch – ob sie es sich auch verhehlen oder nicht darauf achten.
IV,17,33
In der gleichen Weise ist über das Teilhaben (an Christus) zu urteilen. Unsere Gegner erkennen ein solches nicht an, wofern sie das Fleisch Christi nicht unter (mit) dem Brote herunterschlucken. Nun geschieht aber dem Heiligen Geiste kein geringes Unrecht, wenn wir nicht glauben, dass es durch seine unbegreifliche Kraft bewirkt wird, daß wir mit Christi Fleisch und Blut Gemeinschaft haben. Ja, wenn man die Kraft des Geheimnisses (Sakraments), wie sie von uns gelehrt wird und wie sie der Alten Kirche in den ersten vierhundert Jahren bekannt war, nach Gebühr erwogen hätte, so hätten wir mehr als genug Grund, uns zufriedenzugeben. Dann wäre auch zahlreichen greulichen Irrtümern die Tür verschlossen worden, an denen sich furchtbare Zwistigkeiten entzündet haben, von denen in alter Zeit wie auch in unseren Tagen die Kirche elend gequält worden ist. Haben doch vorwitzige Menschen eine übertriebene Art von Gegenwart (des Leibes Christi) durchsetzen wollen, wie sie die Schrift nie und nimmer aufzeigt. Und diese Menschen machen um solch töricht und unbesonnen erdachter Sache willen einen derartigen Aufruhr, als ob das Eingeschlossensein Christi unter dem Brote Kern und Stern der Frömmigkeit wäre, wie man sagt.
Es kam doch in erster Linie darauf an, daß man wußte, wie Christi Leib, wie er einmal für uns dahingegeben worden ist, unser eigen wird, und wie wir des Blutes teilhaftig werden, das er vergossen hat; denn das heißt ja den ganzen gekreuzigten Christus besitzen, damit wir aller seiner Güter genießen. Nun aber läßt man diese Fragen, die doch so große Bedeutung haben, beiseite, ja man übergeht sie und läßt sie schier begraben sein – und hat nur an der einen spitzfindigen Frage seine Freude, wieso denn unter dem Brote oder unter der „Gestalt“ des Brotes der Leib Christi verborgen sei!
Es ist falsch, wenn solche Leute behaupten, alles, was wir über das geistliche Essen lehren, das stehe im Gegensatz zu dem wahrhaftigen und wesenhaften, wie sie es nennen. Denn wir haben dabei ausschließlich die Art und Weise im Auge, und die ist bei ihnen fleischlich, indem sie Christus in das Brot einschließen, nach unserer Anschauung aber geistlich, weil die verborgene Kraft des Heiligen Geistes das Band ist, das uns mit Christus verbunden sein läßt.
Ebensowenig wahrheitsgemäß ist auch der andere Einwurf, wir deuteten bloß die Frucht oder die Wirkung an, die den Gläubigen aus dem Essen des Fleisches Christi zuteil würde. Denn wir haben oben bereits gesagt, daß Christus selbst die zugrunde liegende Wirkursache (materia) des Abendmahls ist und daß dann daraus die Wirkung folgt, daß wir durch das Opfer seines Todes die Reinigung von unseren Sünden, durch sein Blut die Abwaschung empfangen und durch seine Auferstehung zur Hoffnung auf das himmlische Leben aufgerichtet werden. Nein, ihre Sinne werden von jener törichten Einbildung verdreht, deren Urheber der Lombarde ist, indem sie nämlich meinen, das Essen des Fleisches Christi sei das Sakrament. Denn Petrus Lombardus sagt: „Das Sakrament ohne die Sache ist die Gestalt des Brotes und Weines; das Sakrament zusammen mit der (in ihm gegebenen) Sache, das ist das Fleisch und Blut Christi; die Sache ohne das Sakrament, das ist sein verborgenes Fleisch“ (Sentenzen IV,8,4). Und kurz danach heißt es ebenso: „Die Sache, die (im Sakrament) zeichenhaft veranschaulicht und zugleich enthalten ist, das ist Christi eigenes Fleisch; die Sache aber, die zwar zeichenhaft veranschaulicht, aber nicht darin enthalten ist, das ist Christi geheimnisvoller Leib“ (ebenda, aber etwas vorher). Daß er zwischen dem Fleisch Christi und der ihm verliehenen Wirkkraft zur Nahrung unterscheidet, bejahe ich; daß er aber so tut, als ob dies Fleisch das Sakrament wäre, und zwar unter dem Brote enthalten, das ist ein untragbarer Irrtum.
Daraus ist dann eine falsche Deutung des „Essens beim Sakrament“ (sacramentalis manducatio) erwachsen: man hat nämlich gemeint, auch die Gottlosen und Lasterhaften genössen den Leib Christi, wie fremd sie ihm auch sein mochten.
Tatsächlich aber ist doch das Fleisch Christi im Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls eine nicht weniger geistliche Sache als die ewige Seligkeit. Daraus ziehen wir die Folgerung, daß alle, die des Geistes Christi ledig sind, das Fleisch Christi ebensowenig zu essen vermögen, wie sie Wein trinken können, der nicht zugleich auch Geschmack hätte. Jedenfalls wird Christus gar zu unwürdig in Stücke zerrissen, wenn sein Leib als etwas Totes und Kraftloses den Ungläubigen preisgegeben wird. Auch stehen dazu Christi ausdrückliche Worte im Widerspruch: „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm“ (Joh. 6,56). Unsere Widersacher behaupten demgegenüber, es handle sich an dieser Stelle nicht um das Essen im Sakrament. Das gebe ich meinerseits zu – wenn sie nur nicht immer wieder an den nämlichen Stein stießen (und behaupteten), das Fleisch Christi werde (in solchem Falle) ohne jegliche Frucht genossen (was abzulehnen wäre)!
Ich möchte nun aber gern von ihnen erfahren, wie lange sie dies „Fleisch“ in sich behalten, wenn sie es gegessen haben. Hier werden sie nach meinem Dafürhalten keinen Ausweg finden.
Sie machen aber den Einwand, durch die Undankbarkeit der Menschen könne der Zuverlässigkeit der Verheißungen Gottes keinerlei Eintrag oder Abbruch geschehen. Das gebe ich allerdings zu, und ich behaupte, daß die Kraft des Geheimnisses (Sakraments) unverkürzt erhalten bleibt, so sehr auch die Gottlosen, soviel an ihnen ist, bemüht sind, sie zunichte zu machen. Aber es ist etwas anderes, ob etwas angeboten oder ob es angenommen wird! Christus reicht diese geistliche Speise allen dar, allen bietet er diesen geistlichen Trank. Die einen nehmen sie mit heißem Verlangen in sich auf, die anderen weisen sie hoffärtig von sich. Soll nun die Zurückweisung, die solche Leute üben, etwa die Wirkung haben, daß Speise und Trank ihre Natur verlieren? Unsere Gegner werden sagen, dieser Vergleich diene ihrer Ansicht als Stütze, nämlich daß Christi Fleisch, auch wenn es seinen Geschmack verlöre, nichtsdestoweniger Fleisch sei. Ich behaupte jedoch, daß es nicht ohne das Schmecken des Glaubens genossen werden kann, oder – wenn ich lieber mit Augustins Worten reden soll – ich bestreite, daß der Mensch aus dem Sakrament mehr bekommt, als er mit dem Gefäß des Glaubens aufnimmt. So geschieht dem Sakrament keinerlei Abbruch, nein, seine Wahrheit und Wirkkraft bleibt unverkürzt, mögen auch die Gottlosen von dem äußerlichen Teilhaben an ihm leer davongehen.
Sie machen aber wiederum den Einwand: wenn die Gottlosen (beim Abendmahl) bloß verderbliches Brot empfingen und sonst nichts, so werde damit dem Worte Eintrag getan: „Das ist mein Leib.“ Da liegt aber die Antwort schon bereit: Nicht im Empfangen will Gott als wahrhaftig erkannt werden, sondern in der Beständigkeit seiner Güte, in der er bereit ist, Unwürdigen zu geben, was sie doch verwerfen, ja, in der er es ihnen freigebig darreicht. Und das ist die Unverkürztheit des Sakraments, die die ganze Welt nicht zu verletzen vermag: daß Christi Fleisch und Blut den Unwürdigen nicht weniger wahrhaftig gegeben wird als den auserwählten Gläubigen Gottes. Zugleich aber ist doch auch dies wahr: wie der Regen, der auf einen harten Felsen niederströmt, sich verläuft, weil ihm kein Weg offensteht, um in das Gestein einzudringen, so stoßen die Gottlosen in ihrer Härtigkeit die Gnade Gottes von sich, so daß sie nicht zu ihnen dringt. Zudem ist es ebensowenig sinngemäß, daß Christus ohne den Glauben empfangen würde, wie daß Samen im Feuer keimt.
Sie fragen nun, wieso denn Christus manchen Menschen zur Verdammnis gekommen sein sollte, wenn sie ihn eben nicht unwürdig aufgenommen hätten; aber das ist ohne Inhalt; denn wir lesen nirgendwo, daß sich die Menschen den Tod zuziehen, indem sie Christus unwürdig in sich aufnehmen, das geschieht vielmehr dadurch, daß sie ihn verwerfen.
Nichts hilft ihnen auch das Gleichnis Christi, in dem er sagt, der Same gehe unter den Dornen auf, werde dann aber erstickt und verderbe (Matth. 13,7); denn Christus spricht hier davon, was für einen Wert der zeitweilige Glaube hat – und die Leute, die in diesem Stück den Judas auf einer Stufe zum Mitgesellen des Petrus machen, sind ja nicht der Ansicht, daß (auch nur) ein solcher Glaube erforderlich sei, um Christi Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken. Ja, das nämliche Gleichnis dient vielmehr zur Widerlegung ihres Irrtums, wenn Christus da sagt, der eine Same falle auf den Weg, der andere auf steiniges Land, und keiner von beiden treibe Wurzeln (Matth. 13,4f.). Daraus ergibt sich doch, daß die Ungläubigen durch ihre Härtigkeit daran gehindert werden, daß Christus zu ihnen kommt.
Wer auch immer begehrt, daß unser Heil durch dies Geheimnis (Sakrament) eine Stütze empfange, der wird nichts Angemesseneres finden, als daß die Gläubigen zu dem Brunnquell geleitet werden und das Leben schöpfen aus dem Sohne Gottes. Die Würde dieses Sakraments wird aber herrlich genug gepriesen, wenn wir daran festhalten, daß es ein Hilfsmittel ist, vermöge dessen wir in den Leib Christi eingefügt werden oder als solche, die in ihn eingeleibt sind, mehr und mehr mit ihm zusammenwachsen, bis er uns im himmlischen Leben voll und ganz mit sich eint. Unsere Widersacher aber werfen ein, Paulus hätte doch jene Menschen (in Korinth) nicht für „schuldig an dem Leib und Blut des Herrn“ erklären dürfen (1. Kor. 11,27), wenn sie deren gar nicht teilhaftig geworden wären. Da antworte ich aber: sie werden gar nicht verurteilt, weil sie gegessen haben, sondern nur, weil sie das Geheimnis (Sakrament) entweiht haben, indem sie das Unterpfand unserer heiligen Verbindung mit Gott, das sie in Ehrfurcht hätten empfangen müssen, mit Füßen traten.
IV,17,34
Da nun aber unter, den alten Schriftstellern vor allem Augustin jenes Lehrstück verteidigt hat, daß durch den Unglauben und die Bosheit der Menschen den Sakramenten kein Eintrag geschieht und die Gnade, die sie veranschaulichen, dadurch nicht entleert wird, so wird es von Nutzen sein, aus seinen Worten deutlich nachzuweisen, wie töricht und verkehrt es ist, wenn Leute, die Christi Leib den Hunden zum Fressen vorwerfen, jenes Lehrstück auf die hier verhandelte Sache beziehen. Das Essen beim Sakrament (sacramentalis manducatio) ist nach ihrer Meinung von der Art, daß damit die Gottlosen ohne die Kraft des Heiligen Geistes und ohne jegliche Wirkung der Gnade Leib und Blut Christi empfangen. Anders Augustin; er erwägt weislich die Worte: „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh. 6,50.54; ungenau) und sagt: „(Das ist) eben der, der die Kraft des Sakraments genießt, nicht nur das sichtbare Sakrament, und zwar innerlich, nicht äußerlich, der es mit dem Herzen genießt und nicht der, der es zwischen den Zähnen zerdrückt“ (Predigten zum Johannesevangelium 26,12). Von da aus kommt er schließlich zu dem Ergebnis, das Sakrament (als Zeichen) dieser Sache, das heißt der Einheit des Leibes und Blutes Christi, werde im Herrnmahl dargegeben, und zwar einigen zum Leben, anderen zum Verderben, – die Sache selber aber, die das Sakrament darstellt, werde allen, sofern sie ihrer teilhaftig würden, zum Leben, niemandem aber zum Verderben gegeben (ebenda 26,15). Damit nun hier niemand die Ausflucht macht, als „Sache“ werde dabei nicht der Leib (des Herrn), sondern vielmehr die Gnade des Heiligen Geistes bezeichnet, die sich von dem Leibe trennen
lasse, so werden diese Nebelwolken durch die Gegenüberstellung der Beiwörter „sichtbar“ und „unsichtbar“ zerstreut, denn unter dem ersteren kann nicht der Leib Christi verstanden werden (ebenda 26,11f.). Daraus ergibt sich, daß die Ungläubigen allein an dem sichtbaren Merkzeichen Anteil haben. Und um den Zweifel desto besser zu beheben, sagt er zunächst, dies Brot suche den Hunger des inwendigen Menschen, und fährt dann fort: „Mose, Aaron und Pinehas und viele andere, die das Manna aßen, haben Gottes Wohlgefallen gehabt (Ex. 16,14ff.). Warum? Weil sie die sichtbare Speise geistlich verstanden, geistlich nach ihr gehungert, geistlich von ihr gekostet haben, um geistlich gesättigt zu werden. Denn auch wir haben heute eine sichtbare Speise empfangen, aber etwas anderes ist das Sakrament und etwas anderes die Kraft des Sakraments“ (ebenda 26,11). Kurz danach heißt es: „Und daher kommt es, daß der, der nicht in Christus bleibt und in dem Christus nicht bleibt, unzweifelhaft auch nicht geistlich sein Fleisch genießt und sein Blut trinkt, mag er das Merkzeichen des Leibes und Blutes auch fleischlich und sichtbar zwischen den Zähnen zerdrücken“ (ebenda 26,19). Da hören wir, wie er abermals das sichtbare Zeichen und das geistliche Essen einander gegenüberstellt. Damit wird jener Irrtum widerlegt, wonach der unsichtbare Leib Christi in sakramentaler Weise wirklich gegessen wird, wenn auch nicht geistlich. Wir hören ebenfalls, wie den Unheiligen und Unreinen nichts zugestanden wird als das sichtbare Empfangen des Zeichens. Daher kommt sein berühmtes Wort, die übrigen Jünger hätten das Brot und damit den Herrn gegessen, Judas dagegen (bloß) das Brot des Herrn (Predigten zum Johannesevangelium 59,1). Damit schließt er die Ungläubigen klar und deutlich vom Teilhaben an Fleisch und Blut (Christi) aus. Den gleichen Sinn hat es, wenn er an anderer Stelle sagt: „Was verwunderst du dich, wenn dem Judas das Brot Christi gegeben worden ist, durch das er an den Teufel verknechtet werden sollte, wo du doch siehst, daß auf der anderen Seite dem Paulus ein Engel des Teufels gegeben worden ist, damit er durch diesen in Christus vollkommen gemacht würde;“ (2. Kor. 12,7; Augustin, Predigten zum Johannesevangelium 62,1). Er sagt freilich an anderer Stelle, für jene Menschen, zu denen Paulus sagte: „Welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht“ (1. Kor. 11,29), sei das Brot des Abendmahls der Leib Christi gewesen, und sie hätten deshalb, weil sie es übel empfangen hätten, nicht etwa nichts empfangen (Von der Taufe gegen die Donatisten V,8,9). Aber in welchem Sinne er das meint, das setzt er ausführlicher an einer anderen Stelle auseinander. Da macht er sich daran, mit Überlegung festzustellen, in welcher Weise die Bösen und Lasterhaften, die den christlichen Glauben mit dem Munde bekennen, aber mit ihren Taten ableugnen, den Leib Christi genießen, und zwar redet er da gegen die Meinung einiger Leute, die der Ansicht waren, solche Menschen äßen nicht nur im Sakrament, sondern in Wirklichkeit (den Leib Christi), und dabei sagt er: „aber auch von diesen Menschen darf man nicht sagen, daß sie den Leib Christi genießen; denn sie sind nicht zu den Gliedern Christi zu zählen. Um nämlich von anderem zu schweigen, können sie nicht zugleich Glieder Christi und Glieder einer Hure sein (1. Kor. 6,15). Und schließlich sagt der Herr doch selbst: ‚Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm’ (Joh. 6,56), und damit zeigt er, was es heißt, nicht nur im Bezug auf das Sakrament, sondern in Wirklichkeit den Leib Christi zu essen: das heißt nämlich, daß einer in Christus bleibt, damit Christus in ihm bleibt. Denn der Herr hat das so gesagt, als wenn er sich ausdrückte: Wer nicht in mir bleibt und in wem ich nicht bleibe, der soll nicht sagen oder meinen, er äße meinen Leib oder tränke mein Blut“ (Vom Gottesstaat XXI,25). Der Leser möge die Gegenüberstellung bedenken: „mit Bezug auf das Sakrament“ und „in Wirklichkeit“ – dann wird kein Zweifel mehr übrigbleiben. Das gleiche be-
kräftigt Augustin nicht weniger deutlich mit den Worten: „Bereitet nicht euren Schlund, sondern euer Herz; denn um seinetwilIen ist uns dies Abendmahl anbefohlen. Siehe, wir glauben an Christus, und dabei empfangen wir ihn im Glauben; über unserem Empfangen wissen wir, was wir bedenken, wir empfangen ein wenig und werden (doch) in unserem Herzen satt gemacht: also nährt uns nicht das, was gesehen, sondern das, was geglaubt wird“ (Predigt 112,5). Auch hier beschränkt er das, was die Gottlosen empfangen, auf das sichtbare Zeichen und lehrt, daß man Christus nicht anders empfängt als im Glauben. So geschieht es ebenfalls an einer anderen Stelle: da erklärt er ausdrücklich, daß Gute und Böse an den Zeichen Anteil haben, schließt aber die letzteren von dem wahren Genuß des Fleisches Christi aus (Gegen den Manichäer Faustus XIII,16). Wenn sie nämlich die Sache selbst empfingen, so würde er nicht voll und ganz davon schweigen; denn zu seiner Sache hätte es (anders) besser gepaßt. Auch an einer anderen Stelle, wo er von dem Essen und von dessen Frucht redet, kommt er zu folgendem Ergebnis: „Christi Fleisch und Blut wird dann für einen jeglichen das Leben sein, wenn das, was im Sakrament sichtbar genommen wird, in Wahrheit geistlich gegessen und geistlich getrunken wird“ (Predigt 131,1). Wollen also die, welche die Ungläubigen des Fleisches und Blutes teilhaftig machen, mit Augustin übereinkommen, so sollen sie uns den sichtbaren Leib Christi vorweisen; denn nach Augustin ist die ganze Wahrheit geistlich. Und es ergibt sich aus seinen Worten mit Sicherheit der Schluß, daß das Essen im Sakrament, wo der Unglaube der Wahrheit den Zutritt versperrt, ebensoviel bedeutet wie das sichtbare und äußerliche Essen. Anderwärts lehrt er: „Nicht diesen Leib, den ihr seht, werdet ihr essen, und nicht das Blut, das die vergießen, die mich kreuzigen, werdet ihr trinken. Ein Sakrament habe ich euch anbefohlen, und wenn ihr es geistlich versteht, so wird es euch lebendig machen“ (zu Psalm 98,9). Was sollten diese Worte wohl für einen Sinn haben, wenn der Leib Christi in Wahrheit, aber (zugleich) doch nicht geistlich genossen werden könnte? Er hat sicherlich nicht bestreiten wollen, daß der nämliche Leib, den Christus zum Opfer dargebracht hat, im Abendmahl gereicht wird, sondern er hat die Art und Weise solchen Essens gekennzeichnet, insofern uns nämlich der Leib, in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen, in der verborgenen Kraft des Heiligen Geistes das Leben einhaucht. Ich gebe zwar zu, daß bei Augustin mehrfach die Redeweise vorkommt, der Leib Christi werde von den Ungläubigen gegessen; aber er legt selbst aus, was er meint, indem er zufügt: „Im Sakrament“ (Predigten zum Johannesevangelium 27,11). Und an anderer Stelle beschreibt er die geistliche Nießung dergestalt, daß in ihr unsere Bisse nicht etwa die Gnade verzehren (Predigten zum Johannesevangelium 27,3). Damit nun unsere Widersacher nicht sagen, ich führte meinen Streit (nur) mit der großen Menge (der Zeugnisse), so möchte ich gerne wissen, wieso sie sich jenem einen Ausspruch des Augustin entwinden wollen, wo es heißt, die Sakramente bewirkten das, was sie veranschaulichten, allein in den Auserwählten. Unzweifelhaft werden sie nicht zu leugnen wagen, daß bei dem Abendmahl das Brot den Leib Christi darstellt. Daraus ergibt sich, daß die Verworfenen vom Teilhaben an diesem ferngehalten werden. Auch Cyrill hat nicht anders geurteilt; das geben uns seine Worte zu erkennen: „Wenn man in flüssig gewordenes Wachs anderes Wachs hineingießt, so vermengt man beide völlig miteinander; genau so ist es, wenn jemand Fleisch und Blut des Herrn empfängt: er wird notwendig mit ihm verbunden, so daß Christus in ihm und er in Christus erfunden wird“ (zu Joh. 6,57). Aus diesen Worten geht nach meinem Dafürhalten deutlich hervor, daß diejenigen, welche den Leib Christi bloß in der Weise des Sakramentsgenusses essen, der wahren und wirklichen Nießung verlustig sind, weil Christi Leib von seiner Kraft nicht zu scheiden ist; zugleich ergibt sich, daß dadurch die Zuverlässigkeit der Verheißungen Gottes nicht ins Wanken gerät, der ja
nicht aufhört, vom Himmel herab regnen zu lassen, mögen auch die Steine und Felsen die Feuchtigkeit solchen Regens nicht in sich aufnehmen.
IV,17,35
Diese Einsicht wird uns auch leicht von der fleischlichen Anbetung abbringen, die manche Leute in verkehrter Unbesonnenheit bei dem Sakrament aufgebracht haben, und zwar, weil sie in ihrem Herzen die Überlegung anstellten: ist das hier der Leib Christi, dann sind also zusammen mit dem Leibe auch seine Seele und seine Gottheit vorhanden, die nicht mehr von ihm getrennt werden können; daher ist Christus im Sakrament anzubeten.
Zunächst: was wollen diese Leute machen, wenn man ihnen ihr „stetes Beieinandersein“ (concomitantia), das sie als Vorwand brauchen, bestreitet? Denn sie mögen noch so scharf darauf dringen, es sei ein Widersinn, wenn man Christi Leib von seiner Seele und Gottheit trennte, so möchte ich doch wissen, welcher gesundsinnige und nüchterne Mensch sich weismachen lassen sollte, Christi Leib sei Christus! Sie meinen zwar, sie brächten das mit ihren Schlußfolgerungen trefflich zuwege. Nun redet aber Christus von seinem Leib und Blut in unterschiedlicher Weise und beschreibt die Art der Gegenwärtigkeit nicht – wie sollen sie nun auf Grund einer unentschiedenen Sache mit Sicherheit beweisen, was sie wollen?
Wieso nun – werden sie nicht etwa, wenn es ihnen einmal zustoßen sollte, daß ihr Gewissen von einem ernsteren Empfinden gequält würde, alsbald mit ihren Schlußfolgerungen zergehen und zerschmelzen? Das wird nämlich dann geschehen, wenn sie sehen, daß ihnen das gewisse Wort Gottes mangelt, kraft dessen allein unsere Seelen standfest sind, wenn sie zur Rechenschaft gerufen werden, und ohne das sie gleich im ersten Augenblick zu wanken beginnen, es wird geschehen, wenn sie bedenken, daß ihnen die Lehre wie auch das Vorbild der Apostel entgegenstehen und daß sie ihre Sache aus sich allein heraus angefangen haben. Zu solchen Anstößen werden dann auch noch andere, nicht geringe Stachel kommen. Wieso – war es denn etwa eine so bedeutungslose Sache, Gott in dieser Gestalt anzubeten, daß uns nichts dergleichen vorgeschrieben ist? Durfte man etwa, wo es sich doch um die wahre Verehrung Gottes handelte, mit solcher Leichtfertigkeit etwas unternehmen, worüber man nirgendwo ein Wort zu lesen bekam? Nein, wenn sie mit der gebührenden Demut alle ihre Gedanken unter dem Worte Gottes gehalten hätten, dann hätten sie unzweifelhaft darauf gehört, was er selber gesagt hat: „Nehmet ... Esset ... Trinket“ – und sie hätten diesem Gebot Gehorsam geleistet, in dem er uns aufgibt, das Sakrament zu empfangen, nicht aber es anzubeten!
Wer aber, wie es von Gott geboten ist, das Sakrament ohne Anbetung nimmt, der ist sicher, daß er von Gottes Anweisung nicht abweicht – und wenn wir uns irgendein Werk vornehmen, so ist nichts besser als solche Sicherheit. Wer so handelt, der hat das Vorbild der Apostel (für sich), von denen wir nicht lesen, daß sie niedergefallen sind und angebetet haben, sondern daß sie, wie sie bei Tische saßen, das Sakrament empfangen und gegessen haben. Er hat die Gepflogenheit der apostolischen Kirche (für sich); denn da haben die Gläubigen, wie Lukas berichtet, nicht in der Anbetung, sondern im Brechen des Brotes Gemeinschaft gehalten (Apg. 2,42). Er hat die apostolische Lehre (für sich), vermöge deren Paulus die Kirche der Korinther unterwiesen hat, wobei er bezeugt: „Ich habe es von dem Herrn empfangen, das ich euch gegeben habe“ (1. Kor. 11,23).
IV,17,36
Diese Ausführungen haben nun den Zweck, daß der fromme Leser erwägen möge, wie gefährlich es ist, in so schwierigen Dingen von Gottes einfältigem Worte (abzugehen und) nach den Träumereien unseres Hirns umherzulaufen. Und was oben dargelegt wurde, das muß uns hierbei von jeglichem Bedenken freimachen. Denn
damit die frommen Seelen Christus im Abendmahl recht ergreifen, müssen sie zum Himmel emporgerichtet werden. Ist es doch das Amt dieses Sakraments, dem Verstand des Menschen, der sonst schwach ist, Hilfe zu bieten, damit er emporsteigt, um die Höhe der geistlichen Geheimnisse zu begreifen; wenn es aber so ist, dann irren die, welche bei dem äußeren Zeichen stehenbleiben, von dem rechten Wege, Christus zu suchen, ab. Wieso – wollen wir etwa leugnen, daß es eine abergläubische Verehrung ist, wenn sich Menschen vor dem Brote niederwerfen, um Christus darin anzubeten? Diesem falschen Tun hat unzweifelhaft die Synode von Nicäa entgegentreten wollen, als sie verbot, daß wir den uns vorgelegten Merkzeichen in Demut unsere Andacht zuwendeten. Und keine andere Ursache lag auch für die in alter Zeit bestehende Ordnung vor, daß das Volk vor der Weihe (Konsekration) mit lauter Stimme dazu ermahnt wurde, das Herz aufwärts zu richten (sursum corda!). Und auch die Schrift selber berichtet uns einerseits mit Fleiß von Christi Himmelfahrt, durch die er die Gegenwärtigkeit seines Leibes unserem Blick und dem Verkehr mit uns entzogen hat, außerdem aber will sie uns alles fleischliche Denken über ihn austreiben und gebietet deshalb allemal, wenn sie seiner Erwähnung tut, unseren Sinnen, sich nach oben zu richten und ihn im Himmel zu suchen, wo er zur Rechten des Vaters sitzt (Kol. 3,2). Nach dieser Regel hätte man ihn vielmehr geistlich in der himmlischen Herrlichkeit anbeten sollen, als sich diese so gefährliche Art von Anbetung auszudenken, die von einer fleischlichen, groben Meinung über Gott erfüllt ist.
Daher haben die, welche sich diese Anbetung des Sakraments ausgedacht haben, sie nicht nur aus sich selbst heraus erträumt, ohne die Schrift, in der sich keine Erwähnung derselben nachweisen läßt – und wenn dergleichen Gott wohlgefällig wäre, so wäre es doch nicht ausgelassen worden! –, nein, sie haben sich auch gegen den Widerspruch der Schrift nach ihrem eigenen willkürlichen Gutdünken einen Gott zurechtgemacht und dabei den lebendigen Gott verlassen. Denn was ist Abgötterei, wenn nicht dies, daß man die Gaben statt des Gebers selbst verehrt? Man hat sich also hier in zwiefacher Weise vergangen: einerseits hat man Gott die Ehre geraubt und sie auf die Kreatur übertragen, und andererseits hat man auch seine Wohltat befleckt und entheiligt und ihn dadurch entehrt, indem man aus seinem heiligen Sakrament einen widerlichen Abgott gemacht hat. Wir wollen demgegenüber, um nicht in die nämliche Fallgrube zu stürzen, unsere Augen, Ohren, Herzen, Sinne und Zungen voll und ganz an Gottes heilige Lehre geheftet sein lassen. Denn sie ist die Schule des besten Lehrmeisters, des Heiligen Geistes, in welcher man dergestalt Fortschritte macht, daß man von anderswoher nichts herbeizuholen braucht und mit Freuden nicht weiß, was in ihr nicht gelehrt wird.
IV,17,37
Aber, wie ja der Aberglaube, wenn er einmal die rechten Grenzen überschritten hat, mit Sündigen kein Ende macht, so ist man noch wesentlich weiter gegangen: man hat sich Gebräuche ausgedacht, die mit der Einsetzung des Abendmahls schlechterdings nichts zu tun haben, und zwar einzig zu dem Zweck, um dem Zeichen göttliche Ehren zu erweisen. Man sagt zwar: wir erweisen doch Christus diese Verehrung. Da antworte ich aber erstens: wenn das wirklich beim Abendmahl geschähe, so würde ich behaupten, daß nur die Anbetung rechtmäßig ist, die nicht bei dem Zeichen stehenbleibt, sondern sich auf Christus richtet, der im Himmel seinen Sitz hat. Unter welchem Vorwand behaupten sie nun aber, in diesem Brote Christus zu ehren, wo sie doch keine Verheißung darüber besitzen? Sie weihen die Hostie, wie sie sie nennen, um sie mit Prunk (in der Prozession) umherzutragen und um sie zum Beschauen, Verehren und Anrufen in öffentlichem Schauspiel auszustellen. Ich frage, vermöge welcher Kraft denn diese Hostie nach ihrer Meinung rechtmäßig geweiht ist. Sie werden dann allerdings die Worte vorbringen: „Das
ist mein Leib.“ Demgegenüber aber mache ich den Einwand, daß doch zugleich auch gesagt ist: „Nehmet hin und esset.“ Und das tue ich nicht ohne Sinn; denn die Verheißung ist mit dem Gebot verbunden, und ich behaupte, daß sie dergestalt in das Gebot eingeschlossen ist, daß sie bei ihrer Ablösung davon völlig zu nichts wird. Das wird durch ein ähnliches Beispiel deutlicher werden. Gott gab ein Gebot, als er sprach: „Rufe mich an“, und er fügte die Verheißung hinzu, „so will ich dich erhören“ (Ps. 50,15; Schluß nicht Luthertext). Wenn nun jemand den Petrus oder Paulus anriefe und sich dann dieser Verheißung rühmte – würden dann nicht alle Leute laut erklären, daß er verkehrt handelte? Was tun nun die Menschen anderes, so frage ich, die das Gebot, in dem uns das Essen befohlen wird, beiseite lassen und dann die verstümmelte Verheißung herausreißen: „Das ist mein Leib“, um sie für Gebräuche zu mißbrauchen, die mit Christi Stiftung nichts zu tun haben? Wir wollen also bedenken, daß diese Verheißung solchen gegeben ist, die das mit ihr verbundene Gebot halten, daß aber die, welche von dem Sakrament einen anderen Gebrauch machen, jeglichen Wortes ermangeln.
Oben haben wir davon gesprochen, in welcher Weise das Geheimnis (Sakrament) des heiligen Abendmahls (1.) unserem Glauben vor Gott dienlich ist. Wenn uns aber der Herr hier den Reichtum seiner Güte in der Fülle, die wir oben dargelegt haben, nicht nur ins Gedächtnis zurückruft, sondern sie gleichsam aus seiner Hand in unsere legt und uns ermuntert, sie zu erkennen, so ermahnt er uns damit zugleich (2.), solcher überströmenden Wohltätigkeit gegenüber nicht undankbar zu sein, sondern sie vielmehr mit dem ihr billig zukommenden Lob zu preisen und mit Danksagung zu verherrlichen. Als er daher den Aposteln die Stiftung dieses Sakraments übergab, da lehrte er sie: „Das tut zu meinem Gedächtnis“ (Luk. 22,19). Und Paulus legt das so aus, sie sollten „des Herrn Tod verkündigen“ (1. Kor. 11,26). Das bedeutet aber, daß wir alle öffentlich und aus einem Munde vor aller Welt bekennen, daß für uns die ganze Zuversicht auf Leben und Seligkeit auf dem Tode des Herrn beruht, damit wir ihn mit unserem Bekenntnis verherrlichen und andere durch unser Beispiel dazu ermuntern, ihm die Ehre zu geben. Hier wird wiederum deutlich, wo der Richtpunkt des Sakraments liegt: es soll uns in dem Gedächtnis des Todes Christi üben. Wenn uns aber Paulus gebietet, „des Herrn Tod zu verkündigen“, „bis daß er“ zum Gericht „kommt“ (1. Kor. 11,26), so bedeutet das nichts anderes, als daß wir mit dem Bekenntnis unseres Mundes aussprechen sollen, was unser Glaube im Sakrament erkannt hat, nämlich daß Christi Tod unser Leben ist. Das ist die zweite Wirkweise (usus) des Sakraments, die sich auf das äußere Bekenntnis bezieht.
IV,17,38
(3.) Zum dritten soll uns das Abendmahl nach dem Willen des Herrn auch als Ermahnung dienen, und es gibt keine andere, durch die wir kräftiger zur Reinheit und Heiligkeit unseres Lebens wie auch zur Liebe, zum Frieden und zur Eintracht ermuntert und entflammt werden könnten. Denn der Herr gibt uns im Abendmahl dergestalt Anteil an seinem Leibe, daß er mit uns ganz eins wird und wir mit ihm. Wie nun er nur einen Leib hat, dessen er uns alle teilhaftig macht, so müssen auch notwendig wir alle durch solches Teilhaben zu einem Leibe werden. Diese Einheit veranschaulicht das Brot, das uns im Sakrament dargereicht wird: es setzt sich gleichsam aus vielen Körnern zusammen, die unter sich dermaßen vermengt sind, daß man keines mehr von dem anderen unterscheiden kann; auf die gleiche Weise gebührt es sich auch, daß wir in solcher Herzenseintracht verbunden und vereinigt sind, daß keinerlei Zwietracht oder Entzweiung dazwischentritt. Das will ich lieber mit den Worten des Paulus auseinandersetzen; er sagt: „Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? ... So sind
wir viele ein Leib, dieweil wir alle eines Brotes teilhaftig sind“ (1. Kor. 10,16f.). Wir haben aber dann beim Sakrament herrlich viel gelernt, wenn in unseren Herzen der Gedanke festgeprägt und eingegraben ist: wir können keinen unter unseren Brüdern verletzen, verachten, von uns stoßen, schmählich behandeln oder auf irgendeine Weise kränken, ohne daß wir zugleich in ihm Christus mit unseren Ungerechtigkeiten verletzen, verachten und schmählich behandeln, wir können nicht mit unseren Brüdern in Zwietracht leben, ohne zugleich mit Christus in Zwietracht zu sein, wir können Christus nicht lieben, ohne daß wir ihn in unseren Brüdern lieben; die Sorge, die wir um unseren Leib tragen, müssen wir auch an unsere Brüder wenden, die doch Glieder an unserem Leibe sind, und wie kein Stück unseres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das sich nicht zugleich auf alle anderen übertrüge, so können wir es auch nicht ertragen, daß ein Bruder von irgendeinem Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst mit ihm durchlitten. Daher ist es nicht ohne Sinn, daß Augustin dies Sakrament so oft als Band der Liebe bezeichnet. Denn was könnte wohl für ein schärferer Ansporn angewendet werden, um unter uns die gegenseitige Liebe zu erwecken, als daß Christus sich selbst für uns hingibt und uns damit nicht nur durch sein Vorbild dazu auffordert, uns einander zu weihen und hinzugeben, sondern auch, insofern er sich allen gemein macht, dahin wirkt, daß wir alle eins sind in ihm?
IV,17,39
Hierdurch erfährt aber das, was ich anderwärts ausgeführt habe, nämlich daß die rechte Verwaltung des Sakraments nicht ohne das Wort besteht, eine treffliche Bekräftigung. Denn jeglicher Nutzen, der uns aus dem Abendmahl erwächst, erfordert das Wort: ob wir im Glauben gestärkt, im Bekenntnis geübt oder zum Dienst ermuntert werden sollen – immer bedarf es der Predigt! Darum kann beim Abendmahl nichts verkehrteres geschehen, als daß man es in eine stumme Verrichtung umwandelt, wie man das unter der Tyrannei des Papstes getan hat. Nach dem Willen der Papisten soll nämlich die ganze Kraft der Weihe (Konsekration) von dem Vorsatz des Priesters abhängen – als ob das das Volk nichts anginge, wo doch gerade ihm dies Geheimnis hätte ausgelegt werden müssen. Daraus ist dann der Irrtum erwachsen, daß sie nicht darauf achteten, daß jene Verheißungen, auf Grund deren die Weihe geschieht, nicht für die Elemente selbst bestimmt sind, sondern für die, welche sie empfangen. Nun redet aber doch Christus nicht das Brot an, daß es sein Leib werden solle, sondern er gebietet den Jüngern zu essen, und verheißt ihnen das Teilhaben an seinem Leib und Blut. Und auch Paulus lehrt keine andere Ordnung, als daß den Gläubigen zusammen mit Brot und Kelch die Verheißungen dargeboten werden sollen. So ist es ohne Zweifel. Denn wir sollen uns hier nicht irgendeine Zauberbeschwörung ersinnen, so daß es genug wäre, die Worte dahergemurmelt zu haben, als ob sie von den Elementen gehört würden, nein, wir sollen begreifen, daß jene Worte eine lebendige Predigt sind, die die Hörer erbauen, innerlich in ihre Herzen dringen, den Herzen eingeprägt werden und darin haften soll, und die ihre Wirkkraft in der Erfüllung dessen beweisen soll, was sie verheißt.
Aus diesen Erwägungen geht klar hervor, daß das Weglegen des Sakraments, wie es manche verlangen, damit es außerhalb der Ordnung an die Kranken ausgeteilt werden könnte, unnütz ist. Denn die Kranken werden es dann entweder ohne Anführung der Einsetzung(sworte) Christi empfangen, oder der Diener wird mit dem Zeichen zugleich eine wahre Auslegung des Geheimnisses verbinden. Die stillschweigende Austeilung (also der erste Fall) aber bedeutet einen Mißbrauch und Fehler. Werden dagegen die Verheißungen genannt und wird das Geheimnis (Sakrament) ausgelegt, so daß die, welche es nehmen sollen, es mit Frucht empfangen, so besteht kein Grund zu bezweifeln, daß dies die wahre Weihe ist. Was soll also jene andere für einen Sinn haben, deren Kraft nicht bis zu den Kranken
hingelangt? Ja, wird man sagen, aber wer so handelt, der hat das Beispiel der Alten Kirche für sich! Das gebe ich zu; aber bei einer Sache, die so große Bedeutung hat und bei der man nicht ohne große Gefahr in Irrtum fällt, ist nichts sicherer, als daß man der Wahrheit selber folgt!
IV,17,40
Wie wir nun sehen, daß dies heilige Brot beim Abendmahl des Herrn eine geistliche Speise ist, süß und köstlich nicht weniger als heilbringend für Gottes fromme Diener, die durch das Kosten solchen Brotes empfinden, daß Christus ihr Leben ist, durch dies Brot zur Danksagung ermuntert werden und in ihm eine Ermahnung zur gegenseitigen Liebe untereinander haben, – so verwandelt es sich auf der anderen Seite für alle, deren Glauben es nicht nährt und festigt und die es nicht zum Bekenntnis seines Lobes und zur Liebe erweckt, in das verderblichste Gift. Denn wie eine leibliche Speise, wenn sie in einen Leib gerät, der mit schlechten Säften erfüllt ist, auch selbst schlecht gemacht und verdorben wird und deshalb mehr schadet als nährt, so ist es auch mit dieser geistlichen Speise: trifft sie auf eine Seele, die mit Bosheit und Nichtswürdigkeit befleckt ist, so stürzt sie diese nur mit um so schlimmerem Zusammenbruch ins Verderben, und zwar nicht durch einen ihr selbst anhaftenden Fehler, sondern weil „den Unreinen und Ungläubigen nichts rein“ ist (Tit. 1,15), wie sehr es auch sonst durch den Segen des Herrn geheiligt sein mag. „Denn“, wie Paulus sagt, „welcher unwürdig isset und trinket, der ist schuldig an dem Leib und Blut des Herrn und isset und trinket sich selber zum Gericht, damit, daß er nicht unterscheidet den Leib des Herrn“ (1. Kor. 11,29; Zwischenstück aus Vers 27). Denn diese Art Menschen, die ohne jedes Fünklein Glauben, ohne allen Eifer der Liebe gleich Säuen herbeilaufen, um das Abendmahl des Herrn zu nehmen, die unterscheiden den Leib des Herrn eben durchaus nicht. Insofern sie nämlich nicht glauben, daß dieser Leib ihr Leben ist, behandeln sie ihn, soviel sie es vermögen, mit Schmach, indem sie ihn aller seiner Würde berauben; und indem sie ihn schließlich in solcher Gesinnung empfangen, entheiligen und besudeln sie ihn. Insofern sie aber von ihren Brüdern entfremdet sind, mit ihnen in Zwietracht leben und es dann wagen, das heilige Merkzeichen des Leibes Christi mit ihrer Zwietracht zu vermengen, liegt es nicht an ihnen, wenn Christi Leib nicht zerstückt und Glied für Glied auseinander gerissen wird. Daher sind sie nicht unverdient „schuldig am Leib und Blut des Herrn“, weil sie sie eben in heiligtumsschänderischer Gottlosigkeit so ekelhaft beflecken. Durch diesen unwürdigen Genuß des Sakraments ziehen sie sich also ihre Verdammnis zu. Denn obwohl sie keinen Glauben haben, der auf Christus ruhte, bekennen sie doch durch den Empfang des Sakraments, daß ihr Heil nirgendwo anders liege als in ihm, und schwören sie alle andere Zuversicht ab. Daher sind sie ihre eigenen Verkläger, legen sie selber Zeugnis gegen sich ab und versiegeln sie sich selbst ihre Verdammnis. Und dann ferner: obwohl sie durch Haß und Böswilligkeit von ihren Brüdern, das heißt von Christi Gliedern, geschieden und mit ihnen entzweit sind und daher keinen Anteil an Christus haben, bezeugen sie doch (durch den Empfang des Sakraments), daß das Heil allein darin bestehe, Christi teilhaftig und mit ihm geeint zu sein (wodurch sie sich also abermals selbst verklagen)!
Daher gebietet Paulus: „Der Mensch prüfe sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch“ (1. Kor. 11,28). Damit hat er, jedenfalls wie ich es auslege, sagen wollen, es solle jeder einzelne in sich selbst hinabsteigen und bei sich bedenken, ob er sich mit innerlichem Vertrauen seines Herzens auf das Heil verläßt, das Christus uns erworben, und es mit dem Bekenntnis seines Mundes anerkennt, ferner, ob er im eifrigen Trachten nach Unschuld und Heiligkeit nach Christi Nachfolge strebt, ob er bereit ist, sich nach Christi Beispiel den Brüdern hinzugeben und sich denen zuteil zu
geben, mit denen er Christus gemeinsam hat, ob er, wie er von Christus als sein Glied angesehen wird, so auch seinerseits alle Brüder für Glieder seines Leibes gelten läßt, und ob er danach trachtet, sie wie seine Glieder zu fördern, zu schützen und zu unterstützen. Nicht daß diese Leistungen des Glaubens und der Liebe schon jetzt bei uns vollkommen sein könnten, sondern daß wir uns darum mühen und mit allem Begehren danach streben sollen, den angefangenen Glauben von Tag zu Tag je mehr und mehr zunehmen zu lassen!
IV,17,41
Im allgemeinen hat man die armen Gewissen, wenn man die Menschen auf solchen würdigen Genuß des Abendmahls vorbereiten wollte, in grausamer Weise gepeinigt und gequält, aber nichts von dem vorgebracht, was zur Sache dienlich war. Man hat gesagt, diejenigen übten den würdigen Genuß des Abendmahls, die im Stande der Gnade seien. Dies „im Stande der Gnade sein“ hat man dann so ausgelegt, es hieße von aller Sünde sauber und gereinigt sein. Durch diese Lehre wurden alle Menschen, soviel ihrer je auf Erden gewesen sind oder noch sind, von dem Gebrauch dieses Sakraments ausgeschlossen. Denn wenn es darum geht, daß wir unsere Würdigkeit von uns selbst her nehmen sollen, dann ist es um uns geschehen – nur Verzweiflung und tödliches Zusammenbrechen warten unser! Wir mögen uns mit allen Kräften anstrengen, so werden wir doch nichts anderes erreichen, als daß wir gerade dann, wenn wir uns am meisten darum gemüht haben, solche Würdigkeit zu suchen, am allerunwürdigsten sein werden.
Um diese Wunde zu heilen, hat man sich eine Art und Weise ausgedacht, wie wir solche Würdigkeit erlangen sollen: wir sollen uns, soviel wir es vermögen, prüfen, sollen uns über alles, was wir getan haben, Rechenschaft ablegen und dann durch Zerknirschung, Bekenntnis und Genugtuung für unsere Unwürdigkeit Sühne leisten – was für eine Art von Sühneleistung das ist, das haben wir an einer zur Besprechung dieser Dinge passenderen Stelle dargelegt. Soweit es mit unserer jetzigen Erörterung zu tun hat, behaupte ich, daß dergleichen Dinge für solche Gewissen, die niedergeschlagen sind und am Boden liegen und von der Sündenangst durchbohrt sind, ein gar zu inhaltloser, nichtiger Trost sind. Denn wenn der Herr durch jenes Verbot niemanden zum Teilhaben an seinem Abendmahl zuläßt, der nicht gerecht und unschuldig wäre, so ist keine geringe Gewährleistung erforderlich, damit einer dadurch seiner Gerechtigkeit gewiß werde, die, wie er es vernimmt, Gott von ihm verlangt. Woher sollen wir aber eine Bekräftigung der „Gewißheit“ bekommen, daß die, welche „getan haben, was sie vermögen“, vor Gott ihre Schuldigkeit getan hätten? Und selbst wenn es so wäre, so bleibt doch zu fragen: wann darf wohl einer wagen, sich die Zusage zu geben, er habe getan, was er vermochte? Da uns also (in dieser Weise!) keine gewisse Sicherheit von unserer Würdigkeit zuteil wird, so muß uns der Zugang allezeit verschlossen bleiben, vermöge jenes furchtbaren Verbots, in dem verordnet wird: „Welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht“ (1. Kor. 11,29).
IV,17,42
Jetzt läßt sich leicht ein Urteil darüber gewinnen, von welcher Art die im Papsttum herrschende Lehre ist und von welchem Urheber sie ihren Ausgang genommen hat: das ist eine Lehre, welche die armen und von Angst und Traurigkeit angefochtenen Sünder durch ihre maßlose Härte des Trosts dieses Sakraments verlustig gehen läßt und beraubt, während ihnen doch in ihm alle Köstlichkeiten des Evangeliums vor Augen gestellt wurden. Ohne Zweifel konnte der Teufel die Menschen auf keinem kürzeren Wege ins Verderben bringen, als daß er sie dermaßen betörte, daß sie von jener Speise, mit der sie der himmlische Vater in seiner großen Güte hatte nähren wollen, nichts kosteten und keinen Geschmack von ihr bekamen. Damit wir also nicht in solchen Abgrund hineinrennen, wollen wir
bedenken, daß dies heilige Mahl eine Arznei für die Kranken, ein Trost für die Sünder und ein reiches Geschenk für die Armen ist, während es für Gesunde, Gerechte und Reiche, sofern welche zu finden wären, nichts bringt, was (für sie) einigen Wert hätte. Denn da uns in diesem Mahl Christus zur Speise gegeben wird, so erkennen wir, daß wir ohne ihn dahinschwinden, verrinnen und ermatten, wie auch die Kraft des Leibes beim Mangel an Nahrung zunichte wird. Und ferner: er wird uns doch zum Leben gegeben, und daran erkennen wir, daß wir ohne ihn in uns selber völlig tot sind. Daher besteht jene Würdigkeit, die wir Gott als einzige und beste bringen können, darin, daß wir unsere Niedrigkeit und sozusagen unsere Unwürdigkeit vor ihn tragen, damit er uns durch seine Barmherzigkeit seiner würdig mache, sie besteht darin, daß wir in uns selber alle Hoffnung aufgeben, um uns in ihm zu trösten, daß wir uns erniedrigen, um von ihm aufgerichtet, daß wir uns verklagen, um von ihm gerechtfertigt zu werden, sie besteht weiterhin darin, daß wir nach der Einheit streben, die er uns in seinem Abendmahl anbefiehlt, und, wie er uns alle in sich selber eins macht, so auch wünschen, daß wir alle voll und ganz eine Seele, ein Herz und eine Zunge haben. Wenn wir das erwogen und bedacht haben, so werden uns wohl solche Gedanken kommen können: Wie sollen denn wir, die wir arm und nackt sind an allem Guten, wie sollen wir, die wir von dem Schmutz der Sünde besudelt, wir, die wir halb tot sind, wie sollen wir den Leib des Herrn würdig genießen? Aber solche Gedanken werden uns dann zwar vielleicht erschüttern, aber nie und nimmer zu Boden werfen. Nein, wir werden dann vielmehr bedenken, daß wir als Arme zu einem gütigen Geber, als Kranke zu einem Arzt, als Sünder zu dem Wirker der Gerechtigkeit und schließlich als Tote zu dem kommen, der da lebendig macht, wir werden erwägen, daß die Würdigkeit, die von Gott geboten wird, vor allen Dingen in dem Glauben besteht, der alles bei Christus findet und nichts bei uns selbst, und alsdann auch in der Liebe, und zwar in einer solchen, die wir Gott in all ihrer Unvollkommenheit darbieten dürfen, damit er sie bessere und mehre, sintemal wir eine vollkommene nicht zu leisten vermögen.
Es gibt manche, die mit uns in der Ansicht übereinstimmen, daß jene Würdigkeit selbst in Glaube und Liebe besteht, aber dann in der Art und Weise dieser Würdigkeit weit abgeirrt sind, indem sie eine Vollkommenheit des Glaubens fordern, zu der überhaupt nichts mehr hinzukommen kann, und eine Liebe, die der gleich sein soll, die Christus uns gegenüber zu erkennen gegeben hat. Damit aber weisen sie, genau wie die obengenannten Leute (nämlich die Papisten), alle Menschen vom Zugang zu diesem heiligen Mahle weg. Denn wenn ihre Meinung Gültigkeit hätte, so würde jeder das Sakrament unwürdig empfangen; denn alle ohne Ausnahme wären ihrer Unvollkommenheit schuldig und überführt. Auch wäre es doch wahrlich ein Zeichen von gar zu großer Unverständigkeit, ja Dummheit, wenn man beim Empfang des Sakraments eine Vollkommenheit forderte, die das Sakrament selbst wirkungslos und überflüssig machte; denn es ist nicht für die vollkommenen gestiftet, sondern für die Schwachen und Gebrechlichen, um die Gesinnung des Glaubens und der Liebe anzustacheln, zu erwecken, anzuspornen und zu üben und um den Mangel an Glauben und Liebe zu beheben.
IV,17,43
Was nun den äußerlichen Brauch bei der Übung des Sakraments betrifft, so macht es nichts aus, ob die Gläubigen das Brot in die Hand nehmen oder nicht, ob sie es untereinander verteilen oder ob jeder ißt, was man ihm gegeben hat, ob sie den Kelch dem Diakon in die Hand geben oder an den Nächsten weiterreichen, ob das Brot gesäuert oder ungesäuert ist, und ob der Wein rot oder weiß ist. Dies sind Dinge ohne entscheidende Bedeutung, die in der freien Entschließung der Kirche stehen.
Allerdings ist es sicher, daß es der Brauch der Alten Kirche gewesen ist, daß alle das Brot in die Hand empfingen. Auch hat Christus gesagt: „Teilet ihn (den Kelch) unter euch“ (Luk. 22,17). Nach dem Bericht der Geschichtsbücher hat man vor der Zeit des Bischofs Alexander von Rom gesäuertes, gewöhnliches Brot genommen; Alexander (I.) ist der erste gewesen, der an ungesäuertem Brot Gefallen gefunden hat, aus welchem Grunde, sehe ich nicht, einzig wollte er wohl die Augen des Volkes mit einem neuen Schaubild zur Bewunderung hinreißen, statt sein Herz in rechter Ehrfurcht zu unterweisen. Ich beschwöre alle, die auch nur von einem geringen Eifer um die Frömmigkeit erfaßt sind, ob sie nicht klar durchschauen, wieviel herrlicher Gottes Ehre hier leuchtet und wieviel reichlicher hier die Köstlichkeit des geistlichen Trostes ist, die den Frommen erwächst, als bei jenen frostigen und schauspielerhaften Possen, die keinen anderen Nutzen bringen, als den Sinn des verblüfften Volkes zu täuschen! Das heißen sie „das Volk bei der innerlichen Ehrfurcht erhalten“, wenn es vom Aberglauben dumm und betört ist und sich überall hinziehen läßt. Will jemand dergleichen Fündlein mit ihrem Alter verteidigen, so weiß auch ich sehr wohl, wie alt bei der Taufe die Übung der Salbung und des Anblasens ist, und wie kurz nach der Zeit der Apostel das Abendmahl des Herrn vom Rost befallen worden ist; aber das ist eben die Frechheit des menschlichen Selbstvertrauens, daß es sich nicht enthalten kann, in Gottes Geheimnissen allezeit sein Spiel und seine Ausgelassenheit zu treiben. Wir aber wollen bedenken: Gott legt auf den Gehorsam gegen sein Wort so großes Gewicht, daß er den Willen hat, daß wir sowohl seine Engel als auch den ganzen Erdkreis nach diesem seinem Worte beurteilen sollen.
Nachdem wir nun einem so großen Haufen von Zeremonien Valet gesagt haben, könnte das Abendmahl am schicklichsten so verwaltet werden, daß es recht häufig und mindestens einmal in der Woche der Kirche vorgelegt würde. Am Anfang sollten dann öffentliche Gebete stehen, dann sollte die Predigt gehalten werden, danach sollte der Diener, nachdem Brot und Wein auf den Lisch gestellt sind, von der Stiftung des Abendmahls berichten und weiterhin die Verheißungen darlegen, die uns in ihm hinterlassen sind; zugleich sollte er alle mit dem Bann belegen, die durch das Verbot des Herrn vom Abendmahl ausgeschlossen sind. Danach sollte man darum beten, daß der Herr uns kraft seiner Güte, in der er uns diese heilige Nahrung gewährt hat, auch zu ihrem Empfang mit Glauben und herzlicher Dankbarkeit unterweisen und erziehen und uns, da wir es aus uns selbst heraus nicht sind, in seiner Barmherzigkeit solchen Mahles würdig machen möge. Dann sollte man Psalmen singen oder etwas verlesen und die Gläubigen sollten in gebührender Ordnung an dem heiligen Mahle teilhaben, wobei die Diener das Brot brächen und den Kelch reichten. Nach Beendigung des Abendmahles sollte eine Ermahnung stattfinden zu aufrichtigem Glauben und zum Bekenntnis des Glaubens, zur Liebe und zu einem der Christen würdigen Wandel. Zum Schluß sollte man die Danksagung sprechen und Gott Lob singen. Nach dem allem sollte die Kirche im Frieden entlassen werden.
IV,17,44
Was wir bisher von diesem Sakrament ausgeführt haben, zeigt mehr als genugsam, daß es nicht dazu eingesetzt ist, um einmal im Jahre empfangen zu werden, und zwar, wie das jetzt allgemein die Gepflogenheit ist, nur, um der Pflicht ledig zu sein. Nein, es soll bei allen Christen in häufiger Übung stehen, damit sie sich in wiederholtem Gedenken an Christi Leiden erinnern; in solcher Erinnerung
sollen sie ihren Glauben stärken und festigen, sollen sie sich ermahnen, das Bekenntnis des Lobes Gottes zu singen und seine Güte zu verkündigen, und sollen sie schließlich die gegenseitige Liebe nähren und sie sich auch gegenseitig bezeugen, da sie ja das Band solcher Liebe in der Einheit des Leibes Christi sehen. Denn allemal, wenn wir an dem Merkzeichen des Leibes unseres Herrn teilhaben, so verpflichten wir uns gleichsam durch das Geben und Empfangen eines Unterpfands einander gegenseitig zu allen Leistungen der Liebe, damit niemand unter uns etwas tut, womit er seinen Bruder verletzte, und niemand etwas unterläßt, womit er ihm beistehen könnte, wo es die Not erfordert und die Möglichkeit dazu besteht.
So ist es in der apostolischen Kirche der Brauch gewesen, wie es Lukas erwähnt, wenn er berichtet: „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“ (Apg. 2,42). So müßte es allgemein dahin kommen, dass keine Zusammenkunft der Kirche ohne Wort, Gebete, die Austeilung des Abendmahls und Almosen geschähe. Daß diese Ordnung auch bei den Korinthern eingerichtet war, läßt sich auf Grund der Worte des Paulus (1. Kor. 11) genugsam annehmen, und sie ist ohne Zweifel auch noch viele Jahrhunderte nachher in Übung gewesen.
Daher rühren nämlich jene alten Kirchensatzungen, die man dem Anacletus und dem Calixt zuschreibt: es sollen danach alle, die nicht aus der Kirche ausgeschlossen werden wollen, nach Vornahme der Konsekration das Abendmahl mitfeiern. Und in den alten Kirchensatzungen, die man die apostolischen nennt, steht zu lesen: „Wer nicht bis zum Ende anwesend bleibt und das Heilige Abendmahl nicht empfängt, der soll als einer, der der Kirche Unruhe bereitet, zurechtgewiesen werden“ (Canones Apostolorum 9 [10]). Ebenso hat man auf dem Konzil zu Antiochia (341) beschlossen: wer in die Kirche ginge, die Schrift hörte, aber am Abendmahl nicht teilnähme, der solle aus der Kirche verwiesen werden, bis er von diesem Fehler Abstand nähme. Das hat man dann freilich auf dem ersten Konzil zu Toledo (400) entweder gemildert oder wenigstens mit milderen Worten ausgesprochen; trotzdem wird auch dort festgesetzt: wer dabei betroffen werde, daß er nach dem Hören der Predigt niemals am Abendmahl teilnehme, der solle vermahnt und, sofern er nach der Vermahnung von diesem Fehler nicht abstehe, ausgeschlossen werden.
IV,17,45
Durch diese Bestimmungen wollten nämlich die heiligen Männer den häufigen Gebrauch des Abendmahls aufrechterhalten und verteidigen, wie er von den Aposteln selbst überliefert war. Sie sahen eben, daß er für die Gläubigen höchst heilsam war, durch die Nachlässigkeit der Menge jedoch nach und nach in Abgang geraten mußte, über seine Zeit aber gibt uns Augustin folgendes Zeugnis: „Das Sakrament (= Zeichen) dieser Sache, das heißt der Einheit des Leibes des Herrn, wird an manchen Orten Tag für Tag, an anderen in bestimmten Abständen auf dem Tisch des Herrn bereitet und von jenem Tisch her empfangen, von einigen zum Leben, von anderen zum Verderben“ (Predigten zum Johannesevangelium 26,15). Und in seinem ersten Brief an Januaris schreibt er: „Die einen halten alle Tage mit dem Leib und Blut des Herrn Gemeinschaft, die anderen empfangen sie an bestimmten Tagen, an manchen Orten geht kein Tag vorbei, wo nicht das Abendmahl dargeboten wird, an anderen geschieht es bloß samstags und sonntags, wieder an anderen ausschließlich an Sonntagen“ (Brief 54,11,2; an Januaris). Da nun, wie gesagt, das Volk zuweilen recht lässig war, so setzten die heiligen Männer mit strengem Tadel Nachdruck hinter ihre Forderung, damit es nicht den Anschein hatte, als sähen sie solcher Trägheit durch die Finger. Ein Beispiel dieser Art findet sich bei Chrysostomus in seiner Auslegung des Briefes an die Epheser; da heißt es: „Zu dem Manne, der das Gastmahl entehrte, wurde nicht gesagt: ‚Warum hast du dich zu Tische gesetzt?’, sondern: ‚Warum bist du hereingekommen?’ (Matth. 22,12; nicht Luthertext). Jeder, der an den Geheimnissen (Sakramenten) nicht teilnimmt, ist unredlich und unverschämt, daß er hier anwesend ist. Ich frage: wenn jemand auf Ein-
ladung zu einem Gastmahl kommt, die Hände wäscht, sich zu Tische setzt und den Eindruck erweckt, als schicke er sich zum Essen an – und dann nichts anrührt, tut der nicht dem Gastmahl wie dem Gastgeber Schmach an? So ist es auch mit dir: du stellst dich unter denen ein, die sich durch Gebet zum Empfang des heiligen Mahles vorbereiten, hast auch dadurch, daß du nicht weggegangen bist, bekannt, daß du einer aus ihrer Schar bist, und nimmst dann schließlich doch nicht an dem Mahle teil! Wäre es da nicht besser gewesen, du wärest überhaupt nicht erschienen? Du sagst: Ich bin unwürdig. Dann warst du also auch nicht würdig, an dem Gebet teilzuhaben, das die Vorbereitung zum Empfang des heiligen Geheimnisses (Sakraments) darstellt“ (zum ersten Kapitel des Epheserbriefs 3,5).
IV,17,46
Unzweifelhaft ist diese Gepflogenheit, die da gebietet, einmal im Jahre Abendmahl zu feiern, ein ganz sicheres Fündlein des Teufels, durch wessen Dienst sie auch am Ende aufgebracht worden sein mag! Man sagt, Zephyrinus (von Rom) sei der Urheber dieser Bestimmung gewesen; aber es ist durchaus nicht anzunehmen, daß diese damals so gewesen ist, wie wir sie heute vor uns haben. Denn Zephyrinus hat durch seine Einrichtung vielleicht nicht gar so übel für die Kirche gesorgt, so wie dazumal die Zeiten waren. Es unterliegt nämlich nicht dem geringsten Zweifel, daß damals (um die Wende des 2. und 3. Jahrhunderts) den Gläubigen das Heilige Abendmahl jedesmal vorgelegt wurde, wenn sie sich zur Versammlung beieinanderfanden, und es ist auch nicht zweifelhaft, daß ein erheblicher Teil von ihnen kommunizierte. Nun kam es aber kaum jemals vor, daß alle miteinander das Abendmahl feierten, und andererseits war es doch notwendig, daß sie angesichts ihrer Vermengung unter unheilige und abgöttische Menschen mit irgendeinem äußeren Merkzeichen ihren Glauben bekundeten; daher hatte der heilige Mann um der Ordnung und des Regiments willen jenen Tag festgesetzt, an dem das ganze Volk der Christen durch das Teilhaben am Abendmahl des Herrn ein Bekenntnis seines Glaubens ablegen sollte. Diese im übrigen anerkennenswerte Einrichtung des Zephyrinus hat dann die spätere Zeit übel verkehrt: da hat man nämlich ein bestimmtes Gesetz aufgestellt, nach welchem jeder (mindestens) einmal im Jahre am Abendmahl teilnehmen mußte; dadurch ist es dahin gekommen, daß fast alle, wenn sie einmal kommuniziert hatten, nun der Meinung waren, als ob sie für den Rest des Jahres ihrer Pflicht sein ledig seien, und unbekümmert auf beiden Ohren schliefen. Ganz anders hätte es geschehen müssen: mindestens jede Woche einmal hätte der Versammlung der Christen der Tisch des Herrn bereitet werden müssen, dann hätte man die Verheißungen erklären sollen, die uns am Tisch des Herrn geistlich zu nähren bestimmt sind, und dann hätte man zwar niemanden mit Zwang nötigen, aber alle ermahnen und anspornen und auch die Schläfrigkeit der Faulen tadeln sollen. So hätten alle gemeinschaftlich als hungrige Leute zu diesem köstlichen Mahl zusammenkommen sollen. Nicht zu Unrecht habe ich mich daher zu Anfang (dieser Sektion) beklagt, daß diese Gepflogenheit durch des Teufels List aufgebracht sei, diese Gepflogenheit, die einen Tag im Jahre vorschreibt und die Menschen dadurch für das ganze Jahr nachlässig macht. Wir sehen zwar, daß dieser verkehrte Mißbrauch schon zur Zeit des Chrysostomus eingeschlichen ist; aber man kann zugleich sehen, wie sehr er das mit Widerwillen aufgenommen hat. Er klagt nämlich an der oben angeführten Stelle mit ernsten Worten, es bestehe hier eine derartige Ungleichartigkeit, daß die Leute oftmals zu anderen Zeiten des Jahres nicht zum Abendmahl kämen, auch wenn sie rein seien, zur Osterzeit jedoch auch dann kommunizieren wollten, wenn sie unrein seien. Dann ruft er aus: „O Gewohnheit, o Halsstarrigkeit! So geschieht also das tägliche Opfer umsonst, so stehen wir umsonst am Altar: Niemand ist da, der mit uns zugleich das Abendmahl nähme“ (zum ersten Kapitel des Epheserbriefs 3,4). So wenig kann die Rede davon sein, daß Chrysostomus diesen Mißbrauch mit seiner Autorität bekräftigt hätte!
IV,17,47
Aus der gleichen Werkstatt (nämlich aus der des Teufels) ist auch die andere Satzung hervorgegangen, die dem besseren Teil des Volkes Gottes die Hälfte des Abendmahls gestohlen oder entzogen hat, nämlich das Merkzeichen des Blutes, das man den „Laien“ und „Weltlichen“ – mit diesen Titeln zeichnet man nämlich Gottes Erbe (1. Petr. 5,3) aus – versagt und nur einigen wenigen geschorenen und gesalbten Leuten in Besitz gegeben hat. Das Gebot des ewigen Gottes geht dahin, daß „alle“ trinken sollen (Matth. 26,27); dies Gebot aber wagt der Mensch durch ein neues und entgegengesetztes Gesetz veraltet zu machen und abzuschaffen, indem er verordnet, es sollten nicht alle trinken!
Und damit solche Gesetzgeber nicht ohne Ursache wider ihren Gott streiten, so schützen sie Gefahren vor, die eintreten könnten, wenn man diesen geweihten Kelch durchweg allen reichte – als ob diese von Gottes ewiger Weisheit nicht vorhergesehen und bemerkt worden wären!
Ferner stellen sie natürlich spitzfindig die Schlußfolgerung an, das eine Element sei genug für beide. Denn wenn der Leib da ist, so sagen sie, so ist es der ganze Christus, der ja von seinem Leibe nicht losgerissen werden kann. So schließt also der Leib vermöge des wechselseitigen Beieinanderseins (concomitantia) das Blut mit ein. Da sieht man, wie unser Sinn mit Gott „einig“ geht, wo er doch schon bei der geringsten Lockerung der Zügel ausgelassen und unbändig zu werden beginnt! Der Herr zeigt auf das Brot und sagt: „Das ist mein Leib“, er weist auf den Kelch und sagt: „Das ist mein Blut ...“ Die Vermessenheit der menschlichen Vernunft erhebt dagegen Einspruch und behauptet, das Brot sei das Blut und der Wein sei der Leib – als ob der Herr ohne jede Ursache mit Worten und Zeichen seinen Leib und sein Blut voneinander unterschieden hätte, und als ob man je hätte sagen hören, daß Christi Leib oder Blut „Gott und Mensch“ genannt würde! Hätte er sich ganz bezeichnen wollen, so hätte er doch unzweifelhaft sagen können: „Das bin ich“, wie er in der Schrift zu sprechen gewohnt war, nicht aber: „Das ist mein Leib. Das ist mein Blut.“ Er wollte aber der Schwachheit unseres Glaubens zu Hilfe kommen und stellte deshalb den Kelch gesondert neben das Brot, um zu lehren, daß er zum Tranke nicht weniger genug sei als zur Speise. Nimmt man nun einen Teil weg, so werden wir in ihm bloß die halbe Nahrung finden! Selbst wenn wir den Fall setzen, ihre Behauptung, vermöge des „wechselseitigen Beieinanderseins“ sei das Blut im Brote und der Leib wiederum im Kelch, wäre richtig, so rauben sie eben doch den frommen Seelen die Bekräftigung des Glaubens, die Christus als notwendig lehrt. Wir sollen also ihre Spitzfindigkeiten fahrenlassen und den Nutzen behalten, der auf Grund der Anordnung Christi in dem zwiefachen Unterpfand empfangen wird!
IV,17,48
Ich weiß freilich, daß die Diener des Satans entsprechend ihrem Brauch, mit der Heiligen Schrift ihren Spott zu treiben, hier Ausflüchte machen. Zunächst berufen sie sich darauf, aus einer einfachen Tatsache ließe sich keine Regel ableiten, kraft deren die Kirche zu einem fortwährenden Brauch verpflichtet würde. Es ist aber eine Lüge, wenn sie behaupten, es handle sich hier bloß um eine einfache Tatsache; denn Christus hat nicht nur den Kelch gereicht, sondern auch festgesetzt, daß die Apostel für die Folgezeit so verfahren sollten. Er gibt doch eine Vorschrift, wenn er sagt: „Trinket alle aus diesem Kelch“ (Matth. 26,27; erweitert). Und Paulus erwähnt, daß es sich hier um eine Tatsache gehandelt hat, doch so, daß er dies Verfahren Christi zugleich als eine feste Einrichtung anbefiehlt (1. Kor. 11,25).
Die zweite Ausflucht besteht in der Behauptung, Christus habe zum Teilhaben an diesem (ersten) Abendmahl doch ausschließlich die Apostel zugelassen, die er bereits in den Stand der Priester eingereiht und aufgenommen hätte.
Ich möchte nun aber, daß sie mir auf fünf Fragen Antwort gäben, denen sie nicht entwischen können, sondern bei denen sie samt ihren Lügen mit Leichtigkeit widerlegt werden.
Erstens: mit welchem Orakel ist ihnen eigentlich diese Lösung offenbart worden, die doch mit dem Worte Gottes so gar wenig zu tun hat? Die Schrift nennt zwölf Jünger, die mit Christus zu Tische gesessen hätten; aber sie verdunkelt Christi Würde nicht derart, daß sie sie als „Priester“ bezeichnete – ein Titel, von dem später an dem dafür passenden Ort noch die Rede sein wird! Obwohl Christus nun damals das Sakrament diesen Zwölf gegeben hat, wies er sie doch an, sie sollten ihrerseits „solches tun“, das heißt das Abendmahl in dieser Weise untereinander austeilen.
Zweitens: wie ist es denn gekommen, daß in jener besseren Zeit, nämlich von den Aposteln an noch etwa weitere tausend Jahre hindurch, alle ohne Ausnahme der beiden Merkzeichen teilhaftig wurden? Wußte etwa die Alte Kirche nicht, welche Menschen Christus zu seinem Abendmahl als Tischgenossen zugelassen hatte? Es wäre doch ein Zeichen von heillosester Unverschämtheit, hier zu zaudern oder Ausflüchte zu suchen: Es sind Darstellungen der Kirchengeschichte vorhanden, dazu auch die Bücher der alten Kirchenlehrer, die uns hierfür ganz klare Zeugnisse geben. „Das Fleisch“, so sagt Tertullian, wird mit Christi Leib und Blut gespeist, damit die Seele von Gott her gesättigt werde“ (Von der Auserstehung des Fleisches 8). „Wieso willst du“, so sagt Ambrosius zu (dem Kaiser) Theodosius, „mit solchen Händen den heiligen Leib Christi empfangen? Woher nimmst du die Vermessenheit, mit deinem Munde an dem Kelch dieses köstlichen Blutes teilzuhaben?“ (Theodoret, Kirchengeschichte V,18). Hieronymus spricht von „Priestern, die das Abendmahl (eucharistia) bereiten und das Blut des Herrn an das Volk austeilen“ (zu Maleachi 2). Und Chrysostomus sagt: „Bei uns geht es nicht wie unter dem alten Gesetz, wo einen Teil der Priester aß, den anderen das Volk; nein, allen wird ein Leib und ein Kelch gereicht. Was zum Abendmahl gehört, das ist alles für Priester und Volk gemeinsam“ (Predigten zum zweiten Korintherbrief 18,3). Das nämliche bezeugt auch Augustin an sehr vielen Stellen.
IV,17,49
Aber wozu führe ich hier eine Auseinandersetzung über eine völlig bekannte Sache? Man lese alle griechischen und lateinischen Schriftsteller (der älteren Kirche), so werden einem immer wieder derartige Zeugnisse begegnen. Und diese Übung ist nicht in Abgang geraten, solange in der Kirche noch ein Tropfen von reinem Wesen übrig war. Gregor (I.), von dem man mit Recht sagen könnte, er sei der letzte Bischof von Rom gewesen, lehrt, daß man diese Gepflogenheit auch zu seiner Zeit innegehalten hat. „Was das Blut des Lammes ist“, sagt er, „das habt ihr nun nicht durch Hören, sondern durch Trinken erfahren.“ Oder auch: „Sein Blut wird in den Mund der Gläubigen eingegossen.“ Ja, diese Sitte dauerte noch vierhundert Jahre nach seinem Tode fort, als bereits alles entartet war. Denn diese Einrichtung galt eben nicht nur als eine Sitte, sondern als unverletzliches Gesetz. Es war eben damals noch die Ehrfurcht vor der göttlichen Stiftung lebendig, und man zweifelte nicht daran, daß es ein Gottesraub sei, wenn man das, was der Herr verbunden hatte, auseinanderriß. Spricht sich doch Gelasius (von Rom) folgendermaßen aus: „Wir haben erfahren, daß manche bloß ein Stück des heiligen Leibes nehmen, sich aber des Kelches enthalten; diese sollen nun, da sie in irgendwelchem Aberglauben befangen zu sein scheinen, unstreitig entweder die Sakramente ungeteilt empfangen oder vom ungeteilten Sakrament ferngehalten werden“ (Brief 37; wiedergegeben Decretum Gratiani III, Von der Konsekration 2,12). Eine Zerteilung dieses Geheimnisses (Sakraments) kann eben nicht ohne furchtbare Heiligtumsschändung eintreten! Man vernahm doch auch die Gründe des Cyprian, die einen christlichen Sinn sicherlich bewegen müssen; er
sagt: „Wieso sollen wir diese Menschen lehren und auffordern, über dem Bekenntnis Christi ihr Blut zu vergießen, wenn wir ihnen, wo sie ihren Kriegsdienst leisten sollen, Christi Blut versagen? Und wie sollen wir sie zu dem Kelch des Martyriums geschickt machen, wenn wir sie nicht zuvor dazu zulassen, in der Kirche kraft des Rechtes der Gemeinschaft den Kelch des Herrn zu trinken?“ (Von den Abgefallenen 25). Daß nun aber die kirchlichen Rechtsgelehrten jene (oben erwähnte) Verordnung des Gelasius auf die Priester einschränken, das ist eine zu kindische Ausflucht, als daß sie einer Widerlegung bedürfte.
IV,17,50
Ich frage drittens: Warum hat der Herr von dem Brot einfach gesagt, die Jünger sollten es essen, von dem Kelch aber: „Trinket alle daraus“ (Matth. 26,27)? Es ist doch so, als ob er der Schalkheit des Satans mit vorbedacht hätte entgegentreten wollen!
Viertens: Wenn der Herr – wie die Papisten das wollen – bloß Priester seines Abendmahls gewürdigt hat, so möchte ich wissen, wer unter den Menschen es dann je gewagt hätte, Außenstehende (d.h. „Laien“) zur Teilnahme an diesem Mahl herbeizurufen, die der Herr doch ausgeschlossen hätte, und zwar noch zur Teilnahme an einer Gabe, über die dem Menschen keine Gewalt zustand, ohne jegliche Weisung dessen, der solche Gabe allein zu geben vermochte! Ja, aus welcher Zuversicht nehmen sie sich denn heutzutage das Recht, daß sie das Merkzeichen des Leibes Christi an das „Laienvolk“ austeilen, wenn sie doch weder eine Weisung noch ein Beispiel des Herrn dazu haben?
Fünftens: Hat etwa Paulus gelogen, als er zu den Korinthern sagte: „Ich habe es von dem Herrn empfangen, das ich euch gegeben habe“ (1. Kor. 11,23)? Er setzt nämlich nachher auseinander, was er ihnen „gegeben“ hat, nämlich (unter anderem) dies, daß sie alle ohne Unterschied beide Merkzeichen im Abendmahl empfangen sollten. Hatte es nun aber Paulus „von dem Herrn empfangen“, daß alle ohne Unterschied zugelassen werden sollten, so sollen die, welche fast das gesamte Volk Gottes wegweisen, wohl zusehen, von wem sie das „empfangen“ haben! Denn Gott können sie nun nicht mehr als Urheber vorschützen: bei ihm gibt es nicht „Ja und Nein“ (2. Kor. 1,19). Nun wagen sie aber immer noch, für solche Abscheulichkeiten den Namen der Kirche vorzuschützen und sie unter diesem Vorwand zu verteidigen – als ob diese Antichristen, die Christi Lehre und Stiftung so leichtfertig zertreten, zerstören und abschaffen, die Kirche wären, oder als ob die apostolische Kirche, in der die ganze Kraft der Religion in Blüte stand, keine Kirche gewesen wäre!
Achtzehntes Kapitel
Von der päpstlichen Messe, einer Heiligtumsschändung, durch die das Abendmahl Christi nicht nur entweiht, sondern zunichte gemacht worden ist
IV,18,1
Mit diesen und dergleichen Erfindungen hat der Satan, gleichsam wie durch Verbreitung von Finsternis, das heilige Mahl Christi zu entstellen und zu besudeln versucht, damit seine Reinheit nur ja nicht in der Kirche erhalten bleibe. Diese schreckliche Abscheulichkeit aber hat ihren Gipfel erreicht, als er ein Zeichen aufrichtete, mit dem das Abendmahl nicht nur verdunkelt und verkehrt, sondern völlig getilgt und abgeschafft werden sollte, um dadurch zum Verschwinden gebracht und aus dem Gedächtnis der Menschen entfernt zu werden. Das geschah nämlich, als er fast die ganze Welt mit dem furchtbar verderbenbringenden Irrtum verblendete, daß sie glaubte, die Messe sei ein Opfer und eine dargebrachte Gabe, kraft deren man die Vergebung der Sünden erlangte.
In welcher Weise die vernünftigeren Schultheologen im Anfang diese Lehre aufgefaßt haben, darum kümmere ich mich nicht – ich will sie mit ihren spitzfindigen Scharfsinnigkeiten fahrenlassen; denn diese müssen, mag man sie allenfalls auch mit Ausflüchten verteidigen, trotzdem aus dem Grunde von allen rechtschaffenen Leuten verworfen werden, daß sie nichts tun, als die Klarheit des Abendmahls mit viel Finsternis zu bedecken.
Diese Dinge will ich also fahrenlassen, und der Leser möge begreifen, daß ich mich hier mit der Meinung in Streit begebe, mit welcher der römische Antichrist und seine Propheten die ganze Welt erfüllt haben, nämlich mit der Meinung, die Messe sei ein Werk, vermöge dessen sich der Priester, der Christus opferte, und die anderen Menschen, die an dem Opfer teilnähmen, bei Gott ein Verdienst erwürben, oder auch: die Messe sei ein Sühnopfer, durch das sie Gott mit sich versöhnten.
Und das ist nun nicht nur von der allgemeinen Ansicht der großen Menge so angenommen werden, nein, auch die Handlung selbst ist so eingerichtet, daß sie eine Art von Beschwichtigung sein soll, durch die man Gott zwecks Versöhnung der Lebendigen und der Toten Genüge leisten will. Das geben auch die Worte zu erkennen, die die Römischen dabei gebrauchen, und aus der tagtäglichen Übung läßt sich ebenfalls nichts anderes entnehmen. Wie tiefe Wurzeln diese Pest geschlagen hat, das weiß ich; ich weiß auch, wie mächtig der Schein einer guten Sache ist, unter dem sie sich verbirgt; ich weiß, wie diese Pest den Namen Christi als Vorwand benutzt und viele Leute des Glaubens sind, in dem einen Namen „Messe“ hätten sie die ganze Summe des Glaubens zusammengefaßt.
Nun wird aber auf Grund des Wortes Gottes mit höchster Deutlichkeit nachgewiesen werden, daß die Messe, so schön und glänzend sie auch erscheinen mag, (1) Christus besonders schlimme Schmach antut, daß sie (2) sein Kreuz begräbt und unterdrückt, (3) seinen Tod in Vergessenheit geraten läßt und (4) die Frucht, die uns aus ihm erwachsen ist, beiseite schafft, es wird bewiesen werden, daß sie (5) das Sakrament, in dem das Gedächtnis des Todes Christi verblieben war, entkräftet und hinfällig macht. Ist das aber bewiesen – wird es dann wohl Wurzeln geben, die so tief sitzen, daß dies Beil, nämlich das Wort Gottes, sie nicht zerschlägt und aus dem Boden heraushaut, wird dann wohl ein Schein vorhanden sein, der so glänzend wäre, daß das Übel sich darunter verbergen könnte und von diesem Licht nicht an den Tag gebracht würde?